Читать книгу Fanrea - A.E. Eiserlo - Страница 12
Die Hüterin der Bücher
ОглавлениеEmma erging es in ihrem Zimmer nicht besser, sie konnte ebenfalls nicht einschlafen. Um nicht mehr über den Kampf im Wald grübeln zu müssen, hatte sie sich abends mit ihrer Mutter unterhalten und das Gespräch auf Esther gelenkt.
Die Mutter erzählte von Esthers Rucksacktrip nach Amerika und davon, dass diese ihr Studium der Literatur und Biologie abgebrochen hatte, um eine Weile mit einem reichen Texaner unter Indianern und Schamanen zu leben.
Emma dachte noch einmal an die Worte ihrer Mutter: ›Wir hatten damals nicht viel Kontakt. In Amerika hat Esther diesen Millionär kennengelernt, einen Aussteiger, und ihn geheiratet. Die beiden bekamen eine süße Tochter. Wenn ich damals mit Esther telefonierte, klang sie sehr, sehr glücklich. Hm, dann geschah der tödliche Autounfall. Nach einiger Zeit kehrte eine ziemlich unglückliche Esther hierhin zurück. Ich denke, diesen Schicksalsschlag überwand meine Schwester nie, auch wenn sie uns das nicht zeigen wollte. Wenigstens hat sie reich geerbt und muss sich keine Sorgen ums Geld machen.‹
Emma beschloss, ihre Tante irgendwann auf ihren Mann und die kleine Tochter anzusprechen. Die Geschichte mit dem Unfall war Emma zu vage, sie spürte deutlich, dass diese nicht der vollen Wahrheit entsprach.
Müde knipste Emma das Nachtlicht aus, um zu schlafen. Es half jedoch alles nichts, sie konnte sich noch so oft hin und her wälzen, der Schlaf blieb fern. Entnervt schaltete sie ihre Nachttischlampe wieder an.
Der magische Kieselstein fiel Emma ein. Sie holte ihn aus der Jeans, die auf dem Boden vor ihr lag und starrte ihn verblüfft an: Er war nicht mehr grau, sondern blaugrün!
»Das darf doch nicht wahr sein, er hat sich verändert«, flüsterte Emma und konnte den Blick nicht von dem Stein lösen. Fassungslos betrachtete sie ihn, rollte ihn in ihrer Hand hin und her. Die Farbe erinnerte an schillerndes, glasklares Wasser im Sonnenlicht. Wenn sie genau hinhörte, meinte sie das Rauschen von Wellen zu hören. Emma fand den Stein schön, auch wenn ihr das Wechseln der Farbe ein wenig unheimlich war. Aber er war eben magisch!
Während sie den Kiesel auf den Nachttisch legte, streifte ihr Blick das rätselhafte Zauberbuch. Emma zwang ihren Blick weg von dem Buch, beschloss stattdessen zu lesen, um sich abzulenken. Am besten etwas ohne Magie oder unheimliche Gestalten. Von daher schied das aktuelle Buch von Michael Scott aus.
Emma war eine echte Büchernärrin, sie verschlang spannende Geschichten wie Hunde kleine Leckerbissen. Um ihre Leidenschaft zusätzlich zu finanzieren, gab Emma sogar Nachhilfe für jüngere Kinder.
Im Universum der Bücher konnte sie in jede Rolle schlüpfen: Zauberin, Elfe, Hexe, Kunstdiebin oder Forscherin, und in sämtliche Galaxien reisen, die es in ihrer Fantasie gab. Nichts war unmöglich, es gab keine Grenzen. Welten warteten zwischen zwei Buchdeckeln darauf, entdeckt zu werden.
Bücher übten eine magische Anziehungskraft auf Emma aus. Sie konnte viel Zeit in einem Buchladen verbringen, um die Titel zu lesen. Mit geschlossenen Augen strichen dann ihre Finger die Buchrücken entlang, bis eines der Bücher wisperte: ›Ich bin das Richtige für dich, nimm mich!‹ Wenn sie dann den Inhalt auf dem Einband las, war sie immer wieder erstaunt, dass es tatsächlich genau die passende Geschichte für sie war.
