Читать книгу Der Tod auf dem Nil - Agatha Christie - Страница 16

Zweites Kapitel

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»Das ist Hercule Poirot, der Detektiv«, sagte Mrs Allerton zu ihrem Sohn.

Sie saßen in scharlachrot lackierten Korbsesseln im Vorgarten des Hotel Cataract in Assuan und sahen hinter zwei Menschen her, die sich gerade entfernten – einem kleinen Mann in einem weißen Seidenanzug und einem großen, schlanken Mädchen.

Für seine Verhältnisse ungewöhnlich lebhaft, schoss Tim Allerton hoch. »Der komische Knirps da?«, fragte er ungläubig.

»Der komische Knirps da!«

»Was um Himmels willen macht der denn hier?«

Seine Mutter lachte. »Liebling, du klingst ja ganz aufgeregt. Warum finden Männer Kriminelles eigentlich so toll? Ich hasse Detektivgeschichten, ich lese sie nie. Ich glaube auch gar nicht, dass Monsieur Poirot zu einem bestimmten Zweck hier ist. Ich nehme an, er hat einfach eine Menge Geld gescheffelt und guckt sich die Welt an.«

»Und hat offenbar gleich ein Auge auf das hübscheste Mädchen am Platz geworfen.«

Mrs Allerton legte den Kopf ein wenig schräg, um die allmählich entschwindenden Rückseiten von Monsieur Poirot und seiner Begleiterin genauer betrachten zu können.

Das Mädchen überragte ihn um fast zehn Zentimeter und hatte einen anmutigen Gang, nicht gestelzt, aber auch nicht zu salopp.

»Ich muss zugeben, ziemlich hübsch ist sie«, sagte Mrs Allerton mit einem kurzen Seitenblick auf ihren Sohn. Zu ihrer Belustigung biss der Fisch sofort an.

»Mehr als ziemlich. Schade, dass sie so einen Schmollmund macht und schlecht gelaunt aussieht.«

»Vielleicht trägt man das heute so.«

»Ein fieser kleiner Teufel, finde ich. Aber ausgesprochen hübsch.«

Der Gegenstand dieser Bemerkungen war Rosalie Otterbourne. Sie drehte, während sie langsam neben Poirot herging, an ihrem zugeklappten Sonnenschirm herum und hatte genau den Gesichtsausdruck, den Tim beschrieben hatte. Sie schien zu schmollen und schlechte Laune zu haben. Sie hatte die Augenbrauen fest in der Mitte zusammengekniffen und die scharlachroten Lippen nach unten gezogen.

Die beiden gingen jenseits des Hoteltors nach links und kamen in den kühlen, schattigen Stadtpark. Hercule Poirot redete im sanften Plauderton und sah aus, als wäre er glücklich und bester Laune. Sein weißer Seidenanzug war tadellos gebügelt; dazu trug er einen Panamahut und einen reichverzierten Fliegenwedel mit einem Griff aus Bernsteinimitat. »… ich bin ganz hingerissen«, sagte er eben, »die schwarzen Felsen auf der Insel Elephantine und die Sonne und die Boote auf dem Fluss. Ach ja, es ist schön, am Leben zu sein.«

Er machte eine Kunstpause. »Finden Sie nicht, Mademoiselle?«

»Es ist wohl ganz in Ordnung«, beschied Rosalie Otterbourne knapp. »Aber Assuan ist ein trübsinniges Pflaster, finde ich. Das Hotel ist halb leer, alle Gäste sind um die hundert –« Sie biss sich auf die Lippe.

Hercule Poirot zwinkerte zurück. »Das stimmt, ja. Und ich stehe auch schon mit einem Bein im Grab.«

»Ich – ich habe doch nicht Sie gemeint«, sagte das Mädchen. »Entschuldigung. Das war ungezogen.«

»Überhaupt nicht. Es ist ganz natürlich, dass Sie sich Gesellschaft in Ihrem Alter wünschen. Nun ja, ein junger Mann ist immerhin vorhanden.«

»Der ständig mit seiner Mutter zusammenhockt? Sie gefällt mir, aber er sieht grässlich aus, finde ich – so eingebildet!«

Poirot lächelte. »Und ich – bin ich auch eingebildet?«

»O nein, finde ich nicht.«

Sie hatte deutlich kein Interesse an ihm – aber Poirot schien das nicht zu ärgern. Er gab nur gelassen und zufrieden zurück: »Meine besten Freunde behaupten, ich sei sehr eingebildet.«

»Oh – tja«, entgegnete Rosalie zerstreut, »Sie haben wohl auch Grund, sich etwas einzubilden. Leider interessieren mich Verbrechen ganz und gar nicht.«

»Ich bin entzückt zu hören«, erklärte Poirot formvollendet, »dass Sie kein schlimmes Geheimnis zu verbergen haben.«

Einen winzigen Moment lang verschwand der Schmollmund, und sie schoss ihm einen neugierigen Blick zu.

