Читать книгу Fanrea - A.E. Eiserlo - Страница 15
Fanrea
ОглавлениеWie aus einem Traum erwachten Emma und Ben. Erleichtert sahen sie einander an und stellten fest, dass sie unversehrt waren. Sie wollten sich in die Arme fallen, aber ihre Bewegungen wurden durch etwas Sperriges in den Händen gestoppt: Waffen! Aufgrund des dämmrigen Lichts erkannten sie nichts Genaueres und traten schnell aus dem Baum heraus. Sie konnten kaum glauben, was sie sahen: Emma trug einen geschnitzten Bogen, ebenso einen Köcher mit Pfeilen in der Hand. Ben ein beeindruckendes Schwert.
Fasziniert musterte Ben die Waffe, die ihm irgendwie bekannt vorkam. Aus den fernen Tiefen seiner Erinnerung blitzte ein Bild auf: Mit dem Schwert in der Hand stand er auf einem Hügel, hielt es hoch wie ein Sieger, und es funkelte in der strahlenden Sonne. ›Krieger des Lichts!‹ hallte eine Stimme in seinem Kopf.
Sein Traum der letzten Nacht fiel ihm ein: Er, in der Schmiede, mit dem Schwert. Ob die beiden Schwerter etwas miteinander zu tun hatten? Ben betrachtete die Waffe, die leichte Gebrauchsspuren aufwies, genauer. Sie besaß eine lange Klinge aus geschmiedetem Stahl, dazu einen kunstvoll verzierten Griff, in dessen Mitte ein glitzernder roter Stein funkelte, über dem ein Schriftzug eingraviert war. Ben schaute an sich herunter. Überrascht stellte er fest, dass er einen Gürtel aus dunklem Leder trug, in dem zwei Dolche mit unterschiedlich langen Klingen steckten, deren Griffe genauso beschaffen waren wie der des Schwertes.
Bens Beine steckten in braunen Lederhosen mit Gamaschen, seine Füße in Stiefeln aus weichem Leder, deren obere Kanten mit Fransen verziert waren. Über der Hose trug er ein beigefarbenes Hemd aus grobem Leinen, das mit geschnitzten Holzknöpfen geschlossen wurde. An seinen Unterarmen befand sich ein Armschutz aus dunkelbraunem Leder. Ein Brustschutz aus dickem Leder komplettierte die Ausstattung. Fast sah Ben aus wie in seinem nächtlichen Traum.
»Robin Hood persönlich!«, amüsierte sich Emma.
Ben schaute zu ihr und stellte fest, dass sie ähnlich gekleidet war wie er. »Cool, dann bist du meine Lady Marian. Komm, wir gehen zum Kostümball!«
Emma kicherte. Sie trug ebenfalls eine Hose, Gamaschen und Stiefel aus Leder, allerdings zusätzlich zum Leinenhemd eine ärmellose Lederweste. Darüber hinaus besaß sie den gleichen Gürtel mit zwei Dolchen wie Ben. Er fand, dass sie umwerfend schön aussah, wild und abenteuerlustig.
Währenddessen betrachtete Emma ihren Bogen: Er war aus Holz und mit geheimnisvollen Schnitzereien verziert. An der einen Seite stand ein Wort in verschnörkelter Schrift: »Mai-ra.« Emma flüsterte das Wort kaum hörbar.
›Maira, Maira, …!‹, hörte sie eine Stimme, die einem Echo in ihrem Kopf ähnelte. ›Kriegerin des Lichts!‹
Ein greller Blitz der Erkenntnis traf Emma: »Ich war einmal ein Mädchen namens Maira! Den Bogen und die Pfeile habe ich selbst gefertigt, als ich Maira war. Ben, du warst damals bei mir, aber du hattest auch einen anderen Namen.«
»Schau, Melvin ist hier in meinem Schwert eingraviert. Ich erinnere mich wieder: Ich war Melvin!« Das Schwert fest in beide Hände nehmend, betrachtete er die Klinge, die sehr scharf wirkte. Dieses Schwert schien schon viele Schlachten mit ihm geschlagen zu haben, das fühlte Ben. Er stellte sich in Position und versuchte zunächst horizontale Schläge. Dabei hielt er die Arme gestreckt vor den Körper und legte seine ganze Kraft hinein. Während er die Schwertstreiche durchführte, bewegte er sich bei jedem Streich einen Schritt vorwärts. Plötzlich hatte er das Gefühl, als ob das Schwert ganz leicht in seiner Hand vibrierte und ihn damit begrüßen wollte.