Dieses Mal versuchte Emma vergeblich zu spüren, welches Buch das passende für sie war. Heute jedoch schwiegen sie, keines sprach sie an: »Lies mich, befrei mich aus dem Regal!«
Plötzlich nahm Emma aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahr und zuckte ängstlich zusammen. Nach dem gefährlichen Erlebnis im Wald befand sie sich ständig in Alarmbereitschaft. Jetzt jedoch waren weder Ben noch Amapola an ihrer Seite.
Mit wild klopfendem Herzen drehte Emma den Kopf und konnte es kaum fassen. Entsetzt starrte sie auf ein kleines Wesen, das sie schmunzelnd ansah. Es trug ein lila-schwarzes Gewand mit weiten Ärmeln, dazu einen dunklen, spitzen Hut auf dem Kopf.
»Wer bist du denn?« fragte Emma fassungslos. Ihr erster Schreck ließ langsam nach, das Wesen strahlte nichts Böses oder Feindseliges aus. Außerdem war da dieses einnehmende Lächeln. Die heutige Erfahrung im Wald hatte sie spüren lassen, wie sich die dunkle, boshafte Seite anfühlte.
»Ich bin die Energie des Zauberbuches.«
»Du bist was?«
Das ungefähr dreißig Zentimeter kleine Männlein antwortete geduldig: »Alles ist Energie, auch dieses Buch. Zwischen diesen Seiten steckt eine ganz besonders mächtige Energie! Für dich habe ich eine Gestalt angenommen, mit der du etwas anfangen kannst. Doch hätte ich auch die Gestalt von Harry Potter oder einer sprechenden Katze annehmen können, aber gewöhnlich liegt mir die Gestalt des kleinen Zauberers am meisten. Mein Wunsch war es, dass wir uns bekanntmachen und Freunde werden, schließlich habe ich viele Jahre auf dich gewartet.«
»Das bedeutet, du bist das Buch? Bist du aus dem Buch herausgekrochen, obwohl es verschlossen war? Gehst du nachher wieder in das Buch zurück?«
Der kleine Zauberer lachte gutmütig: »Ja, so ähnlich kann man es ausdrücken. Nimm es einfach so hin! Ihr Menschen wollt immer alles genau erklärt haben und versteht dann doch nichts, weil euer menschlicher Verstand selten ausreicht, um das große Ganze zu verstehen.«
»Na prima! Ein Buch, das mit mir redet!«, ereiferte sich Emma. Fast schon fand sie es normal, mit kleinen Zauberern und Elfen zu plaudern oder in Lichtbällen Schutz zu finden. Gestern noch war sie ein Mädchen gewesen wie die anderen in ihrem Alter, doch seit heute kam sie sich vor, als wäre sie in einen Fantasyfilm hineingesprungen.
Der Magier las amüsiert in Emmas Gesicht. Doch abrupt änderte sich dessen Stimmung. Seine Augen wirkten ebenso kühl wie entschlossen. »Ich komme ohne Umschweife zum wichtigsten Thema meines Besuches: Du bist die vorübergehende Hüterin dieses Zauberbuches. Eines fernen Tages, nachdem du viele Prüfungen bestanden hast, dein Herz gereinigt ist von Groll sowie bitteren Gedanken, wirst du eine wahre Hüterin magischer Bücher sein, und alles, was darin steht, wirst du entschlüsseln können. Du bist eine Auserwählte!«
Diese Aussage traf Emma völlig unerwartet. Sie schluckte mühsam. »Auserwählte? Warum ich? Was soll das denn schon wieder? Ich möchte nicht noch mehr Verantwortung! Was ist, wenn ich das Buch nicht beschützen kann?«
»Du wirst alles beizeiten erfahren!«
Emma wurde wütend, sie mochte es überhaupt nicht, wenn andere über sie bestimmten. »Ich will aber gar keine Hüterin sein! Ich werde Ben helfen, damit er nicht blind wird. Ansonsten möchte ich mit dem Zauberbuch, Fanrea und Magie gar nichts zu tun haben. Ich höre mir das alles an, damit ich weiß, was auf uns zukommt, aber ansonsten möchte ich ein ganz normales Mädchen bleiben.«
»Das bist du aber nicht und wirst es nie wieder sein. Du kannst deinem Schicksal nicht davonlaufen! Dein Weg ist vorgeschrieben, und du wirst dein Schicksal annehmen!«
»Das entscheide immer noch ich!«
»Wie du meinst!« Eine frostige Stille entstand, in der nur das Ticken eines Weckers zu hören war.
