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Amapola

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Bedrückt saßen Ben und Emma am Rande der großen Wiese auf dem Stamm einer entwurzelten Eiche. Hinter ihnen breitete sich der dichte Wald aus. Das Hämmern eines Spechtes hallte durch die Baumkronen, und vielstimmiges Vogelgezwitscher tönte zu ihnen herüber. Es knackte im Unterholz, als wäre jemand auf einen trockenen Ast getreten. Zeitgleich wehte der Duft von Pfefferminze durch das Dickicht und vermengte sich mit dem Geruch von Holz und Erde.

Die friedliche Sommerstimmung passte nicht zu ihrem traurigen Gemütszustand. Angst umklammerte Ben mit dunklen Schwingen, der sich dadurch wie gelähmt fühlte. Selbst das Atmen fiel ihm schwer.

Emma merkte, wie schlecht es dem Freund ging. Immer noch fehlten ihr tröstende Worte, sodass hilfloses Schweigen wie eine trennende Mauer zwischen ihnen stand.

Da erklang plötzlich ein zartes Stimmchen: »Ich kann euch helfen!«

Emma fuhr zusammen, starrte dann Ben an, doch der zuckte nur mit den Schultern. Die beiden Freunde schauten suchend umher, konnten jedoch niemanden entdecken.

»Hier unten bin ich, neben Emmas Fuß!«

Die zwei lenkten ihre Blicke ins Gras und trauten den Augen nicht. Vor ihnen stand ein winziges, wunderschönes Wesen mit langen, blonden Haaren sowie einem roten Blütenkleid. Auf dem Rücken bewegten sich durchsichtige Flügel, die im Sonnenlicht schimmerten. Die Freunde erschraken, starrten fassungslos auf dieses Ding, das einer Mischung aus Kolibri und Libelle glich.

Emma deutete auf das kleine Wesen. »Was ist denn das? Siehst du das auch?«

Ben kniff die Augen zusammen und stammelte: »Das glaub ich jetzt nicht! Da verarscht uns jemand ganz gewaltig!«

»Das ist bestimmt Versteckte Kamera. Oder?«, murmelte Emma. Verunsichert sah sie sich um.

Das zierliche Geschöpf ließ ein fröhliches Lachen erklingen und strahlte die zwei Freunde an: »Mein Name ist Amapola. Ich bin eine Elfe, genauer gesagt, eine Blumenelfe. Mein Volk und ich beobachten euch schon seit Jahren, um festzustellen, ob wir euch vertrauen können. Wir mussten warten, bis ihr bereit seid. Doch jetzt ist der richtige Zeitpunkt, mich zu zeigen, denn ihr braucht unsere Hilfe und wir eure. Ich weiß …«

Emma unterbrach den Redefluss, indem sie niederkniete, um die Elfe anzutippen.

Überrascht fiel Amapola dadurch auf den Rücken, rappelte sich jedoch schimpfend wieder auf. »Was fällt dir ein, du unverschämtes Menschenkind!«

»Die ist wirklich echt!«, rief Emma entgeistert.

Ben kniete neben Emma, nahm die Elfe in die Hand und hielt sie dicht vor sein Gesicht. »Ich weiß nicht. Die ist vielleicht zwanzig Zentimeter groß und redet, als wäre sie lebendig!«

Amapola trat wild mit den Beinen nach dem Jungen, dabei zeterte sie: »Lass mich sofort runter!«

Vorsichtig setzte Ben die Elfe zurück auf den Boden. »Voll krass, die fühlt sich auch echt an!«

Unbeherrscht stampfte Amapola mit den Füßen auf, schaute dabei aufgebracht zu Ben. »Natürlich bin ich echt! Ich bin doch keine Puppe! Hört ihr mir jetzt endlich zu?«

Erstaunen spiegelte sich in den Mienen der Freunde.

Ben nuschelte: »Na, gut!«

»Wurde aber auch Zeit!«, rief Amapola gereizt. Ihr böser Blick streifte die Freunde, doch sie wagte einen weiteren Versuch: »Ich weiß, dass Ben erblinden wird, aber ich kenne einen Weg, das zu verhindern. Wollt ihr mehr darüber wissen?«

Vollkommen überrumpelt nickten Ben und Emma.

Die Elfe fuhr fort: »Ich sehe viele Fragen in euren Augen, die ich irgendwann beantworten werde. Im Moment haben wir nicht viel Zeit, zudem ist es hier nicht sicher.« Hektisch blickte sie umher und durchdrang mit dem Blick das Dickicht hinter ihnen. »Emma, du hast eine Tante, die Esther heißt. Stimmt’s?« Voller Triumph schaute Amapola das Mädchen an, während sie auf Antwort wartete.