Ben versuchte einen anderen Schlag. Mit gestrecktem Arm hob er das Schwert hoch, zunächst rechts über den Kopf und führte es anschließend schräg nach links unten. Die Bewegungen fühlten sich unglaublich gut an, so als ob er nie etwas anderes gemacht hätte. Ein Gefühl der Vertrautheit stellte sich ein. Eine Zeitlang übte Ben die verschiedensten Techniken. Er war so vertieft, dass er alles um sich herum vergaß. Erst nach einer Weile rief er: »Ja, ich bin Melvin! Ich kann kämpfen, Emma! Ich kann es einfach!«
»Das sieht echt gekonnt aus!« Emma hatte jede seiner Übungen fasziniert beobachtet.
»Ihr erinnert euch! Das freut mich! Willkommen in Fanrea«, hörten sie plötzlich Amapolas Stimme.
Die Freunde hatten an die kleine Elfe nicht mehr gedacht, ja, sie hatten sogar vergessen, wo sie sich befanden. Beide waren begeistert von den Waffen und völlig überrumpelt von der Offenbarung, dass sie sich an ein anderes Leben mitsamt den alten Namen erinnerten. Rücksichtsvoll hatte die Elfe sie eine Weile in Ruhe gelassen.
»Amapola, das ist der Hammer!«, rief Ben und drehte sich mit einem angedeuteten Schwerthieb zu der Elfe um, die neben ihm in der Luft schwebte.
Amüsiert lächelte Amapola die beiden Freunde an: »Melvin, Maira, hier werden euch alle mit den Namen aus eurem alten Leben ansprechen, wenn ihr keine Einwände habt.«
Emmas Erkenntnis, dass sie schon einmal hier gewesen war, tauchte als vertrautes Gefühl aus den Tiefen der Vergangenheit an die Oberfläche. Wie zur Bestätigung sprach Emma ihren gerade wieder gefundenen Namen ein paar Mal aus und spürte, dass er tatsächlich zu ihr gehörte. Deshalb antwortete sie: »Für mich ist es okay. Maira passt hierhin und zu mir, auch wenn in meinem Kopf gerade Chaos herrscht. Wer waren wir damals? Was haben wir hier gemacht?«
Amapola nahm Platz auf einem großen Stein. »Ich sagte es bereits: Schon mehrmals seid ihr durch Zeit und Raum gereist, um uns im Kampf zur Seite zu stehen, und habt viele Siege davongetragen. Ihr gehört zu den Kriegern des Lichts und kämpft für das Gute. Jedes eurer Leben habt ihr der Vernichtung des Dunklen und Bösen geweiht.
Zuverlässige Freunde warten hier und freuen sich auf ein Wiedersehen. In einer anderen Zeit standen sie euch in bedrohlichen Gefahrensituationen helfend zur Seite. Immer wieder brauchen wir Naturwesen die Hilfe von Menschen, im Gegenzug sind wir ständig wachend an eurer Seite. Aber schaut nur, wer da kommt: ein alter Freund!«
Melvin grinste: »Mann, Amapola, du kannst dich ja richtig gewählt ausdrücken, wenn du mal ruhig bleibst!«
Die Blumenelfe zog eine Schnute und runzelte die Stirn. Bevor sie jedoch etwas Schnippisches erwidern konnte, hörten sie ein freudiges Wiehern. Sie schauten in die Richtung, aus der wildes Hufgetrappel kam.
Melvins Herz machte einen Freudensprung. Wie ein Blitz schossen Bilder von ihm und diesem Wesen, das auf sie zustürmte, durch seinen Kopf. Liebevolle Gefühle überschwemmten ihn, und er rief wie selbstverständlich: »Ilian, alter Kumpel!«
Ein großes, weißes Pferd galoppierte stürmisch auf Melvin, Maira und Amapola zu. Erst bei genauerem Hinsehen sahen sie, dass es kein gewöhnliches Pferd war, sondern ein Pegasus mit weiß gefiederten Flügeln, die eng am Körper lagen. Elegant und majestätisch waren seine Bewegungen. Die geschmeidigen Muskeln zeichneten sich unter dem glänzenden Fell ab und der Blick aus den dunklen Augen war furchtlos. Der Pegasus trug Provianttaschen und ein Schutzschild, von dem ihnen das Bild eines Drachen entgegensah.
»Ilian, toll, dich wiederzusehen!«, rief Maira freudestrahlend aus. Auch bei ihr kehrte die Erinnerung schlagartig zurück.
