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Kapitel 13

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Liebig blickte sich um. Wenn schon der Anlass kein schöner war, so war doch wenigstens der Rahmen ein angenehmer. “Die Runde“ hielt ihre wöchentlichen Treffen in der Praxis von Hoffmann ab. Die Praxis war, ganz wie sein Anwesen, ein geschmackvoller und gemütlicher Ort, bediente voll und ganz das Bild einer Psychologenpraxis, die wenig mit der einer gewöhnlichen Arztpraxis gemein hatte. Die Wände des großzügigen, mit hoher Decke gestalteten Therapiezimmers waren mit Ölgemälden gesäumt. Davor gesellten sich, wie an einer Perlenkette aufgereiht, Büsten antiker Philosophen aus Alabastergips auf einem dicken Perserteppich. Zwischen Denkern wie Aristoteles, Sokrates und Plato lässt es sich anscheinend besser therapieren … Der Geist der großen Denker eben. Liebig glaubte zwar nicht an Hokuspokus wie Fengshui, aber er konnte die harmonische Wirkung dieses Raumes nicht verleugnen.

Ganz klischeegetreu saßen die Teilnehmer in einem Stuhlkreis, der unter der Schirmherrschaft von Hoffmann moderiert wurde. Viele Gesichter kannte er nicht mehr. Wie in meinem Leben ist auch hier die Fluktuation die einzige Konstante. Er wurde reumütig. An diesem Ort hatte das Schicksal damals seinen verhängnisvollen Lauf genommen, als er noch im festen Glauben daran war, sein Leben würde bald ein jähes Ende nehmen. Dahingerafft von einer hinterhältigen Krankheit, gegen die kein Kraut gewachsen schien. Doch wie so häufig: Erstens kommt es anders, und zweitens als man denkt. Und nun? Ja, nun steht ich vor meinem eigens verursachten Scherbenhaufen.

Hoffmann richtete das Wort an die Gruppe und begrüßte jeden persönlich. Die Gruppe war nicht sehr groß, bestand lediglich aus neun Personen, vornehmlich Männern. Hoffmanns Konzept baute darauf die Menschen, die in dem facettenreichen Feld möglicher Lebensprobleme gefangen waren, miteinander zu vernetzen. Neben Junkies unterschiedlichster Süchte bildeten die schwer Erkrankten die zweite elementare Untergruppe. Sie alle einte jedoch eins: Depressionen und Lebensverdrossenheit. Die Menschen, die überwiegend auch Patienten von Hoffmann waren, stammten aus allen Gesellschaftsschichten. Liebig rechnete es Hoffmann hoch an, dass er auch sozial und finanziell schlechtgestellte Personen aufnahm, deren Kostenbeitrag von einer Stiftung Hoffmanns getragen wurde.

Zäh flossen die Minuten dahin. Liebig hatte die Gruppentherapie noch nie gemocht, geschweige denn für sinnvoll erachtet. Beweggrund für seinen Besuch war allerdings auch hauptsächlich ein anderer. Er war zwar gewillt, den Raben als ständigen Gast aus seinem Kopf zu vertreiben, vielmehr noch wollte er aber nicht mehr hilflos seinem Schicksal ausgeliefert sein und wusste, dass die Zeit gekommen war zu handeln. Ich habe einen Ansatzpunkt. Und der ist Calvin.

Am ersten Tag eines neuen Mitgliedes war es üblich, sich vorzustellen und seine Probleme vor der Gruppe zu erläutern. Also biss auch Liebig in den sauren Apfel und schilderte den Übrigen sein Leid, versucht, seine Widerwilligkeit bestmöglich zu verschleiern. Die anderen hörten halbherzig zu, aus dem Augenwinkel nahm Liebig ab und an ein aufmunterndes Kopfnicken Hoffmanns wahr. Als der Kelch dann endlich durch seine Hände gegangen war, sank er wieder zurück in den Stuhl und wartete ungeduldig auf das Ende der Sitzung.

Nachdem Hoffmann die Gesprächsrunde dann nach fast zwei Stunden Seelsorgerei endlich schloss, erhoben sich die Mitglieder müde von ihren Stühlen und verharrten deplatziert im Raum, als warteten sie auf weitere Anweisungen. Liebig hingegen steuerte einen dünnen Mann an, der ihm den Rücken zuwandte und mit hinter dem Rücken verschränkten Händen interessiert eine Nachbildung van Goghs berühmter Sternennacht beäugte. Liebig gesellte sich in gleicher Haltung neben ihn, ohne in anzublicken.

„Beeindruckendes Bild“.

Der Mann begann geistesabwesend zu flüstern, ohne sich zur Seite zu drehen, ohne die Wimpern niederzuschlagen. „Ich mag die wilde Strichführung“. Er neigte den Kopf etwas. „Und die ineinanderfließenden Farben. Das Wirre an dem Bild gibt mir Ruhe“.

Wirres gibt Wirren Halt. Wen wundert’s? Aber in der Tat. Das Bild scheint weniger Gemälde als bewegtes Bild zu sein. Die Sterne scheinen über den Nachthimmel zu fliegen. Man kann ihnen beinahe über das Firmament folgen.

„Magst du die Farben?“.

Der andere Mann nickte eifrig. Liebig legte ihm die Hand auf die Schulter.

