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Das Weltentor

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Am nächsten Morgen war es Ben nicht möglich, seine Verabredung mit Esther einzuhalten, deshalb rief er kurz Emma an. Durch das starke Gewitter letzte Nacht sowie den unglaublichen Wolkenbruch mit anschließendem Dauerregen stand der ganze Keller unter Wasser, sodass Ben mit seinem Vater seit den frühen Morgenstunden gemeinsam arbeitete, um das Wasser abzupumpen.

Das passte Ben überhaupt nicht, aber er liebte und schätzte seinen Vater so sehr, dass er ihn nicht im Stich lassen wollte. Er maulte noch nicht einmal, ließ stattdessen den Frust an Mattes aus, der schließlich laut heulend zur Mutter ins Bett kroch. Sie war erschöpft nach ihrem Nachtdienst eingeschlafen und nicht in der Lage, im Keller zu helfen.

Während Vater und Sohn fast bis zu den Knien im kalten, dreckigen Wasser standen und stundenlang schufteten, unterhielten sie sich.

»Sag mal, Papa, glaubst du, dass es noch andere bewohnte Welten gibt?«

Tim philosophierte: »Ich glaube nicht, dass wir die einzigen Lebewesen im Universum sind, das All ist unendlich groß und enthält zahllose Möglichkeiten. Wir können uns das alles nicht vorstellen, aber es ist doch fast schon arrogant, anzunehmen, dass es nur uns gibt, oder?«

»Hm, irgendwie ja. Würdest du gerne mal in eine andere Welt?«

Kurz überlegte Tim. »Na ja, wenn es mit Gefahren verbunden ist, lieber nicht. Wenn mir die dortigen Lebewesen wohlgesonnen sind, dann schon. Es wäre großartig, eine andere Welt zu entdecken. Spannend!«

Fast war Ben versucht, sein Geheimnis mit ihm zu teilen, ihn vielleicht sogar mitzunehmen. Er zögerte. Aber dann unterließ er es doch, weil er befürchtete, dass Tim ihm nicht glaubte.

Ben seufzte und dachte über seinen Vater nach, den er über alles liebte. Tim war ein lebenslustiger Mann, der nie wirklich erwachsen wurde. Lieber verbrachte er mit Ben ein ganzes Wochenende im Wald, als sich um die Erwachsenendinge des Lebens zu kümmern. Zusammen mit seinem Vater hatte Ben das Baumhaus im Garten gebaut und letzten Sommer ein paar Nächte dort oben mit ihm gemeinsam unter dem Sternenhimmel verbracht. Tim baute das große Fernrohr auf und betrachtete mit ihm die funkelnden Sterne, den Mond und die fernen Planeten. Der nächtliche Himmel und der Gedanke an die Unendlichkeit faszinierte die beiden. Die Nacht war schwarz und schwer, die Hitze des Tages stieg vom Boden auf, um sich langsam in der Dunkelheit zu verlieren. Stille legte sich wie eine wärmende Decke auf die beiden und verleitete dazu, sich nur noch flüsternd zu unterhalten. Wenn es ab und zu im Gebüsch knackte, hielten sie inne und rätselten, welches Tier gerade auf der Jagd war. Ben genoss es, seinen Vater ganz für sich allein zu haben, ohne Mattes. Mattes! Unvermittelt spürte Ben wieder die schmerzende Wunde im Herzen, die Bitterkeit verströmte und immer wieder aufbrach.

»Weißt du, was wir morgen machen?«, riss Tim seinen Sohn aus dessen Gedanken.

Der schaute den Vater gespannt an und wartete neugierig auf dessen Vorschlag. »Was denn?« Zweifelnd dachte Ben: ›Hoffentlich gibt es überhaupt noch eine Zukunft für mich hier auf der Erde!‹

»Wir haben nach dieser Schufterei etwas Schönes verdient, findest du nicht? Wir stehen zeitig auf und machen uns ein Picknick zurecht für eine kleine Kanutour auf dem Fluss. Was sagst du dazu?«

Ben schüttelte den Kopf. »Das ist zwar eine tolle Idee, aber ich wollte mit Emma zum Übernachten bei Esther bleiben. Das ganze Wochenende, wenn ihr nichts dagegen habt. Wir verschieben unsere Kanutour um zwei Tage, wir haben ja jetzt Ferien! Okay?«

Sein Vater nickte. Er bemerkte, wie ernst sein Sohn war, ging zu ihm und nahm ihn in die Arme.