Erneut nickte Emma, war aber noch verwirrter als zuvor. ›Woher kennt dieses kleine Ding da meine Tante Esther?‹, dachte sie mit gerunzelter Stirn.

Abermals knackte es im Unterholz. Trockenes Laub knisterte.

Erschrocken zuckte die Elfe zusammen und schnupperte. »Kaut ihr Pfefferminzkaugummis? Nein? Hm, ach – egal! Deine Tante Esther besitzt ein Zauberbuch, welches sehr, sehr wichtig für meine Welt ist. Es ist uns vor ewigen Zeiten gestohlen worden und über viele Umwege irgendwann zu euch ins Menschenreich gelangt. Esther wird es euch aushändigen, sie ist eine sehr weise Frau, die das Buch für uns verwahrt, um es vor den bösen Mächten zu verstecken.«

Die Blumenelfe hielt inne, schaute sich gehetzt um. Die Freunde folgten ihrem Blick, sahen jedoch niemanden.

»Die spinnt, die leidet unter Verfolgungswahn! Sie sollte mal mit meiner Mutter reden«, raunte Ben und grinste seine Freundin an.

»Was?« Amapola runzelte die Stirn, während sie Ben fixierte.

»Ähm, nichts!« Ben winkte ab, während er das Lachen unterdrückte.

Amapola seufzte. Schließlich erklärte sie mit gesenkter Stimme: »Das Zauberbuch trägt eine gewaltige Macht in sich. Es darf auf keinen Fall in falsche Hände geraten. Mit diesem Buch werden wir drei durch das Tor von Zeit und Raum nach Fanrea reisen. Das ist eine Welt, weit weg von der Erde.«

»Zauberbuch? Andere Welt? Fanrea?«, fragte Emma irritiert.

Amapola schüttelte genervt den Kopf. »Bist du ein plappernder Papagei? In Fanrea werdet ihr zu Kriegern des Lichts ausgebildet. Gemeinsam mit uns müsst ihr gefangene Elfen aus den Klauen eines bösen Zauberers befreien, sonst ist es mit ihnen vorbei. Anschließend werden wir zum See der Heilung gehen, dort wird Ben geheilt.«

»Hä?« Ungläubig zog Ben die Augenbrauen hoch. »Elfen und Zauberer gibt es doch nur in Büchern!« Fragend schaute er zu Emma.

Die zog eine Grimasse und sagte bockig: »Ich kapier gar nichts! Wovon redet die überhaupt? Alles Blödsinn! Sollen wir etwa wochenlang durch dieses Fanrea laufen?« Das war typisch für Emma, wenn eine Situation sie überforderte, blockte sie total ab.

Erneut stampfte Amapola zornig auf: »Ich wusste, dass ich es vermasseln werde! Hört mir einfach zu, ungläubige Menschenkinder!« Schnaufend stemmte sie die Hände in die Taille. »Ihr habt schon einmal den Weg durch das Weltentor genommen, aber erinnert euch leider nicht daran. Ihr seid etwas ganz Besonderes, obwohl ich das kaum glauben kann, wenn ich euch so erlebe!«

»Also, ich fin…«

Die Elfe holte tief Luft und unterbrach Emma. »Wir brauchen eure Hilfe! Ihr braucht unsere Hilfe! Glaubt mir doch endlich oder fragt Tante Esther! Außerdem läuft die Zeit in Fanrea anders als hier. Das, was hier eine Stunde dauert, bedeutet in Fanrea Tage.«

Überfordert fragte Ben: »Was soll das für ein Tor sein? Was ist Fanrea für eine Welt? Ich habe diesen Namen noch nie gehört. Die Zeit läuft anders? Du redest wie ein Wasserfall lauter wirres Zeug! Warum sollten wir dir glauben?«

Amapola runzelte die Stirn und murmelte unwillig: »Wie gesagt, fragt Esther! Ich wusste von Anfang an, dass ich nicht die Richtige für den Auftrag bin. Blumen kann ich heilen, aber keine Menschenkinder überzeugen. Die anderen waren alle zu beschäftigt, scheuen zudem die Menschenwelt, aber ich soll das regeln! Dabei bin ich völlig ungeeignet für diesen Job. Ich habe mich geweigert, aber nein, niemand hört auf mich, und nun habe ich alles vermasselt.«

Verblüfft schwiegen Emma und Ben. Sie starrten auf die Elfe, während deren Schimpftirade auf sie niederprasselte.