Doch Emma war noch nicht fertig mit dem Thema: »Was bedeutet Hüterin denn genau? Soll ich etwa in einer dunklen Höhle sitzen und lauter magische Bücher bewachen? So habe ich mir mein Leben ganz bestimmt nicht vorgestellt!«
»Hüterin bedeutet in deinem Fall, dass du in einer fernen Zukunft auf der Erde, ebenso anderen bewohnten Welten magische Bücher suchst und diese anschließend in Sicherheit bringst. Einzigartige, kostbare und unersetzliche Bücher.«
Entrüstet starrte Emma den Zauberer an. Schließlich stieß sie trotzig hervor: »Ich liebe Bücher, aber ich möchte nicht im Universum nach ihnen suchen, um sie anschließend zu beschützen. Egal, wie kostbar. Das werde ich ganz sicher nicht tun!«
Gelassen zuckte der kleine Magier mit den Schultern und öffnete ohne weitere Erklärung das schwere Buch per Gedankenkraft.
Emma beobachtete, wie der lederne Einband langsam aufklappte und alte, vergilbte Pergamentseiten preisgab. Das Buch knisterte leise und vibrierte, als ob es die gebündelte Energie und das magische Wissen nur mit Mühe zurückhalten konnte. Kaum traute sich Emma zu atmen, während sie ehrfürchtig die Seiten betrachtete. Wie viele Jahrhunderte alt mochte das Buch wohl sein, durch wessen Hände war es schon gegangen? Wie viel Glück oder gar Unglück hatte es dem jeweiligen Besitzer gebracht?
Langsam blätterten sich die Seiten von selbst um und erlaubten Emma, einen Blick zu erhaschen. Sie sah seltsame Figuren sowie geheimnisvolle Symbole, mystische Zeichnungen, lange Texte oder kurze Anweisungen, Karten, Skizzen, rätselhafte Formeln und einzelne verschnörkelte Buchstaben. Widerwillig bemerkte sie, dass sie nun doch gebannt auf die Seiten starrte.
Der Zauberer musterte Emma. »Dieses Buch beinhaltet nicht nur Magie, sondern auch viel geheimes Wissen über verschiedene Pflanzen, die Kräfte des Mondes und dessen Einfluss. Gifte und ihre Dosierungen werden erläutert, Zauber- oder Bannsprüche, Umkehrzauber und wichtige Geheimnisse des Universums stehen darin. Der Besitzer dieses Buches hält eine gewaltige Macht in seinen Händen. Je nachdem, welche Gesinnung der Besitzer hat, nutzt er sie zu guten oder bösen Taten.« Der Magier ließ seinen Blick über Emmas Gesicht gleiten. Er bemerkte die Faszination in ihrem Blick und ein verhaltenes Lächeln stahl sich in seinen Mundwinkel. Dann verdüsterten sich seine Augen. »Ja, das ist Magie, sie zieht jeden in ihren Bann. Hüte dich, sie zu missbrauchen!« Die Stimme klang bedrohlich.
Emma erwachte wie aus einem tiefen Schlaf. Die entspannte Atmosphäre veränderte sich, wurde abrupt bedrückend und unheimlich.