Bens Augen füllten sich mit Tränen, obwohl er dagegen ankämpfte. Die ganze Tragweite dessen, was gerade sein Leben veränderte, wurde ihm bewusst: drohende Blindheit auf der Erde oder Fanrea mit einer von ihm zu erfüllenden Prophezeiung.

Tim nahm die Tränen des Sohnes wahr, ging jedoch darüber hinweg, weil er wusste, dass Ben diese peinlich waren. Stattdessen beruhigte er ihn: »Du machst dir große Sorgen wegen deiner Augenkrankheit, das sehe ich dir an. Aber du darfst niemals die Hoffnung aufgeben. Glaube fest daran, dass es einen Weg geben wird, dein Augenlicht zu erhalten! Wir holen zunächst die Meinung des anderen Spezialisten ein, noch ist nichts endgültig.«

»Würdest du auch einen ungewöhnlichen Weg wählen, wenn er dazu führt, nicht blind zu werden?«, wollte Ben wissen.

»Ich weiß nicht, was du mit ungewöhnlich meinst, aber ich würde nichts unversucht lassen, selbst wenn es etwas wäre, was nichts mit einem Arzt zu tun hätte. Sagen wir mal, ein Schamane böte mir seine Hilfe an. Ich würde sie annehmen. Oder eine gute Fee käme, um mich gesund zu zaubern – da würde ich nicht nein sagen!«, schmunzelte sein Vater und zwinkerte ihm zu.

Wenn er wüsste, wie nah er der Wahrheit kam! Wieder war Ben versucht, seinem Vater die ganze Geschichte zu erzählen, aber er schaffte es nicht.

Gegen Mittag lösten einige Freunde von Tim Ben glücklicherweise ab. Er war am Ende seiner Kräfte und konnte sich kaum noch bewegen, so hart hatte er geschuftet. Ihm war überhaupt nicht nach Abenteuern zumute, sondern er hätte sich am liebsten ins Bett gelegt und ein wenig geschlafen. Aber er musste los.

Als Ben endlich in seinem Zimmer war, ärgerte er sich über die verpasste Gelegenheit, dem Vater von Fanrea zu erzählen. Eines wollte er jedoch in jedem Fall tun, nämlich den Eltern einen Brief schreiben, in dem er ihnen erklärte, wohin er ging. Wer würde seine Eltern informieren, falls ihm etwas zustieße? Amapola hatte angedeutet, dass ihr Abenteuer gefährlich werden könnte, und nach dem Erlebnis im Wald bei Tante Esther glaubte er ihr das.

Falls Ben in Fanrea sterben würde, erführen seine Eltern nie, was aus ihm geworden war. Diesen Gedanken fand er unerträglich. Deshalb schrieb er die ganze verrückte Geschichte in Kurzform auf ein Blatt und steckte es in einen Umschlag. Den versteckte er mit zittrigen Fingern unterm Kopfkissen und hoffte, dass sie ihn dort nach seinem Verschwinden fänden. In dem Brief bat er sie auch, zu Tante Esther zu gehen, damit sie ihnen die Wahrheit bestätigen konnte.

Müde packte Ben einen Rucksack mit nützlichen Dingen. Zunächst steckte er ein altes Schnitzmesser, das sein Opa ihm geschenkt hatte, hinein. Dann folgten ein Vergrößerungsglas, Streichhölzer, zusammengerollte Schnur, Fernglas, eine Packung Kekse ebenso wie drei Tafeln Schokolade. Ein übrig gebliebenes Paket alter Bonbons packte er noch oben drauf und prüfte, ob der magische Kieselstein noch in der Jeans steckte.

Ein letztes Mal sah er sich im Zimmer um, während er dachte: ›Ob ich jemals zurückkehren werde?‹ Ben verspürte Angst, aber auch Hoffnung. Er hatte das Gefühl, dass er als ganz normaler Junge dieses Zimmer verließ, jedoch als ein anderer Mensch zurückkehrte. Was veränderte dieses Abenteuer namens Fanrea in ihm? »Der eine wartet, dass die Zeit sich wandelt, der andere packt sie an und handelt«*, flüsterte Ben. Grübelnd und viel zu spät machte er sich auf den Weg zum alten Baum.