Poirot schien ihn nicht bemerkt zu haben, sondern sprach einfach weiter. »Ihre Mutter war heute Mittag gar nicht beim Essen. Madame ist doch hoffentlich nicht indisponiert?«

»Es passt ihr alles nicht hier«, war die knappe Antwort. »Ich bin froh, wenn wir wegkönnen.«

»Wir fahren zusammen, nicht wahr? Wir machen alle denselben Ausflug nach Wadi Halfa und zum zweiten Nil-Katarakt?«

»Ja.«

Sie traten aus dem schattigen Park hinaus auf ein Stück Uferstraße und gerieten prompt ins Visier von fünf Perlen-, zwei Ansichtskarten- und drei Gipsskarabäusverkäufern, ein paar Burschen auf Eseln und schmutzigen Straßenjungen, die nicht dazugehörten, sich aber auch Hoffnungen machten.

»Sie wollen Perlen, Sir? Sehr gut, Sir. Ganz billig …«

»Lady, eine Skarabäus? Hier – große Königin – bringe viel Glück …«

»Hier sehen, Sir – Lapislazuli, echt. Sehr gut, sehr billig …«

»Eine Ritt auf Esel, Sir? Das sehr gute Esel. Diese Esel Whisky und Soda, Sir …«

»Sie wollen sehen Steinbrüche von Granit, Sir? Diese Esel sehr gut. Andere Esel sehr schlecht, Sir, immer hinfallen die Esel …«

»Sie wollen Postkarte – sehr billig – sehr, sehr schön …«

»Sehen, Lady … Nur zehn Piaster – sehr billig – Lapis – hier Elfenbein …«

»Hier Fliegenwedel sehr gut – alle Bernstein …«

»Sie wünschen Boot fahren, Sir? Ich habe sehr gute Boot, Sir …«

»Sie wollen zurück zu Hotel, Lady? Diese Esel erste Klasse …«

Hercule Poirot versuchte diesen menschlichen Fliegenschwarm mit Händen und Armen zu verscheuchen. Rosalie stakste hindurch wie eine Schlafwandlerin.

»Man tut am besten, als wäre man taub und blind«, sagte sie.

Die schmutzigen Straßenjungen liefen jammernd und murmelnd neben ihnen her. »Bakschisch? Bakschisch? Hipp hipp hurra – sehr gut, sehr schön …«

Ihre fröhlich bunten Lumpen schleiften malerisch hinter ihnen her, und auf ihren Lidern klebten ganze Schwärme von Fliegen. Die Jungen waren am hartnäckigsten, die Händler dagegen ließen irgendwann ab und warfen sich mit frischer Kraft auf die nächsten Passanten.

Der Spießrutenlauf führte Poirot und Rosalie jetzt nur noch an Läden entlang – der Ton war hier auch zuvorkommender, gewinnender …

»Möchten Sie heute mein Geschäft besuchen, Sir?« – »Wünschen Sie dieses Elfenbeinkrokodil, Sir?« – »Sie waren noch nicht in meinem Laden, Sir? Ich habe sehr wunderschöne Sachen.«

Den fünften Laden betraten sie, und Rosalie gab ein paar Filmrollen ab – der Anlass des Spaziergangs. Wieder draußen, schlenderten sie zum Nilufer. Eben legte einer der Dampfer an. Poirot und Rosalie sahen neugierig den Passagieren nach.

»Ganz schön viele, nicht?«, fand Rosalie. Dann drehte sie den Kopf, denn plötzlich tauchte Tim Allerton bei ihnen auf. Er war ein wenig außer Atem, als wäre er schnell gegangen.

Ein, zwei Augenblicke standen sie so da, schließlich zeigte Tim auf die Passagiere, die aus dem Dampfer kletterten, und bemerkte verächtlich: »Ein scheußliches Gewühl, wie immer, nehme ich an.«

»Normalerweise sind sie ziemlich furchtbar«, stimmte Rosalie zu.

Alle drei strahlten die Überlegenheit derer aus, die schon länger an einem Ort sind und die Neuankommenden mustern.

»Hoho!«, rief Tim plötzlich aufgeregt. »Ich will verflucht sein, wenn das da nicht Linnet Ridgeway ist.«

Die Information schien Poirot nichts zu sagen, erregte jedoch Rosalies Interesse. Sie lehnte sich vor, und alles Schmollen war von ihr abgefallen. »Wo? Die da in Weiß?«

»Ja, die mit dem stattlichen Mann. Die gerade an Land gehen. Wahrscheinlich ist das der frischgebackene Ehemann. Der Name fällt mir gerade nicht ein.«

»Doyle«, sagte Rosalie. »Simon Doyle. Stand in allen Zeitungen. Sie schwimmt direkt in Geld, nicht?«

»Och, sie ist bloß das reichste Mädchen in ganz England«, gab Tim fröhlich zurück.