»Ach, Menschen!« Ein langer Seufzer entschlüpfte Amapola, aber sie versuchte es noch einmal: »Zeit und Raum sind nicht so, wie ihr Menschen denkt. Es existieren viele verschiedene Tore, die zu anderen Welten führen. Zum Beispiel Steinansammlungen, Höhlen oder Feenkreise, die über die ganze Erde verstreut sind. Euer Tor führt durch eine jahrhundertealte Eiche.

Ich könnte eine Menge erklären, aber der Verstand steht euch im Wege. Hört doch einfach mal auf euer Herz, fragt nicht so viel! Folgt dem Gefühl, vertraut auf die innere Stimme!« Sie stemmte die Arme in die Taille und schob ihre Unterlippe vor. Dann holte sie tief Luft und stieß hervor: »Nichts geschieht einfach nur so, alles hat seinen Sinn. Das scheinbare Unglück, das uns ereilt, macht uns die größten Geschenke.« Amapola verstummte und schaute die beiden Freunde ebenso ernst wie hoffnungsvoll an.

Ben schaute nachdenklich zu Boden, murmelte dabei kaum hörbar vor sich hin: »Blind werden als Geschenk?«

Emma wurde ein klein wenig zugänglicher: »Ich möchte dir gern glauben, weil ich Ben helfen will. Kannst du uns diese fantastische Geschichte irgendwie beweisen?«

Verständnisvoll nickte Amapola: »Mich seht ihr doch auch! Vor ein paar Minuten konntet ihr euch nicht vorstellen, dass es Blumenelfen gibt, oder? Also gut, Menschen brauchen immer etwas Handfestes, um zu glauben. Schließt eure Augen.«

Die Freunde folgten ihrer Aufforderung und warteten gespannt. Erst geschah nichts, doch dann wurden die beiden unvermittelt von Visionen überrollt. Durch ihre Köpfe flackerten Bilder, so real wie in einem Kinofilm.

Ben sah, wie er rittlings auf einem riesigen Baumstamm hockte. Er trug ganz andere Kleidung, so ähnlich wie die von Robin Hood. Plötzlich kam Bewegung in den Stamm, gleichzeitig vergrößerte sich der Bildausschnitt. Ben stockte der Atem, denn was er sah, war unglaublich: Er saß nicht auf einem Baum, sondern auf dem Rücken eines gewaltigen Drachen, der sich gemeinsam mit ihm in die Lüfte erhob und davon flog.

Emma erschien eine Szene, in der sie mit Pfeil und Bogen ausgestattet durch einen Wald lief, gefolgt von einem braunen, geflügelten Hirsch. Unvermittelt blieb sie stehen, hob den Bogen, um einen Pfeil abzuschießen. Ihr Blick folgte dessen Bahn, sodass sie in einiger Entfernung das Ziel wahrnahm: einen der riesigen, grauen Wölfe aus ihrem Albtraum! Mit gefletschten Zähnen sprang der Wolf auf sie zu, wurde mitten im Flug von ihrem Pfeil durchbohrt und fiel tödlich verletzt zu Boden. Unvermittelt erloschen die Visionen wieder.

»Was war das?«, fragte Ben atemlos. Diese Bilder hatten etwas in ihm zum Klingen gebracht, eine ferne, verschwommene Erinnerung, die er nicht zu fassen bekam.

Ähnlich erging es Emma, überwältigt suchte sie nach Worten: »Das war der Wolf aus meinem Traum! Dieser Hirsch – Amapola, du hast mir diese Alpträume geschickt! Warum?«

»Nein, für deine Träume bin ich nicht verantwortlich. Das war eine übergeordnete Magie. Vielleicht waren das Bilder aus einer möglichen Zukunft in Fanrea. Gleichzeitig waren es aber auch Teile eurer Vergangenheit, aus einem anderen Leben«, erläuterte Amapola.

Ben stöhnte: »Stopp, Amapola! System overloaded!«

Nachdenklich schwieg Emma.

Lange und eindringlich betrachtete Ben Amapola, schließlich meinte er einlenkend: »Okay, nehmen wir mal an, dass deine Geschichte wahr ist und wir dir glauben können. Was erwartest du von uns, warum können gerade wir euch helfen?«

Hoffnungsvoll leuchteten Amapolas Augen auf, als sie die beiden ansah: »Hab ich euch doch schon erzählt. Ben darf nicht blind werden, deshalb muss er zum See der Heilung! Ihr werdet gebraucht, um die Elfen zu befreien, die von dem Zauberer Worak gefangen gehalten werden. Wenn wir das nicht schaffen, sind sie für den Rest ihres Lebens zu Kälte und Leblosigkeit verdammt. Ihr beide seid Teil einer uralten Prophezeiung und nur ihr seid imstande, den Zauberspruch zu ihrer Rettung bei Vollmond vorzutragen.« Die strahlenden Augen der Elfe wurden finster und füllten sich mit Tränen.