*

Emma konnte ebenfalls nicht zu Esther gehen. Sie kam nicht von zu Hause weg, weil sie auf ihre kleinen Geschwister aufpassen musste. Ihre Mutter wollte für das Wochenende einkaufen und hatte keine Lust, die Kleinen mitzunehmen.

Daher musste der Besuch bei Tante Esther abgesagt werden. Emma war sehr unglücklich deswegen, fand aber keine Möglichkeit, es zu ändern. Gerne hätte sie noch den Rest der Geschichte gehört, um ein wenig mehr über Fanrea zu erfahren. Zudem schwirrten noch jede Menge Fragen in ihrem Kopf herum.

Emma rief bei Esther an, um ihr mitzuteilen, dass weder sie selbst noch Ben kommen konnten. Sie verschwieg den gestrigen Angriff im Wald, und der Versuch, die wichtigsten Fragen am Telefon zu klären, scheiterte, da Emmas Geschwister ständig dazwischen quatschten, stritten und nervten.

Esther fand die Absage nicht schlimm, da sie in der letzten Nacht entschieden hatte, die beiden auf ihrer Reise zu begleiten. Mit dieser Entscheidung wollte sie Ben und Emma überraschen und freute sich auf deren verdutzte Gesichter. In Fanrea wäre genug Zeit, Emmas Fragen zu beantworten.

Mehrere unangemeldete Patienten, die ihre Heilfähigkeiten brauchten, hinderten Esther jedoch später daran, pünktlich zur Eiche zu gelangen. Zunächst erschien ihre Nachbarin, eine alte, asthmatische Frau, die von einem fürchterlichen Husten gequält wurde. Danach benötigte eine Mutter mit ihrem fiebernden Baby Esthers Hilfe, schließlich ein Holzfäller mit einer klaffenden Wunde. Unmöglich konnte Esther diese Menschen im Stich lassen! Ihr Pflichtgefühl gegenüber den Kranken rang mit ihrer Verantwortung gegenüber Emma und Ben. Esther beschloss, zu bleiben und den beiden später durch das Portal nach Fanrea zu folgen.

Nervös widmete sie sich ihren Patienten, denn ein Gedanke beunruhigte Esther: Wieviel Zeit war in Fanrea schon vergangen, wenn sie später als Ben und Emma den Weg durch die Eiche nahm? Die Zeit dort verlief nicht parallel zur Erdenzeit, ein Tag auf der Erde kam mehreren Tagen in Fanrea gleich. Was bedeutete das für Esther und ihre Reise? Traf sie die beiden noch rechtzeitig in der anderen Welt an, um sie zu begleiten und vor eventuellen Gefahren zu beschützen? Eine Ahnung, schwer vor Sorge, setzte sich klebrig in ihren Gedanken fest.

*

Emma war schlecht gelaunt und zickig, weil ihr der Babysitterdienst aufgebrummt worden war. Sie ließ ihre miese Laune an den Geschwistern aus und diese spüren, wie genervt sie war. Deshalb waren die Kleinen froh, als die Mutter endlich zurückkam, die sie von der griesgrämigen Schwester befreite.

Die Uhr tickte unaufhaltsam, die Verabredung mit Amapola stand unmittelbar bevor. Emma raste in ihr Zimmer, um sich die große, braune Ledertasche zu schnappen. Dort hinein steckte sie zunächst das Zauberbuch, anschließend einen Kamm, ihre neue Bürste, eine Taschenlampe, Murmeln, die sie ihrem Bruder Jakob stibitzt hatte, einen kleinen Handspiegel, ein Kartenspiel, ein Stück Seife und ein Päckchen Taschentücher. Den magischen Flusskiesel von Esther verstaute sie in der Hosentasche.

Dann fiel ihr noch die Kette mit dem Kreuz ein, die Opa Karl ihr geschenkt hatte. Bestimmt würde das Kreuz sie vor Gefahren beschützen. Sie nahm die silberne Kette samt Anhänger aus dem Schmuckkästchen und legte diese um den Hals.