Schweigend sahen die drei zu, wie die Passagiere an Land gingen. Poirot beobachtete höchst interessiert den Gegenstand der Bemerkungen seiner beiden Begleiter und murmelte schließlich: »Sie ist wunderschön.«

»Manche Leute haben einfach alles«, sagte Rosalie bitter. Etwas merkwürdig Missgünstiges lag in ihrem Gesicht, während sie zusah, wie das andere Mädchen die Planken entlangging.

Linnet Doyle war perfekt aufgemacht, so als schritte sie geradewegs in eine Theaterrevue. Ihr Auftritt war souverän wie der eines Bühnenstars. Sie war gewohnt, angesehen und angehimmelt zu werden und, wo immer sie hinkam, im Mittelpunkt zu stehen.

Die neugierigen Blicke, die auf ihr ruhten, waren ihr sehr wohl bewusst und gleichzeitig auch nicht – diese Art Tribut gehörte zu ihrem Leben. Sie spielte Landgang, obwohl sie diese Rolle nur unbewusst gab. Die schöne reiche Braut der feinsten Gesellschaft auf Hochzeitsreise. Mit einem kleinen Lächeln und einer leisen Bemerkung drehte sie sich zu dem großen Mann an ihrer Seite. Er antwortete, und der Klang seiner Stimme schien Poirot zu interessieren. Er bekam leuchtende Augen und kniff die Augenbrauen zusammen.

Jetzt ging das Paar dicht an ihnen vorbei, und Poirot hörte Doyle sagen: »Wir versuchen die Zeit dafür zu finden, Liebling. Wir können doch einfach ein, zwei Wochen dableiben, wenn es dir hier gefällt.«

Dabei sah er sie an, begehrlich, bewundernd, ein bisschen unterwürfig.

Poirot musterte ihn nachdenklich von oben bis unten – die breiten Schultern, das sonnengebräunte Gesicht, die dunkelblauen Augen, die beinah kindliche Arglosigkeit in seinem Blick.

»So ein Glückspilz«, sagte Tim, als sie vorbeigegangen waren. »Eine Millionenerbin, die weder Polypen noch Plattfüße hat, ist ein Volltreffer!«

»Sie sehen schrecklich glücklich aus«, sagte Rosalie mit einem Anflug von Neid. Und gleich danach, aber so leise, dass Tim es nicht hörte: »Das ist nicht gerecht.«

Poirot jedoch hatte es gehört. Er runzelte verblüfft die Stirn und sah dann kurz zu ihr hinüber.

Tim erklärte gerade: »Ich muss noch ein paar Sachen für meine Mutter besorgen«, zog den Hut und ging davon.

Poirot und Rosalie schlenderten langsam, immer wieder feilgebotene Esel abwimmelnd, zurück zum Hotel.

»Das ist also nicht gerecht, Mademoiselle?«, fragte Poirot sanft.

Das Mädchen wurde rot und wütend. »Ich weiß gar nicht, was Sie meinen.«

»Ich habe nur wiederholt, was Sie gerade eben geflüstert hatten. O doch, das haben Sie.«

Rosalie Otterbourne zuckte die Schultern. »Das ist ja wohl auch wirklich ein bisschen zu viel für einen einzigen Menschen. Geld, gutes Aussehen, tolle Figur und –« Sie hielt inne.

Poirot vollendete: »Und Liebe? Was? Und Liebe? Aber Sie wissen doch gar nicht – vielleicht ist sie ja nur wegen ihres Geldes geheiratet worden!«

»Haben Sie nicht gesehen, wie er sie angeguckt hat?«

»O doch, Mademoiselle. Ich habe alles gesehen, was es zu sehen gab – und übrigens auch etwas, das Sie nicht gesehen haben.«

»Was denn?«

Bedächtig antwortete Poirot: »Ich, Mademoiselle, habe dunkle Schatten unter den Augen einer Frau gesehen. Ich habe eine Hand gesehen, die einen Sonnenschirm so fest umklammert hielt, dass die Knöchel ganz weiß waren …«

Rosalie starrte ihn an. »Und was wollen Sie damit sagen?«

»Ich will nur sagen, es ist nicht alles Gold, was glänzt. Ich will sagen, auch wenn diese Lady reich und schön ist und geliebt wird, irgendetwas stimmt trotzdem nicht. Und ich weiß noch etwas.«

»Ja?«

»Ich weiß«, Poirot runzelte wieder die Stirn, »irgendwo und irgendwann habe ich diese Stimme schon einmal gehört – Mr Doyles Stimme –, und ich wüsste liebend gern, wo.«

