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Kapitel 7

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Mittlerweile war die Sonne den Wolken gewichen und ein eisiger Wind strömte durch die verschneiten Straßen. Der Schneefall hatte wieder eingesetzt und eine Phalanx großer, samtig anmutender Schneeflocken hüllte die Luft in einen weißen Schleier.

Obwohl sein Weg nicht allzu lang war, hatte Liebig angesichts des Schneesturmes beschlossen, sich heute lieber ein Taxi zu nehmen. Auf den Straßen geht es zwar auch nicht schneller zu, aber immerhin komm‘ ich dann trockenen Fußes an. Nach kurzer Fahrt kam Liebig im Revier an. Treppe, Sicherheitsschleuse, halbherziger Gruß an die Kollegen, Durschreiten der langen Korridore, Betreten des Büros.

„Wenn haben wir denn da mal wieder? Lazarus persönlich … Wenn du dich hier noch einmal blicken lässt, werde ich dich einsperren müssen“, sagte Olson mit monotoner Stimme ohne aufzublicken. Ja, ein Feingeist ist er tatsächlich nicht.

„Referierst du jetzt schon auf biblische Figuren? Einen Hang zu Spiritualität hätte ich dir gar nicht zugetraut“.

„Natürlich, wer außer der Kirche sonst könnte mich noch erretten“, grinste Olson schelmisch.

„Für dich kommt sowieso jede Rettung zu spät. Außerdem hast du nicht einmal ansatzweise so viel Kohle, wie die Kirche es von dir als milde Gabe verlangen würde, um dir Absolution zu erteilen“. Es war beinahe wie in vergangenen Zeiten. Auf der einen Seite wünschte sich Liebig nichts sehnlicher als die alten Zeiten zurück, auf der anderen Seite verdammte er diese.

„Spaß beiseite. Hier geht’s grad wieder rund. Am Flughafen wurde vorhin eine Leiche gefunden. Schlimme Sache. Der Typ wurde ganz schön zugerichtet … Der Gerichtsmediziner hat sich gerade eben gemeldet. Der Kerl wurde erst erdrosselt, vermutlich mit einem Gürtel, und dann, ja dann kommt das Besondere: Der Täter hat das Opfer mit dem Kopf gegen die Wand geschlagen. Er brauchte Tinte … du verstehst, was ich meine?“.

„Nein, nicht wirklich“.

„Idiot. Es gab wieder eine Botschaft aus Blut. Sie prangerte blutdunkel am Spiegel. Hör zu“:



„Und bist du nicht willig, so brauch' ich Gewalt“



Olson sprach die Worte, als ob er Shakespeares berühmtes “Sein oder nicht sein“, rezitierte.

Liebig schnürte es die Kehle zu. Was eine kranker Scheiße. Das ist nicht gut …

„Wir wissen noch nicht genau, was dieser Irre uns sagen will. Vermutlich wieder ein Verweis auf eine Ballade … diesmal Goethe. Schau mal hier…“, Olson kramte in einem Chaos aus Papierblättern und Akten. Zum Vorschein brachte er ein unscheinbares Blatt. Auf dem Blatt: Strophen, zwei davon farblich unterlegt.



„Mein Sohn, was birgst du so bang

Dein Gesicht? –

Siehst, Vater, du den Erlkönig

nicht?

Den Erlkönig mit Kron‘ und

Schweif? –

Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif.“


„Die Jungs vom Profiling haben zwei Strophen markiert. Sie sagen, der Typ sieht sich als eine Art Illusion. Für andere Menschen unnahbar, nicht zu greifen. Er versteht sich wohl als jemanden, der über der Gesellschaft steht, über sie zu Gericht sitzt … und dabei allen Augen verborgen bleibt. Klassischer Fall von Allmachtsphantasie. Sie spekulieren, dass der Typ schon lange auf die Jagd geht. Aber das einfache Morden reicht irgendwann einfach nicht mehr aus. Wie bei einem Drogensüchtigen muss die Dosis erhöht werden, ansonsten gibt es keinen Kick mehr. Und wie sollte ein Mord noch gesteigert werden? Ja … deswegen will er mit uns spielen, uns Hinweise und Botschaften geben. Das verleiht seinen Taten den richtigen Rahmen“. Bei den letzten Worten ließ sein Kollege die Stimme zu einem kaum noch wahrnehmbaren Flüstern verflachen.

Liebig las noch die weitere markierte und zugleich letzte Strophe der Ballade.