»Willkommen, Erdenkinder! Wie schön, dass ihr euch an mich erinnert. Endlich seid ihr wieder da, ich habe euch so vermisst!«, jubelte Ilian. Erst kurz vor der kleinen Gruppe stoppte er seinen zügellosen Galopp, stellte sich auf die Hinterbeine und wieherte ausgelassen. Die Hufe des riesigen Pferdes donnerten haarscharf an den Köpfen der Freunde vorbei, als Zeichen der unbändigen Freude.
Als Ilian schließlich still stand, schmiss Maira den Köcher mit den Pfeilen, ebenso ihren Bogen hin und umarmte den Pegasus. Sie schmiegte sich an den warmen Pferdehals, steckte ihre Nase tief ins Fell und roch die unbezähmbare Wildheit. »Ach, es ist doch gut, wieder hier zu sein«, murmelte sie zufrieden. Es fiel Maira leichter, einem Tier gegenüber zärtliche Gefühle zu zeigen als Menschen.
Melvin stand vor Ilian, schaute tief in dessen dunkle Augen, streichelte die samtweichen Nüstern und kraulte seinen Schopf.
»Mein lieber Freund Melvin! Komm wir reiten eine schnelle Runde. Mal sehen, ob du es noch kannst!«, schlug Ilian vor und scharrte dabei ungeduldig mit den Hufen.
Melvin legte sein Schwert auf den Boden. »Ich bin dann mal weg*!« Mit einem stürmischen Satz sprang er auf Ilians Rücken. Sobald Melvin sicher dort saß und seine Finger fest in der Mähne verkrallt hatte, stellte der Pegasus sich wieder auf die Hinterhand und raste anschließend in wildem Galopp davon.
Die Gelegenheit nutzend, sah Maira sich endlich um. Fanrea erinnerte an die Erde, wirkte aber dennoch ganz anders. Vor dem Mädchen breitete sich eine Lichtung aus, auf der die Schatten der Bäume einen Reigen tanzten. Baumriesen streckten die Äste Richtung Himmel und griffen nach den Wolken. Kleine, knorrige Bäume mischten sich dazwischen, die gemeinsam mit den Riesen die Waldlichtung einfassten. Im flirrenden Sonnenlicht schwirrten Insekten, die leise brummten. Blumen sprenkelten die Wiese, auf der sich jede Menge Schmetterlinge tummelten. Es sah aus, als hätte ein Maler seinen Pinsel genommen und in einem wilden Rausch die gesamte Farbpalette ausgeschüttet. Die Luft schmeckte nach dem lieblichen Duft der Blüten und Kräuter. Bienen stritten mit einigen Blumenelfen um den besten Nektar, andere dagegen tanzten singend auf tellergroßen Blättern umher.
Belustigt beobachtete Maira die kleinen Elfen. »Sind die süß!«
Eine Libelle, so groß wie ein Kolkrabe, flog an dem Menschenmädchen vorbei, musterte es dabei neugierig aus schimmernden, grünen Facettenaugen.
»Ups, ist die riesig!«, flüsterte Maira. Während sie voller Staunen der Libelle hinterher sah, stiegen weitere Fetzen aus der Vergangenheit in ihr hoch. Doch die Erinnerungen an das vorherige Leben bestanden leider nur aus Bruchstücken. Maira war überwältigt. »Weißt du, Amapola, es haut mich um, zu erkennen, dass wir wirklich schon einmal in Fanrea waren und hier Freunde haben. Das kommt mir alles vor wie in einem Traum. Ich verstehe es auch nicht. Trotzdem empfinde ich es als fast normal, dass wir hier in dieser anderen Welt stehen und Blumenelfen beim Tanz zusehen.«
Amapola nickte. »Du hast etwas sehr Wichtiges bemerkt. Dein Verstand engt dein Denken ein, aber dein Gefühl versichert dir, dass alles richtig ist. Und das ist der Punkt: Wenn du auf deinen Verstand hörst, dann verschließt du dich vielen Möglichkeiten. Öffnest du dich jedoch deinem Gefühl, dann steht dir die gesamte Magie des Universums zur Verfügung, und du kannst sämtliche Wunder erleben.«
Maira ließ die Worte wirken und seufzte schließlich: »Ich muss wohl langsam anfangen, die Wahrheit zu akzeptieren. Nichts ist so, wie wir Menschen es bisher geglaubt haben. Kennen wir beide uns denn auch aus einem früheren Leben?«
»Nein, ich bin relativ neu hier.«
»Schade!« Nachdenklich setzte Maira sich auf einen großen Stein, der neben der alten Eiche stand, und schaute wieder auf die Lichtung. Sie griff nach dem Bogen, der zaghaft in ihrer Hand zu vibrieren begann. Forderte er sie etwa auf, ihn zu benutzen?