Hektisch flitzte Emma in die Küche, um ein Paket Müsliriegel einzupacken und sich von ihrer Mutter zu verabschieden. Mit mulmigem Gefühl im Bauch teilte Emma ihr mit, dass sie zusammen mit Ben das Wochenende bei Esther bliebe. Das war nicht ungewöhnlich, weil die beiden Freunde dort oft die Wochenenden verbrachten. Bei Esther kamen sie zur Ruhe und hatten gleichzeitig viel Spaß. Außerdem gab es für Ben immer jede Menge leckeres Essen.

Verärgert kam Emma zu spät zu ihrer Verabredung mit Amapola, jedoch eher als Ben. Die Elfe wartete ungeduldig an der alten Eiche und begrüßte Emma mit den Worten: »Du bist spät! Hast du das Buch?«

»Ja, habe ich dabei. Ich musste mich noch um meine nervigen Geschwister kümmern.«

»Schau nicht so miesepetrig drein! Durch deine schlechte Laune änderst du nichts. Du vergiftest nur dein Umfeld mit deiner negativen Energie!«

Emma schaute die kleine Elfe verständnislos an. »Was quatschst du da von negativer Energie?«

Geduldig erklärte Amapola: »Du strahlst deine schlechten Gefühle und Gedanken aus, sie färben auf deine Umgebung ab. Allerdings prägst du deine Umwelt ebenfalls mit positiver Energie. Daher solltest du lieber mit friedlichen und optimistischen Gedanken deine Mitmenschen beeinflussen.«

In diesem Moment rannte Ben atemlos auf sie zu: »Hallo! Es tut mir leid, dass ich zu spät bin, aber es ging einfach nicht eher. Ich musste meinem Vater helfen, gestern Nacht ist unser Keller voll Wasser gelaufen. So ein Mist!«

Ein Funkeln trat in Emmas Augen, als sie Amapolas Stimme nachahmte: »Du verpestest die Umwelt mit deiner negativen Energie! Lass das Fluchen sein!«

»Das ist nicht komisch, sondern tatsächlich so!« Amapolas Gesichtsausdruck wirkte säuerlich.

Irritiert schaute Ben von Emma zu der Elfe. »Zickenkrieg?«

Amapola winkte ab. »Pubertäre Anwandlungen!«

Bevor Emma etwas erwidern konnte, bot Ben ihr etwas von seinen alten Bonbons an. »Willst du welche!«

»Nein, danke! Viel zu viel Zucker und Chemie! Guck nur mal die schrillen Farben!« Emma verzog das Gesicht.

Ben dagegen stopfte gleich ein paar der bunten Bonbons in den Mund. »Das beruhigt mich.«

Die plötzlich aufkommende Nervosität flatterte wie ein aufgeregter Vogel zwischen den beiden Freunden hin und her. Sie hatten das Gefühl, gleich mitten in einen Abenteuerfilm hineinzuspringen. Ehrfürchtig musterten Ben und Emma die Jahrhunderte alte Eiche, die damals schon Esther als Tor in die andere Welt gedient hatte. Der magische Baum besaß einen gewaltigen Umfang mit einer ausladenden Krone. Die beiden Freunde meinten tatsächlich, einen Hauch Magie zu spüren, die sich in Form von kribbelnder Energie bemerkbar machte.

Amapola erklärte den beiden: »Bei den Kelten war die Eiche ein heiliger Baum, dem große Bedeutung zukam. Duir bedeutet im keltischen Eiche. Ebenso haben Tor und Tür ihren Ursprung im keltischen Wort duir. Passenderweise ist unsere Eiche auch eine Tür. Der Baum ist unser Freund und gibt seine Lebenskraft gerne an diejenigen weiter, welche die Natur zu schätzen wissen. Er hat in seinem langen Leben viel gesehen und erlebt. Ihm wohnt eine mächtige Energie inne. Wenn ihr Kraft braucht, kann er euch diese spenden, indem ihr die Hände auf die Rinde legt.«

Wie zur Bestätigung glitt aus dem Nichts ein Wind heran. Die Blätter der Eiche bewegten sich zart, als würden sie zustimmen. Ein kaum wahrnehmbares Raunen wehte durch die Blätter.

»Bevor wir unsere Reise antreten, solltet ihr das hier trinken.« Amapola griff in die Tasche ihres Kleides, aus dem sie zwei kunstvoll geschliffene Glasphiolen mit goldenen Verschlüssen hervorzog, in denen eine blutrote Flüssigkeit hin- und herschwappte.