„Dem Vater grauset’s; er reitet

geschwind,

Er hält in Armen das ächzende Kind,

Erreicht den Hof mit Mühe und Not;

In seinen Armen das Kind war tot.“



Oh Mann, das passt alles zusammen. Ein Dramatiker durch und durch. Wer, wenn nicht er sollte das getan haben. Liebig musste sich eingestehen, dass die Ähnlichkeit der Fälle einfach frappierend war. Er wusste, welch böser Geist in dieser Stadt sein Unwesen treibt. Und dass er nun anscheinend die richtige Zeit ausgemacht hat, sich einen gefürchteten Namen zu machen. Jetzt legt er richtig los.

„Aber was ist denn mit den Überwachungskameras. Ich mein‘, immerhin war das mitten im Flughafen“.

„Ja, dazu wollt‘ ich grad kommen. Der Gang, der zu den Toilettenräumen führt, ist vollständig überwacht. Allerdings zweigt von dem Gang eine Art Nische ab, die dann an den gegenüberliegenden Seiten jeweils Räume für Männlein und Weiblein hat“.

„Und? Was sieht man auf dem Gang?“.

„Da die Toilette ein wenig abseits des Getümmels liegt, schränkt sich die Anzahl Verdächtiger ein. Zur rekonstruierten Zeit des Todes gehen fünf Männer in die Nische, wir gehen hierbei von einem Zeitraum von zwanzig Minuten aus. Entscheidend ist natürlich derjenige, der unmittelbar nach dem Opfer hineingeht. Das wird unser Killer sein. Ein Kerl mit tief ins Gesicht gezogener Kappe geht exakt zehn Sekunden nach dem Opfer in die Nische und kehrt erst ca. fünf Minuten später wieder zurück. Auffällig ist, dass in der Zwischenzeit zwei weitere Männer die Nische betreten, anschließend aber direkt wieder auf dem Gang erscheinen. Das passt zu dem “Außerbetrieb-Schild“, das der Wachmann vor der Tür der Männertoilette gefunden hat“.

„Ich verstehe. Der Killer hat das Schild vor die Tür gestellt, um in Ruhe töten zu können. Aber was ist denn jetzt mit dem Typ? Erkennt man irgendwas?“.

„Vom Gesicht erkennt man rein gar nichts. Die Kappe hilft uns auch nicht weiter. Ein Standardteil, das zu Hunderttausenden verkauft wird. Unsere Bildanalyseexperten könne nur so viel sagen, dass der Typ etwa eins siebzig groß ist und um die siebzig Kilo wiegt“.

„Nicht sehr vielsagend, die Statue trifft auf Millionen Männer zu“.

„Aber immerhin ist es ein erster Anhaltspunkte. Toni sagt übrigens, es lässt tief blicken, welches Risiko der Typ eingeht. Am hellichten Tage, an einem Flughafen, im Wissen der Kameras, auf einer Toilette einen Mord zu begehen zeugt von purer Ignoranz gegenüber den Ermittlungsbehörden. Der glaubt nicht ansatzweise, dass wir ihn drankriegen können“.

Toni war der Chefanalyst des Profilingteams. Ein junger Uniabsolvent mit Topnoten und summa-cum-laude im Doktor.

„Seit wann gibst du was auf die Meinung der Profiler?“. Olson konnte dem Profiling nicht viel abgewinnen. „Hast du nicht gesagt, dass du das Ganze für überbezahlten Humbug hältst?“.

„Ich geb‘ nur Informationen weiter“. Ich hör‘ doch raus, wenn du an etwas glaubst, was du sagst. Liebig konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.

„Was weiß man über das Opfer?“.

„Das Identifizieren war diesmal nicht schwierig, immerhin wollte der Typ ja verreisen, hatte seinen Perso einstecken. Er ist ein gewisser Ernst Habmann. Fast vollkommen sozial isoliert, keine Freunde, keinen Kontakt zu seiner Familie, wovon sowieso nur noch der Bruder lebt. Der hat uns gesagt, dass sein Bruder ein notorischer Zocker war und ständig Pleite. Schlechte Spieler leben immer gefährlich …“.

„Das erste Opfer eine Drogensüchtige, der zweite also ein Spielsüchtiger“.

„Ja, da liegt die Gemeinsamkeit. Naja, wie dem auch sei. Die Zeitungen werden sich auf jeden Fall darauf stürzen, sobald sie davon erfahren. Und bei der Unterbezahlung hier wären solche Interna wahrscheinlich in einem Waschsalon besser aufgehoben“, konstatierte Olson.

Liebig wunderte das nicht und musste an die Strophen denken, die er schon gestern in der Zeitung lesen konnte. Die Leute hier waren eben klüger geworden. Wenn der Job dich schon vereinnahmt, dann sollte wenigstens ab und zu ein kleines Handgeld rausspringen. Auch wenn das nicht der Denkweise und Einstellung der alten Schule entsprach, konnte er es den “Neuen“ nur schwerlich verdenken. Zumindest so lange die Ermittlung ungefährdet blieb.