Aber Rosalie hörte nicht mehr zu. Sie war stehen geblieben und zeichnete mit der Sonnenschirmspitze Muster in den Sand. Plötzlich brach es grimmig aus ihr heraus: »Ich bin abscheulich. Ich bin abscheulich. Ich bin einfach durch und durch ein Biest. Aber ich möchte ihr am liebsten die Kleider vom Leib reißen und auf ihrem hübschen, arroganten, selbstgefälligen Gesicht herumtrampeln. Ich bin eben eine eifersüchtige Zicke – aber so empfinde ich es. Sie ist so widerwärtig erfolgreich und gelassen und selbstsicher.«

Hercule Poirot schien ein bisschen verwundert über den Ausbruch. Er packte Rosalies Arm und schüttelte sie sanft und freundschaftlich. »Tenez – gleich fühlen Sie sich besser, weil Sie es ausgesprochen haben!«

»Ich hasse sie einfach! Ich habe noch nie jemanden auf den ersten Blick so gehasst.«

»Großartig!«

Rosalie sah ihn skeptisch an, verzog dann den Mund und fing an zu lachen.

»Bien«, sagte Poirot und lachte mit.

Wie zwei alte Freunde spazierten sie zurück zum Hotel.

»Ich muss Mutter suchen«, sagte Rosalie, als sie in die kühle, dämmrige Lobby traten.

Poirot ging in die entgegengesetzte Richtung, zur Terrasse mit Blick auf den Nil. Die Tischchen waren bereits für den Tee gedeckt, aber noch war es zu früh. Eine Weile sah er von oben auf den Fluss, dann bummelte er hinunter und durch den Garten.

Ein paar Leute spielten in der prallen Sonne Tennis. Er blieb stehen, sah eine Zeitlang zu und kletterte schließlich den steilen Pfad nach unten. Und dort, auf einer Bank, von der aus man den Nil sehen konnte, entdeckte er plötzlich das Mädchen aus dem Chez Ma Tante. Er erkannte sie sofort. Das Gesicht, das er an jenem Abend gesehen hatte, hatte sich fest in sein Gedächtnis eingebrannt. Es hatte jetzt einen anderen Ausdruck. Das Mädchen war auch blasser und dünner, und manche Züge ließen auf eine tiefe Erschöpfung und einen elenden Gemütszustand schließen.

Er trat ein paar Schritte zurück. Sie hatte ihn nicht gesehen. Er beobachtete sie eine Weile weiter, ohne dass sie seine Anwesenheit bemerkte. Ihr einer kleiner Fuß tappte ungeduldig auf den Boden. In ihren dunklen Augen schien eine Art Glut zu schwelen, ein düsterer Triumph zu lauern. Sie sah hinaus auf den Nil, auf dem weiße Segelboote vorbeiglitten.

Ein Gesicht – und eine Stimme. An beide konnte er sich genau erinnern. Das Gesicht dieses Mädchens und die Stimme, die er vor kurzem gehört hatte, die Stimme des frischgebackenen Ehemanns …

Und während er dastand und das ahnungslose Mädchen beobachtete, vollzog sich die nächste Szene des Dramas.

Oben wurden Stimmen laut. Das Mädchen sprang von der Bank hoch. Linnet Doyle und ihr Mann kamen den Steilpfad herunter. Linnets Stimme klang glücklich und selbstsicher. Sie sah auch nicht mehr so angespannt und verkrampft aus. Linnet war glücklich.

Jetzt ging das Mädchen vor der Bank ein, zwei Schritte auf sie zu. Die beiden blieben abrupt stehen.

»Hallo, Linnet«, sagte Jacqueline de Bellefort. »Hier seid ihr also! Wir scheinen uns ja dauernd über den Weg zu laufen. Hallo, Simon, wie geht’s dir denn?«

Linnet Doyle prallte mit einem kurzen Aufschrei zurück gegen den Felsen. Simon Doyles ebenmäßiges Gesicht war plötzlich wutverzerrt. Er schoss vor, als hätte er die schmale, mädchenhafte Gestalt am liebsten verprügelt.

Die rasche, vogelartige Drehung ihres Kopfes signalisierte, dass sie jemand Fremdes bemerkt hatte. Auch Simon drehte den Kopf herum, sah Poirot und sagte linkisch: »Hallo, Jacqueline, wir hatten nicht damit gerechnet, dich hier auch zu treffen.«

Es klang höchst unglaubwürdig.

Das Mädchen bleckte strahlend weiße Zähne. »Eine ziemliche Überraschung, hm?« Dann stieg sie, mit einem kurzen Nicken, den Steilpfad hinauf.

Poirot nahm dezent die entgegengesetzte Richtung, hörte im Gehen aber Linnet Doyle noch sagen: »Simon – um Gottes willen! Simon – was sollen wir denn machen?«

Der Tod auf dem Nil

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