Genau in diesem Augenblick trat die Sonne hinter einer Wolke hervor, die einen Sonnenstrahl schickte, der auf die Flakons fiel. Die dunkelrote Farbe veränderte sich, es schien, als ob sie von innen heraus leuchtete.

»Was ist denn das schon wieder?«, fragte Emma misstrauisch.

»Es nennt sich Odem der Sprache und ist etwas sehr Kostbares. Eine Flüssigkeit, durch die ihr fast alle Sprachen der Fanreaner verstehen könnt. Viele der dort lebenden Wesen haben ein paar Tropfen ihres Blutes gespendet. Das wurde dann mit verschiedenen Essenzen vermischt und einem Zauber belegt.« Sie machte eine bedeutungsvolle Pause und fuhr dann fort: »Es schmeckt nicht besonders lecker, aber ihr werdet die Fähigkeit, die vielen verschiedenen Wesen zu verstehen, in Fanrea benötigen. Also los!«

Sie reichte den Freunden jeweils eine der Phiolen. Die beiden sahen sich zweifelnd an. Eine Flüssigkeit, die zu einem großen Anteil aus Blut bestand, von Wesen, die sie nicht einmal kannten?

Amapola beobachtete ihre skeptischen Gesichter, deshalb setzte sie schnippisch hinzu: »Ihr müsst das nicht trinken. Es ist ein Geschenk von unserer großen Heilerin Osane. Es würde eure Mission allerdings erheblich erleichtern, wenn ihr die Wesen in Fanrea versteht. Bedenkt, dass nicht alle eure Menschensprache sprechen. Es ist allein eure Entscheidung, aber ich würde keine Sekunde zögern!«

»Also ich werde es trinken«, murmelte Ben.

»Na, dann werde ich es auch tun«, seufzte Emma. Dabei rollte sie mit den Augen.

Beide drehten vorsichtig die Verschlüsse ab. Mit steinerner Miene setzte Ben das runde Fläschchen an seine Lippen und leerte den Inhalt mit einem Zug. Emma zögerte kurz, schluckte dann jedoch ebenfalls die Flüssigkeit hinunter.

Es brannte wie Feuer in der Kehle – ein Gefühl, als ob die Flüssigkeit vom Mund bis zum Magen alles wegätzte. Der Geschmack war bitter.

»Iiihhh!« Emma schüttelte sich angeekelt.

Ben verschluckte sich, hustete und krächzte: »Bäh! Verdammt, schmeckt das Zeug widerlich! Willst du uns umbringen?« Sein Blick wurde spöttisch. »Das Heilmittel ist schlimmer als die Krankheit*!«

Die kleine Elfe lächelte schelmisch: »Ich habe euch gewarnt! Ach kommt, seid nicht so wehleidig. Hier habt ihr ein paar Bonbons aus Blütennektar.« Sie bot den beiden ein paar kleine, bunte Kügelchen an.

»Nein, danke! Noch solch ein Knallerzeugs, dann sterbe ich schon vor der Reise!«, stöhnte Emma.

Ben griff jedoch zu. Er steckte sich sogar mehrere Perlen gleichzeitig in den Mund. »Schlimmer kann es nicht mehr werden«, murmelte er, dann hellte sich seine Miene auf und er lutschte genussvoll auf den Bonbons herum.

»Okay, ich probiere sie doch«, gab Emma widerstrebend nach und nahm ein paar Kugeln. Vorsichtig probierte sie die seltsamen Perlen und war überrascht, wie köstlich diese schmeckten.

Aus dem Blütenkleid zog Amapola ihren Zauberstab hervor, den eine magische Aura umgab. »Jetzt wird es ernst. Es kann losgehen. Seid ihr bereit?«

Plötzlich lag Spannung in der Luft, sie knisterte geradezu vor Aufregung. Emma und Ben fühlten, dass gleich etwas geschehen würde, das ihr ganzes Leben für immer verändern würde.

Sämtliche Farbe wich aus Bens Gesicht, sodass er immer bleicher aussah. Angst presste sein Herz zusammen. Doch es war nicht die Angst vor möglichen Gefahren, sondern vor allem davor, dass der See der Heilung nicht hielte, was er versprach.