Die tiefe Traurigkeit der Elfe berührte die Freunde und weckte ihr Mitgefühl. Sie wurden sehr nachdenklich, ihre Herzen meldeten sich und brachten schließlich die Stimme der Vernunft zum Schweigen.

Amapola unterbrach ihre Gedanken: »Folgt dem Ruf eurer Seele! Es ist eure Bestimmung, Reisende zwischen den Welten zu sein, ihr könnt das nicht verleugnen. Tut ihr es dennoch, wird ein immerwährendes Sehnen nach etwas Unbekanntem euch quälen.«

Als Erste ergriff Emma das Wort: »Amapola, ich verstehe immer noch nichts. Ich weiß nicht, was das für eine Prophezeiung ist und was sie mit uns zu tun haben soll, aber ich möchte Ben retten und dir helfen. Irgendwie glaube ich dir! Deshalb gehen wir jetzt zu Tante Esther und besorgen dieses seltsame Zauberbuch.«

»In meinen Büchern sind die Helden mutig und bestehen aufregende Abenteuer. Als kleiner Junge wollte ich so sein wie Harry Potter, aber ehrlich gesagt, jetzt würde ich lieber darauf verzichten. Aber wenn ich es mache, werde ich vielleicht nicht blind. Deshalb muss ich es wagen«, nuschelte Ben. »Wir hoffen immer, und in allen Dingen ist besser hoffen als verzweifeln* .«

Vor Freude klatschte Amapola in die Hände: »Ich hatte mir so gewünscht, dass ihr euch darauf einlasst! Also, geht jetzt gleich zu Tante Esther, erzählt alles und holt das Zauberbuch. Sie wird über eure Geschichte nicht sonderlich verwundert sein. Ihr dagegen werdet wegen Esther erstaunt sein, wartet es ab! Morgen Mittag, um viertel vor zwölf Uhr, treffen wir uns an der alten Eiche im Wald. Ihr wisst, welchen Baum ich meine? Esther kennt ihn ebenfalls, er ist ihr Lieblingsbaum! Ich danke euch, dass ihr mir zugehört habt und endlich vertraut.« Sie flatterte mit den Flügeln und strahlte. »Juhu, ich hab es geschafft, obwohl ich selbst nicht daran geglaubt habe. Noch mal mach ich das allerdings nicht!«

Emma und Ben schauten einander an. Sie fühlten sich wie Verbündete, die ein großes Geheimnis teilten. Ein seltsames Kribbeln überlief beide, kaum konnten sie das morgige Abenteuer erwarten. Nachdem sie Amapola verabschiedet hatten, wurde diese unsichtbar.

»Weg ist sie! Junge, Junge, das glaubt uns niemand!«, rief Ben.

Emma stimmte ihm zu: »Nee, echt niemand! Deshalb erzählen wir keinem davon. Alle denken sonst, wir sind völlig verrückt, außer Tante Esther. Mit der habe ich allerdings ein Hühnchen zu rupfen! All die Jahre hat sie uns was vorgemacht!«

»Du bist vielleicht lustig, was sollte sie uns denn erzählen? Wir hätten ihr sowieso nicht geglaubt, sondern sie für total durchgedreht gehalten! Du hast es doch gerade selbst gesagt!«

»Trotzdem!« Emma runzelte die Stirn.

»Ist klar, ist bei ihr was anderes!« Er konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.

Es knackte erneut. Aus den Augenwinkeln bemerkte Ben eine Bewegung. Er drehte sich rasch um, sodass er gerade noch eine Gestalt wahrnahm, die geduckt im Gebüsch untertauchte.

Ben fühlte die Bedrohung, die von dieser Gestalt ausging. Ihm lief ein kalter Schauer den Rücken hinunter.

»Ben, was hast du?«, flüsterte Emma, die ebenfalls spürte, dass etwas nicht stimmte.

»Da war etwas! Ein unheimlicher Kerl, der sich vor uns versteckt hat und blitzschnell verschwunden ist. Ob er uns belauscht hat?«

»Uns belauscht? Ein Kerl? Also ein Mensch? Vielleicht ein Spion von dem Zauberer? Ben, das ist mir nicht geheuer, lass uns schnell zu Tante Esther laufen!« Emmas Fantasie schlug gerade Purzelbäume.

Unsicher zuckte Ben mit den Achseln. »Keine Ahnung. Ja, komm, wir gehen zu Esther! Ich will lieber nicht wissen, wer oder was das war!«


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