Ein vertrautes Gefühl durchströmte Maira. Neugierig hob sie den Bogen auf, legte einen Pfeil ein und schoss ihn ab. Sicher traf dieser das anvisierte Ziel, das Vibrieren des Bogens verstärkte sich. Maira flüsterte: »Erkennst du mich wieder? Ist das deine Begrüßung?« Freude durchströmte sie zusammen mit der Gewissheit, mit dem Bogen verbunden zu sein.
In diesem Augenblick spürte sie, dass jemand sie beobachtete. Sich umdrehend legte Maira instinktiv einen neuen Pfeil ein und schaute in das lächelnde, runzelige Gesicht der alten Eiche. Das hatte Maira nun wirklich nicht erwartet!
Der alte Baum sprach sie an: »Sei gegrüßt, Menschenkind! Ich freue mich, dich wiederzusehen, meine hübsche Maira! Mit jedem Leben wirst du noch ein bisschen schöner. Zudem fühle ich noch mehr Stärke und Entschlossenheit in dir. Das ist gut, denn du benötigst diese Eigenschaften in diesem rauen Land, wo viele Gefahren und Kämpfe auf dich warten.«
Mit großen Augen starrte Maira den Baum an. Seine Worte hallten in ihrem Kopf nach. Waren sie eine Warnung gewesen? Was erwartete sie in Fanrea? »Hallo!« Mehr fiel Maira gerade nicht ein.
»Ich möchte dir einen Rat mit auf den Weg geben: Alles, was geschieht, soll so sein. Wenn der Mensch niemals Leid erfährt, kann er nicht wachsen und sich nicht weiter entwickeln. Nimm alles an, wie es kommt: Kämpfe, wenn du kämpfen musst! Gib immer dein Bestes! Wenn du an dich und deine Fähigkeiten glaubst, kannst du jede harte Prüfung bestehen. Aber das ist nicht alles: Vertraue, öffne dein Herz und lass die Liebe darin wachsen!«
»Puh!« Maira seufzte. »Du bist jetzt schon der zweite, der mir kluge Tipps gibt. Erst der neunmalkluge Zauberer und nun du. Na prima! Da fühle ich mich gar nicht bevormundet!« Sie schnitt eine Grimasse.
Der Baum lächelte milde. »Ach Menschenkind, sei doch nicht so trotzig! Aber so warst du früher schon!«
*
In der Zwischenzeit ritt Melvin auf Ilian in wildem Galopp durch die nähere Umgebung. Bäume, Wiesen und ein See zogen an ihnen vorbei. Melvin traute sich vor Aufregung kaum zu atmen, genoss jedoch das rasante Tempo. Plötzlich breitete Ilian seine Flügel aus und schon hoben die beiden ab. Der kühle Wind pfiff Melvin um die Ohren, während die Welt unter ihnen klein und kleiner wurde und dadurch wie eine winzige Spielzeuglandschaft wirkte.
Begeistert jauchzte Melvin. Keine Sorgen bedrängten ihn, sondern er fühlte eine grenzenlose Freiheit. In diesem Moment der puren Lebensfreude geschah es: Etwas, das ihn schon immer eingeengt hatte, löste sich auf. Als wäre ein Splitter aus seinem Herzen entfernt worden. Es fühlte sich richtig gut und erlösend an. Doch kaum nahm Melvin dieses Gefühl war, entglitt es ihm schon wieder. Sogleich vergaß er es.
Weite Teile Fanreas konnte er nun aus der Vogelperspektive wahrnehmen. Staunend blickte er auf die vielfältige Landschaft unter ihm. Westlich erhob sich ein zerklüftetes, karges Bergmassiv, dessen Hänge schneebedeckt waren. Die Gipfel verschwanden in gigantischen Wolken, die sich dort drohend türmten. Vor Melvin lag dicht bewachsener Wald, der endlos schien. Östlich erstreckte sich ein weiteres Gebirge, aber die Berge schienen niedriger und nicht so unwegsam.
»Dort, in den flachen Bergen im Osten, dem Braghgebirge, ist Zwergenland, und das wilde Gebirge, genannt Rough Mountains, ist die Heimat der Trolle und einiger weniger Drachen!«, schrie Ilian gegen den Wind an.
Melvin nickte, obwohl der Pegasus das natürlich nicht sehen konnte. Am nordöstlichen Horizont glitzerte es wie tausend Diamanten, sodass der Junge dort das Meer vermutete. Fasziniert schaute er auf das intensive Blau, und erneut überschwemmten ihn Erinnerungen. Er sah einen Zwerg neben sich auf einer Klippe stehen, während der Wind an seinen Haaren zerrte. Fast schmeckte Melvin die salzige Luft auf den Lippen, so intensiv traf ihn die Erinnerung. Der Name Karakas erschien wie von selbst in seinen Gedanken. Ja, Karakas, so hieß der Zwerg. Wer war dieser Karakas?