„Das sieht nach Arbeit aus. Aber es wird dich wahrscheinlich davon ablenken, wie kläglich dein Privatleben ist. Der Homeshopping-Kanal kann wahrscheinlich vorrübergehend dicht machen“.

„Haha, du Witzbold. Du wirst es nicht glauben, aber ich habe es tatsächlich geschafft, wieder eine Freundin zu finden, die mich auch länger als nur eine Woche erträgt“.

Liebig machte ein erstauntes Gesicht. „Muss ich ein Befreiungskommando zu dir nach Hause schicken, damit sie das arme Ding aus deinem Keller holen?“.

„Mach du ruhig deine Witze. Sie heißt Susanna und nein“, schob Olson schnell ein, „ich habe sie nicht aus einem Katalog. Vielleicht sollten wir mal was zusammen essen gehen“.

„Damit du dann eine Dame vom Eskort mitbringst?“.

Olson deutete einen Schlag in Liebigs Magengegend an, dann lachten beide.

„Ich freue mich für dich, dass du wieder jemanden gefunden hast, Nils. “.

„Achja und noch 'was. Wir konnten eine Obdachlose ausfindig machen, die offensichtlich mit dem ersten Opfer befreundet war. Die hat uns gesagt, dass das Opfer ihr vor einiger Zeit von einem neuen Freund erzählt hätte, der nicht auf der Straßen leben würde. Sie kann allerdings nicht ansatzweise sagen, wie lang das her sein soll. Und auch sonst scheint ihr Gedächtnis nicht mehr geölt zu sein. Sie meinte, dass Ratte ihr zwar viel von ihm erzählt hat, kann sich aber an den Inhalt überhaupt nicht mehr erinnern. Junkie halt". Olson zuckte konsterniert mit der Schulter.

„Das hilft auch nicht wirklich weiter. Vielleicht hatte sie ja noch weitere Freunde, Bekannte, aus denen sich mehr rausholen lässt. Aber Moment mal: Das könnte doch zumindest zur Botschaft passen. Du weißt schon, das mit dem Mädchen, das auf seinen zukünftigen Ehemann wartet. Die Botschaft wird ja in irgendeinem Zusammenhang zu dem Opfer stehen. Möglicherweise ist ihr neuer Freund der Ehemann, den sie sich verspricht. Aber ganz im Gegenteil stellt dieser sich als der Tod heraus!".

„Ja Sherlock, in die Richtung haben wir auch schon überlegt, hilft uns aber nicht viel, die Identität des Täters rauszubekommen".

Liebig rieb sich das Kinn. Ja natürlich, ich Dummkopf. Das ist ja auch der naheliegende Gedanke.

Liebig verabschiedete sich und schloss die Bürotür mit einem zwiegespaltenen Gefühl. Zwar wuchs in ihm das ergreifende Bedürfnis sich seinem Kollegen anzuvertrauen, jedoch wusste er andererseits, welche Konsequenz das für ihn bedeuten würde. Ich kann das Risiko nicht eingehen, zumindest noch nicht. Verdammt, ich bin in einem beschissenen Dilemma gefangen.

Während die Sonne die letzten Tage noch über den Himmel geherrscht hatte, hatte nunmehr ein regelrechter Schneesturm das Kommando am Steuerrad übernommen. Der Verkehr war dem Sturm zum Opfer gefallen, also zog Liebig es vor, den Heimweg zu Fuß anzutreten. Nach zwanzigminütigem Marsch durch den Schnee, der mehr einer Expeditionswanderung durch die Arktis als einem Gang durch die Stadt glich, erreichte er endlich das Mehrfamilienhaus, das er seit seinem Auszug sein zu Hause nennen sollte. Sollte, dachte er, was er aber nicht tat. Es fühlte sich falsch an, dies sein zu Hause zu nennen. Meine Heimat ist woanders … Er erklomm die Treppen hinauf durch den kargen Flur mit den bei unzähligen Umzügen gestoßenen Dellen in den Wänden, und schloss entkräftet die Tür zu seiner kleinen Wohnung auf. Manchmal musste er bei dem Betreten seiner Wohnung an das Öffnen eines kleinen Schubfaches in einem überdimensionalen Setzkasten denken.

Liebig ging geradewegs ins Schlafzimmer, streifte seine Klamotten ab und ließ sich müde ins Bett fallen. Kopfschmerzen machten sich bei ihm breit.



Gnadenwolf

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