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Prolog

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Vor vielen Jahren …

Die Abendsonne strich das im Wald versteckte Anwesen kupferrot, eine Brise wehte sanft durch die fein gestutzten Grashalme über den weitläufigen Rasen. Vogelgezwitscher drang aus den umliegenden Wäldern hin zu dem kleinen Eiland inmitten der Bäume … die Gartenanlage des Anwesens umschloss die Villa aus der späten Gründerzeit in einem nahezu idealen Kreislauf. Parallel zu der rückwärtigen Fassade erstreckte sich über die gesamte Länge der Villa ein Schwimmteich, der von schwarzem Marmor umgeben wurde. Vereinzelt zogen Blütenkelche ihre unsymmetrischen Bahnen, von Windeshand getrieben, durch das ruhige Wasser. Die farbenfrohen Schiffchen durchbrachen die Wasseroberflächenspannung ganz zart, lediglich ein vernachlässigbarer Teil ihres Bestandes verbarg sich dem Augenschein des Jungen unter der wässrigen Grenze.

Die meisten Menschen sind Kelchblüten, Kelchblüten auf einem weiten Meer. Die Allermeisten. Sie offenbaren sich den menschlichen Sinnen und verbergen lediglich einen verschwindend geringen Teil ihres Selbst. Äußerst wenige Menschen jedoch sind anders. Sie sind Eisberge. Sie geben nur einen minderen Teil ihres Ausmaßes preis und hüllen ihr wahres Wesen in die lebensfeindliche Schwärze des eisigen Meeres, wo es dem menschlichen Auge verborgen bleibt. Eisberge sind gefährlich. Sie täuschen über das, was sie sind. Der Eisberg treibt im Wasser und nur ein kleiner Teil durchsticht die Wasseroberfläche. Das bedingt die Dichteanomalie. Anomalien gibt es nicht nur bei Eisbergen. Doch anders als beim Wasser der Eisberge ist es hier keine naturgemäße Eigenschaft, sondern ein formreicher Prozess …

Der kleine Junge saß unter einem Sonnenschirm, ein Glas Limonade in der Hand und beobachtete den Gärtner beim Schneiden des Rhododendrons, der sich filigran um die gesamte Rasenfläche legte. Der emsige Mann war in der Entfernung für den Jungen nur noch als Miniaturausgabe zu erkennen. Als der Junge gerade nach dem Buch, „Mobby Dick“, auf dem Abstelltisch griff, läutete im Inneren des Hauses unmelodisch das Telefon. Sofort sprang er auf und lief über die Terrasse durch die Türöffnung hinein ins Haus. Er stellte sich dabei immer vor, ein Junge aus einem ferne Zeiten zurückliegenden Mär zu sein, der über die terrakottafarbene Zunge eines Riesen in dessen fauligen Schlund dringt.

Die abstrakten Figuren auf den abstrakten Bildern an den weißen Wänden starrten mit ihren angsteinflößenden Fratzen auf den durch den schmalen Gang eilenden Jungen hinab und streckten ihre widerwärtigen Glieder nach ihm. Doch sie würden ihn nicht packen, er war immer schneller als sie. Er lief vorbei an der schwarzglänzenden Skulptur, die ihn mit ihren vielen Fängen zu haschen schien.

Der Junge von zartem Alter nahm freudig erregt den Telefonhörer ab und drückte ihn gegen sein Ohr.

„Hallo?“, japste er von seiner Verfolgungsjagd noch außer Atem in den Hörer.

„Hallo Schätzchen, wie geht es dir?“.

„Mama, Mama“. Pause. „Du fehlst mir so! Wann kommt ihr zurück?“

„Das wird noch was dauern, Schätzchen. Du weißt doch, dass dein Vater und ich grade erst aufgebrochen sind. Kümmert sich denn das Hausmädchen nicht gut um dich?“, gab die kühle Stimme zurück.

„Doch, doch, aber …“

„Na siehst du, dann ist doch alles halb so schlimm. Außerdem kann ein Junge, der sich anschickt ein großer Mann zu werden, nicht früh genug selbstständig werden. Ich soll dich von deinem Vater schön grüßen. Ach ja, du weißt ja welcher Tag in drei Wochen ist. Wir werden dem Hausmädchen Bescheid geben, dass sie mit dir in die Stadt fahren soll und du dir alles aussuchen darfst, was dein kleines Herz begehrt. Alles“.

„Werdet ihr da sein?“

„Schätzchen, unsere Reise hat grad erst angefangen. Wir werden noch mindestens einen Monat unterwegs sein, das weißt du doch“.

„Ihr fehlt mir“

„Du uns auch Schätzchen, hab einen schönen Tag“.

Bevor der kleine Junge antworten konnte, dröhnte der enervierende Besetztton aus der Hörmuschel. Das Glitzern in den Augen war erloschen. Enttäuscht trottete er zurück nach draußen und nahm sein Buch wieder in die Hand. Es war sein Trost. Flucht und Heimat zugleich.

Am Geburtstagsmorgen thronte ein Berg Geschenke im Wohnzimmer, der beinahe bis auf die Höhe der Galerie ragte. Die einfallenden Sonnenstrahlen wurden von den glitzernden Geschenkepapieren reflektiert und erweckten den Eindruck eines Christbaums. Der Junge lief die gewundene Treppe hinunter ins Wohnzimmer, stoppte vor dem Geschenkeberg auf dem kalten Marmor und umrundete die strahlende Anhäufung im Laufschritt. Mit jedem Schritt, der ihm dem dreihundertsechszigsten Grad näher brachte, wich seine Hoffnung. Als er die Runde beendet hatte, stieg die ernüchternde Gewissheit in ihm auf und schlug eine tiefe Kerbe. Seine Eltern waren tatsächlich nicht gekommen.