„Calvin, wie geht’s dir?“.

Erst jetzt schien Calvin die Anwesenheit Liebigs richtig zu begreifen. Er drehte sich und sah zu ihm auf. „Andreas … schön dich zu sehen“. Der zierliche Mann schien zerbrechlich wie eine historische Mingvase. Selbst seine Worte schienen brüchig und schüchtern.

„Hast du kurz zwei Minuten?“, fragte er Calvin und deutete mit dem Kopf in Richtung des Ausgangs. Nach hastigem Kopfnicken folgte er Liebig und die beiden verschwanden durch den Flur hinaus, aus dem eine Seitentür in die eisige Nacht führte. Die beiden standen sich auf dem schneeüberzogenen Boden in einer kleinen Seitengasse gegenüber. Beidseits türmten sich nasse Backsteinwände auf.

„Calvin, hör gut zu, ich brauche deine Hilfe. Es ist wirklich dringend. Du weißt noch, welchen Namen du mir vor einiger Zeit gegeben hast, um …“, Liebig rang nach Worten, „ … um mein Problem zu lösen“.

Calvin starrte Liebig mit großen Augen an. „Ja, natürlich. Aber wie soll ich dir helfen?“.

„Ich brauche Informationen über diesen jemand, ich muss ihn ausfindig machen“.

„Andreas, ich weiß doch auch nicht mehr … “. Die letzte Silbe verstummte in einem erstickenden Laut. Liebig hatte beide Hände fest um den Hals von Calvin gelegt, der die Augen nun noch weiter aufgerissen hatte, im vergeblichen Versuch den festen Griff zu lösen. Liebig war zwar von der Krankheit geschwächt, aber er verspürte jeden Tag, wie seine Körperkraft langsam zurückkehrte.

„So, wir sprechen jetzt mal Klartext. Wer hat dir von der Sache mit der Annonce erzählt?!“, flüsterte Liebig emotionslos im konspirativen Ton.

Keine Antwort. Nur paraverbales Röcheln. Er drückte die Luftröhre noch ein Stück weiter zu. Die gesunde Gesichtsfarbe wich langsam einem bläulichen Teint. Liebig merkte, dass Calvin etwas sagen wollte und reduzierte die Krafteinwirkung.

„Ich habe den Tipp von einem alten Gruppenmitglied. Ich kenn‘ nur seinen Vornamen: Elias“, keuchte Calvin und glotzte Liebig weiter fassungslos an. Das hatte er nicht erwartet.

„Ich will den Nachnamen“. Der Griff wurde wieder enger.

„Ich schwöre … Ich kenn‘ nur den Vornamen. Du weißt doch, dass hier niemand seinen Nachnamen nennt, nur Vornamen … Bitte. Er war auch krebskrank, krebskrank, das weiß ich noch“.

Liebig brachte die Schraubzwänge bis in den Anschlag. Er konnte die Adern auf seinen Händen heraustreten sehen. Kommt da noch was? Calvin glotzte weiterhin schockiert. Als er keine Anstalten machte noch etwas preiszugeben, ließ Liebig von ihm ab. Calvin sank entkräftet zu Boden in den Schnee und prustete laut. Der kleine Mann hielt seine Hände abwehrend über den Kopf. „Bitte … nicht weiter, bitte hör auf. Ich weiß doch nichts“. Dann schluchzte er laut.

Scheiße, was machte ich hier eigentlich? Liebig starrte ungläubig auf seine Hände, erschrocken von sich selbst. Calvin nun dort auf dem Boden kauernd zu sehen, war kein schöner Anblick. Es war, als hätte ihn jemand anders gesteuert, seine Hände an Calvins Kehle geführt … der skrupellose Überlebensinstinkt? Eigentlich mochte Liebig Calvin sogar. Er sah immer so verträumt aus, wenn Hoffmann seine Reden hielt. Als befände er sich in einer ganz anderen Welt. Und mit seiner Krankheit ging es dem armen Kerl ohnehin schon schlimm genug. Manie und Schizophrenie, mit dem Intellekt eines Jugendlichen.

„Hey Calvin, tut mir leid. Ich weiß auch nicht, was in mich gefahren ist“. Als Liebig seine Hand ausstreckte, um Calvin hoch zu helfen, zuckte dieser zusammen. „Schon gut, alles ist gut“. Liebig half ihm wieder auf die Beine und klopfte den Schnee von seiner Hose.

„Alles wieder gut?“, nahm Calvin die Worte von Liebig auf.

„Ja, komm, geh wieder rein. Ich mach mich jetzt schon mal aus dem Staub“.

Calvin erhob sich vom Boden, wie ein Kitz, das erstmals auf die Beine kommt, und ging zurück zur Tür, während er ängstlich über seine Schulter zu Liebig sah. Er versuchte ein gutmütiges Gesicht zu machen und zwang sich ein beschämtes Lächeln ab.

Auf dem Heimweg überlegte Liebig sein weiteres Vorgehen. Elias und krebskrank. Das ist wenigsten schon mal ein Ansatz, damit kann ich arbeiten. Aber jetzt brauch' ich die Hilfe von Hoffmann, sonst hilft auch der Vorname nicht weiter. Im Hausflur angekommen, öffnete er seine Schubladenwohnung und legte sich auf direktem Weg ins Bett.



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