»Aber wie sollen wir da durchgehen? Wo ist denn das Loch?«, fragte Emma zweifelnd.

Amapola beruhigte sie: »Vertraue! Ein Zauberspruch und das Weltentor öffnet sich für kurze Zeit.«

»Let’s go!”, drängte Ben.

Emma nahm ihre Ledertasche mit dem Zauberbuch, die sie sich schräg über die Schulter hängte, damit sie dicht am Körper lag.

Die Elfe hielt den Zauberstab hoch, der zu leuchten begann. Dann murmelte sie und schrieb seltsame Zeichen mit ihrem Stab in die Luft.

Plötzlich fühlte es sich an, als würde die Erde leicht beben. Die alte Eiche knarrte, stöhnte und dehnte ihren Stamm.

Entgeistert starrten Emma und Ben den knorrigen Baum an, in dem sich langsam und unter lautem Geknirsche ein Loch bildete. Emma nahm die Hand ihres Freundes und hielt vor lauter Aufregung die Luft an. Sie spürte, wie ihr Herz vor Anspannung schneller pochte.

Die Elfe flog in die Öffnung hinein, die zwei Freunde folgten ihr zögernd. Auf einmal erklang die Glocke vom Kirchturm im Dorf. Emma drehte sich um und sah etwas, das ihr den Atem stocken ließ: Die Ratte, die sie auf dem Speicher bei Tante Esther gesehen hatte, saß im Gras und starrte sie aus glühenden, hasserfüllten Augen an. Ohne zu zögern, sprang sie hinter ihnen her, prallte jedoch wie an einer unsichtbaren Wand ab und fiel zu Boden.

Emma kam nicht mehr dazu, darauf zu reagieren. Kaum hatten sie die Eiche betreten, wurden die drei Reisenden von einem wilden Sturm erfasst. Sie verloren den Boden unter den Füßen und ein unglaublicher Lärm erfüllte die Eiche. Es fühlte sich an, als würden sie in einem rotierenden Spiralnebel herumgewirbelt werden. Emma schrie nach Ben, doch ihre Rufe verhallten als endloses Echo in der Leere von Zeit und Raum. Dann herrschte absolute Stille.

*

Fast lautlos bewegte sich John mit seinem Freund, dem Katzenjungen Nijano, durch den Wald. Sie waren als Späher unterwegs. Ihre übliche Runde um das Lager der gestrandeten Kinder drehend, beobachteten sie schweigsam und konzentriert den Boden. Sie achteten auf ungewöhnliche Spuren, verließen die Nähe des Lagers und drangen tiefer in den Wald hinein. Die Kunde von gefangenen Elfen war auch zu ihnen gelangt, deshalb galt erhöhte Vorsicht.

Seit ein paar Tagen quälte John eine unerklärliche Unruhe. Er spürte, dass sich etwas Bedrohliches anbahnte. Doch er konnte nicht ergründen, welche Gefahr nahte. Nachts schlief der Lakota schlecht, weil ihn Träume heimsuchten, die von Kampf und Verderben handelten.

Ruckartig blieb John nun stehen. Gerade geschah etwas. Der Stein, der um den Hals hing, erwärmte sich stark. Unerwartet wurde John von Ruhe erfüllt, die seinen Körper wie eine Woge durchströmte.

Nijano beobachtete den Freund. »Was ist los mit dir?«

»Ich weiß es nicht. Irgendjemand ist in Fanrea eingetroffen.«

»Du meinst jemand Gefährliches?«

»Nein. Ich glaube, mein Traum war eine Vision.«

Mit nachdenklichem Blick musterte Nijano seinen Freund. Wenn dieser etwas Ungewöhnliches fühlte oder träumte, gab es oft einen wichtigen Hintergrund dafür. Mehr als einmal hatte John durch seine Hinweise Nijano oder andere Lagerbewohner vor einer Gefahr bewahrt. »Was soll das heißen?«

John zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Vielleicht ein Mädchen aus der Menschenwelt. Vor ein paar Tagen habe ich ihre Stimme gehört, sie hat mich um Hilfe gerufen. Sie befand sich in Gefahr, doch ich konnte ihr nicht helfen. Unsere Wege werden sich bald kreuzen, da bin ich mir ziemlich sicher.«


Fanrea

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