Es kam die Zeit, da offenbarte sich dem Jungen der Decodierungsschlüssel für die vielen “Schätzchen“. Und entgegen des sehnlichsten Wunsches des Jungen, dass sich ihre Lebenswege vereinen, sahen seine Eltern einen anderen Kurs vor: Zwei parallele Wege, die sich niemals treffen würden. Jahr um Jahr verstrich, Schlag um Schlag traf in die Kerbe. Mit jedem vergangenen Geburtstag sah der Heranwachsende seine Eltern weniger.

Dann eines Morgens, der Junge war mittlerweile vierzehn Jahre alt, lag auf dem langgezogenen Esstisch, der einer Tafel glich, ein unscheinbarer Briefumschlag auf seinem Platz. Der Knabe ergriff eilig das Kuvert und las den Absender. Er war von seiner Mutter, gesandt vom anderen Ende der Welt. Wieder funkelten seine Augen. Er riss den Umschlag an der Querseite auf, entnahm das Schreiben und faltete es ungeduldig auf. Zart erhoben sich die dünnen Härchen auf seinen Armen, als er die ersten Zeilen las. Er konnte es nicht fassen: Seine Eltern schickten ihn weg … nach England auf ein Internat. Dort solle er "eine hervorragende Ausbildung“ genießen und die Umgangsformen lernen, die „es sich ziemt“ an den Tag zu legen. Feine Perlen glitten von der Wange des Jungen auf das Papier in seiner Hand, tauchten es beim Auftreffen in konzentrischer Entfaltung in dunkle, feuchte Flecken.

Und wieder verstrichen die Jahre. Ein Telefonat am Geburtstag, ein Telefonat an Weihnachten. Während die anderen Internatsschüler mindestens zweimal im Jahr ihre Familien besuchten, verbrachte er das ganze Jahr im Internat, einer altwürdigen Burg an der Nordwestküste Englands. Oft streifte er durch die einsamen Weiten des Landes, vorbei an der Küste oder über weite Felder, unter wolkenverhangenem Himmel, den die Sonnenstrahlen nur selten zu durchbrechen vermochten. Er liebte den Kontrast des satten Grüns der Wiesen und der Schwärze des dunklen, tobenden Meeres unterhalb der Küsten.

Es war wieder ein verregneter Nachmittag, da kam der Anruf. Es war weder sein Geburtstag noch war es Weihnachten … Er stand damals an der windigen Steilküste und beobachtete mit feinen Augen das Spiel der Seemöwen. Der Wind zerzauste sein Haar. Er hatte das Gefühl die Gischt des eisigen Meeres, das mit urgewaltiger Kraft gegen die Küste ankämpfte, in seinem Gesicht zu spüren. Die zerklüftete Felsenformation zu seinen Füßen zeigte ihre spitzen Zähne. Sie wollte ihn verschlingen. Und er wollte es auch. Der mittlerweile junge Mann schritt so weit an den Abgrund heran, dass seine Schuhspitzen den sicheren Untergrund verließen. Er schloss die Augen und lehnte sich nach vorne … ein schriller Schrei übertönte den Sturm. Der hochfrequente Ton schoss durch die Winde und bohrte sich tief in den Gehörgang des jungen Mannes, der sich erschrocken aus seiner Trance riss und rückwärts taumelte, auf den sicheren Boden. Seine Lehrerin für Etikette rannte auf ihn zu und schlug ihm mit der flachen Hand hart ins Gesicht.

Als sie wieder im Internatsgebäude angekommen waren, führte die Lehrerin ihn zu einem Telefon, mittels dessen die ganze Zeitlang eine Verbindung aufrechterhalten worden war. Er führte den Hörer zum Ohr.

„Ja?“, sprach er schüchtern.

„Hallo, Junge! Hier ist dein Vater“. Wenn der junge Mann sich auch nur noch schemenhaft an dessen Aussehen erinnern konnte, so war die tiefe Reibeisenstimme doch sehr vertraut. „Junge, deine Mutter ist gestern gestorben, sie hatte einen Autounfall“. Kurz, prägnant, emotionslos.

Danach: Rauschen. Der junge Mann konnte sich an nicht mehr erinnern. Simultan in dem Moment des zuletzt ausgesprochenen Wortes rissen Seele und Herz einfach so auseinander. Es gab keinen Knall und auch keine Explosion. Es war vielmehr ein leises Reißen, nicht lauter als der Flügelschlag eines Schmetterlings. Die Liebe zu seiner Mutter war zwar eine des Hasses, aber eben auch eine die ein Sohn für seine Mutter empfand gewesen.

Er weinte keine einzige Träne. Er wollte weinen, doch er konnte nicht. Die schwärzesten Tage seines Lebens folgten. Doch als er das kurze Trauertal durchschritten hatte, fühlte er etwas in sich, was ihm bisher unvertraut war. Eine Kraft, die seine Selbstzweifel und innere Zerrissenheit auf eine merkwürdige Weise zu bekämpfen schien. Er spürte, wie Stück für Stück der Last abfiel, die jeden einzelnen seiner Knochen beugen konnte. Sein Weltbild begann sich in Zähfluss zu entzerren. Es brauchte nicht lange für seine Entscheidung. Der Prozess, der in ihm eingesetzt hatte, war ohnehin nicht mehr aufzuhalten. Er würde nach Deutschland zurückkehren. Aber nicht als derjenige, als der er seine Heimat verlassen hatte. Das schwor er sich …












Gnadenwolf

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