Unvermittelt und rasend schnell wechselte der Magier seine Gestalt. Er wurde zu einer schwarzen Königskobra, die sich vor Emma zischend auf dem Boden wand. Den Oberkörper angehoben, spreizte die Schlange ihre Halsrippen und stieß zischende Drohlaute aus.
Emma erschrak fürchterlich und fixierte wie gelähmt die sich ringelnde Schlange, die sie aus kalten Augen herablassend ansah. Ekel flutete Emmas Gedanken und Körper. Für sie war eine Schlange das widerlichste Tier auf der Erde, dagegen fand sie Spinnen geradezu niedlich. Emma hielt den Atem an und fühlte eine so große Angst, dass sie glaubte, daran zu ersticken. Sie versuchte, nicht die Beherrschung zu verlieren, sondern tastete nach einem Buch, das hinter ihr lag. Ihre Finger umschlossen es. Mit Schwung schleuderte Emma es auf die Schlange, verfehlte diese jedoch um Haaresbreite.
Die Kobra stieß schlagartig zu. Im selben Moment schrie Emma hysterisch auf. Sie schloss die Augen, wartete darauf, dass die mörderischen Zähne sich in ihr Fleisch bohrten. Doch als nichts geschah, öffnete Emma mit angehaltenem Atem die Augen.
Das Reptil verwandelte sich gerade zurück in den kleinen Magier, der erneut den leicht belustigten Gesichtsausdruck zur Schau trug.
Voller Entsetzen blickte Emma auf ihn herab. Ihre Hände zitterten, gleichzeitig rang sie um Atem.
Der Zauberer ignorierte ihren inneren Aufruhr, erklärte stattdessen schmunzelnd: »Gut reagiert, Menschenkind. Ich wollte dir mit dieser kleinen Demonstration nur zeigen, dass schwarze und weiße Magie in mir vereint sind. Der Besitzer bringt die jeweilige Seite hervor. Es liegt nun also bei dir, wer die Macht hat, das Licht oder die Dunkelheit. Beide Seiten können das Zauberbuch nutzen!«
Jetzt platzte Emma vor Wut: »Du spinnst ja wohl, du Ekelpaket! Du bist total durchgedreht! Musste das sein? Ich hab panische Angst vor Schlangen!«
»Genau deswegen! Du musst deine schlimmsten Ängste bekämpfen! Außerdem konnte ich dir so am besten demonstrieren, wie gefährlich das Buch sein kann. Das musste dir bewusst werden. Aber nun habe ich genug geredet, ich werde dich jetzt wieder verlassen. Höre auf dein Herz, gib niemals auf in einer schlimmen Lage, sondern glaube an deine Kraft. Lerne zu vergeben und arbeite beständig an dir, du hast noch einiges aufzuarbeiten. Bis bald!«
Bevor Emma noch etwas erwidern konnte, verbeugte sich der Zauberer höflich, murmelte einen kurzen Zauberspruch und verschwand. Das Buch klappte zu wie von Geisterhand. Emma war wieder allein.
Mit weichen Knien fiel Emma aufs Bett. Das eben Geschehene musste sie erst einmal verdauen, der Schock saß ihr noch tief in den Knochen und wollte nicht weichen.
»Was ist das denn für ein blöder, unangenehmer Typ? So ein Oberlehrergehabe!«, schimpfte Emma. »Und es bleibt dabei, ich entscheide über mein Leben! Soll er sich doch seine Weisheiten und klugen Ratschläge an den Zauberhut stecken!«
Nach diesem schrecklichen Tag flatterten ihre Nerven. Emma brauchte dringend Ruhe. Deshalb kroch sie unter ihre Bettdecke, in die sie sich schläfrig hineinkuschelte. Erschöpft von der Aufregung, fielen ihr die bleischweren Augen zu. Der Schlaf umfing sie mit tröstenden Händen, um sie in das Land des Vergessens zu führen und alle Grübeleien aus ihrem Kopf zu vertreiben.