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Kapitel 4

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Tempus fugit-

Er weiß nicht, dass ich ihn beobachte. Das wissen sie nie. Die Menschen vermögen selten das Offensichtliche zu erkennen. Ich muss diesen Ignoranten zu Gute halten, dass ich viele Gesichter habe. Der Mensch lässt sich zu gerne von Ablenkung und Verkleidung in die Irre führen.

Wenn ich sie verfolge, verleiht es mir das erregende Gefühl von Macht. Aber … ich sehe mich nicht als Voyeur. Ich bin viel mehr als das. Ich bin der Engel, der auf sie niederfährt. Ich nehme mich ihrer an. Ein Schelm, der mich für einen bösen Menschen hält.

Ich kann den Dampf seines Kaffees sehen. Ich kann den Geruch seines Kaffees riechen, das Knittern seiner Zeitung hören. Ich stelle mir sogar vor seine Gedanken lesen zu können. Er sieht nicht mehr aus wie an dem Tage, an dem er sich an mich wandte. Aber das stört mich nicht. Ich bin eine bescheidene Persönlichkeit. Seine Uhr tickt. Seine Zeit läuft ab. Es ist nunmehr fast ein Jahr her, seitdem sein Gesuch mich ereilte. Besser gesagt: Seitdem ich ihn dazu brachte ein Gesuch an mich zu richten. Aber auch sonst lehne ich selten ein Gesuch ab. Ich bin ein guter Mensch. Ein guter Mensch, der anderen hilft. Ich erfülle pflichtbewusst meinen Dienst an der missratenen, von Derbheit durchzogenen Menschheit. Und verlange dafür allzu wenig. Doch er ist mehr als jeder andere zuvor, er ist so viel mehr …

Er richtet sich auf, dreht sich um und blickt mir direkt in die Augen. Dies sind die Momente, die mir Erfüllung schenken. Die Möglichkeit bei meinem Treiben entdeckt zu werden, gibt mir ein unerreichbares Hochgefühl. Aber ich weiß, er wird mich nicht erkennen. Auf seinem Gesicht zeichnen sich die markanten Wangenknochen ab. Er hat viel Gewicht verloren. Seine Augen scheinen trüb. Doch eines passt nicht ins Bild: Seine aufrechte Körperhaltung. Menschen, die von mir erlöst werden wollen, haben für gewöhnlich ein eingefallenes Rückgrat. Nicht so dieser. Er verlässt das Café und ich folge ihm noch ein paar Schritte durch die beißende Kälte. Ich gehe nur ein paar Meter hinter ihm. Ich weiß, wo er wohnt, wie oft er seine Wohnung verlässt, wohin er geht. Ich kenne ihn. Aber für nun verliert er seinen Schatten. Ich habe anderes zu tun, bin ein geschäftiger Mann. Aber er wird nicht lange auf meine Gesellschaft verzichten müssen.

Tick tack, Objekt meiner tiefsten Begierde. Die Zeit fliegt. Und deine ist bald zu Ende.



Gnadenwolf

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