Nun veränderte Ilian wieder die Richtung. Tief unter ihnen lag ein smaragdgrüner Waldsee, der unergründlich aussah. Der Pegasus zog eine große Schleife, sodass Melvin nun die vielen Waldgebiete unter sich betrachten konnte. Ihm fiel auf, dass weder Städte, noch Straßen oder rauchende Industrieschlote das Bild störten.
»Dieser Wald ist der Dunkelwald!«, rief Ilian.
Sie flogen zurück zur Eiche. Am Horizont erkannte Melvin eine grüne, wogende Masse und dahinter eine Wüste. Grenzenlose, wellenförmige Sandberge, die sich dort auftürmten und in der Unendlichkeit des weiten Nichts verloren. Eine unbekannte Sehnsucht ergriff Melvins Herz, und er brüllte: »Was ist das Grüne? Kommt noch was hinter der Wüste?«
»Vor der Wüste befindet sich das große Grasmeer. Ein gefährlicher Ort, weil man sich zu Fuß darin leicht verirren kann. Was hinter der Wüste ist? Tja, das ist unerforschtes Gebiet, von dort ist scheinbar noch keiner zurückgekommen. Soweit ich weiß, hat von uns noch niemand die Wüste überflogen. Jedenfalls hat mir keiner davon berichtet. Dennoch gibt es Gerüchte, dass dort das sagenhafte Drachenland liegt und äußerst kriegerische Menschen in der Gegend leben. Manche erzählen, dass es vor langer Zeit sogar einmal ein Weltentor von dort nach hier gab.«
Melvin betrachtete das Grasmeer und fand dessen Namen sehr passend, denn es wirkte tatsächlich wie wogende Wellen. Nun blickte er in Richtung der Wüste. Er fühlte die Bedrohung, die von diesem trostlosen Glutofen aus Sand ausging, aber konnte die Augen kaum von dieser endlosen Einöde abwenden. Drachen! Was für eine unglaubliche Vorstellung, dass in Fanrea Drachen lebten. Bei dem Gedanken an diese gigantischen Wesen verspürte Melvin ein Ziehen in seinem Herzen. Zudem begann der Leberfleck auf der Schulter zu jucken, den der Junge geistesabwesend kratzte.
Bedauerlicherweise ging Ilian jetzt langsam in einen Sinkgleitflug über. Er hielt seine großen Flügel still, nutzte dadurch die Aufwinde, schwebte noch etwas, verlor weiter an Höhe, um schließlich sanft vor Maira und Amapola zu landen.
Melvin sprang von Ilians Rücken und strahlte die Freundin an. Vor Aufregung waren seine Wangen gerötet und Glückshormone fluteten den Körper. »Das war vielleicht krass!«
Maira lächelte und freute sich mit Melvin. »Du bist echt auf einem Pegasus geflogen! Außerdem: Wieso kannst du so gut reiten?«
»Ich weiß nicht, ich kann es einfach!«
»Seltsam! Aber mich wundert bald gar nichts mehr«, stöhnte Maira.
Melvin Augen funkelten schelmisch. »Meine Mama sagte immer, das Leben ist wie eine Schachtel Pralinen, man weiß nie, was man bekommt*.«
Maira kicherte: »Du bist einfach verrückt, Forrest Gump.«
Zunächst sah Amapola die beiden verständnislos an, wandte sich dann aber ab, ohne etwas zu sagen. Mit eisiger Stimme erkundigte sie sich bei Ilian: »Wo bleibt denn unser Begleitschutz? Bis jetzt ist niemand aufgetaucht!«
Ilian stotterte: »Äh, ja, äh, es ist was dazwischen gekommen … Wir sind auf uns gestellt, hm, ja, so kann man es sagen.«
»Dazwischen gekommen? Was soll das heißen? Das glaub ich jetzt nicht! Sollen wir etwa allein durch …?«
»Später! Ich erkläre es dir später!«, unterbrach Ilian energisch.
Erzürnt und fassungslos flatterte Amapola vor dem Pegasus auf und ab. Mit Verzögerung begriff die Elfe, dass er vor Maira und Melvin nicht darüber sprechen wollte. Kleine Zornesfalten standen auf ihrer Stirn. Es fiel ihr sichtlich schwer zu schweigen.
Leise murmelte Melvin: »Houston, wir haben ein Problem*.«