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Kapitel 3

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In seine Gedanken vertieft verließ der Mann das Café. Die Sonnenstrahlen verwandelten die von Schnee und Eis bedeckte Straße vor ihm in ein Meer aus lumineszierenden Eiskristallen. So viel Schnee hatten wir schone lange Zeit nicht mehr. Sein Weg durch die winterlich anmutende Landschaft, vorbei an der sonst so grauen Tristesse der Häuserfronten führte ihn jedoch schnell zu seinem Ziel. Er betrat das mit der spiegelnden Fensterfront versehene Gebäude, das ihm nach dem Öffnen der Sicherheitsschleuse den Zugang in sein Innerstes gewährte. Bedächtig schritt er durch die hellen Fluren. Durch jene Flure, die er so oft durchlief. Wie er diese Zeiten gleichzeitig vermisste und doch verfluchte.

Hier und da senkte er zum Gruß seinen Kopf, bis er schließlich an dem Büro angelangte, dessen Tür auch seinen Namen aufwies: Andreas Liebig. Ohne zu klopfen trat er über die Schwelle und sah in das Gesicht seines Kollegen.

„Du schon wieder?! Dein Kontrollwahn bringt dich noch eher ins Grab als dein Krebs! Gib ihm doch auch eine faire Chance“. Kopfschüttelnd blickte sein Kollege ihm in die Augen.

„Wenn ich nicht penibel darauf achten müsste, dass du keine Fehler begehst, säße ich dir wahrscheinlich schon wieder gegenüber“, konterte Liebig.

„Was sagt der Onkel Doktor?“.

„Ich bin weiter auf dem steilen Weg der Besserung“. Liebig grinste und zwinkerte seinem Partner zu.

Sein Kollege, Nils Olson, war das das stereotype Bild eines Schweden … und bis auf den Krebs, einte sie dasselbe Schicksal. Ihre Tätigkeit in der Mordkommission hatte die Zeit verschlungen. Jaja, die erstaunliche Macht des Gehirns, gewisse Erscheinungen mit Erinnerungen und Gefühlen zu koppeln. Immer, wenn Liebig nach längerer Zeit auf Olson traf, machte er dieselbe Gefühlswanderung durch. Er musste an die schönen Dinge denken, die Feiern in ihrer Stammkneipe, die gemeinsamen Verhaftungen und Ermittlungserfolge, die Freundschaft. Aber dann ging es hinab. Von hundert auf null, vom euphorischsten Hochgefühl in schwarze Leere. Das alles hat mich meine Familie gekostet. Ich verstehe immer noch nicht, wie ich so blind sein konnte. Zeit für andere, ist das wertvollste, was wir schenken können. Und ich habe es nicht kommen sehen, war von falschem beruflichem Ehrgeiz geblendet.

Als seine Frau sich dann von ihm trennte, war es für ihn ein eiskalter Schlag ins Gesicht gewesen. Wie das passieren konnte? Er kannte nun die Antwort und sie brannte jeden Tag lichterloh schmerzend in seiner Seele ... Es war die vereinnahmende, verdammte Arbeit.

Viele Tage, Wochen, Monate vergingen. Liebig hatte sie damals nicht gezählt. Sie waren für ihn bedeutungslos geworden. Jeglicher Kontaktversuch zu seiner Frau scheiterte. Dann kam der Tag, an dem ihm bewusst wurde, dass das gnadenlose Schicksal ein makabres Spiel mit ihm spielt. Es fing damit an, dass er sich körperlich geschwächt fühlte, dann musste er sich häufig übergeben, ständige Kopfschmerzen plagten ihn. Als Liebig eine Woche nach dem Arztbesuch den Anruf über die Ergebnisse seines Bluttests mit dem niederschmetternden Befund erhielt, machte sich ein betäubendes Gefühl in seinem Körper breit.

Wie paralysiert saß er damals tagelang in seiner dunklen Wohnung, gedankenlos wartend auf sein Ende. Er hatte beschlossen seine Familie über seinen gesundheitlichen Zustand nicht aufzuklären. Liebig verließ seine Wohnung nur noch für die Chemo. Obwohl sein Lebenswille den Kampf mit dem Tod schon vor langer Zeit verloren zu haben schien, hatte er sich für die Therapie entschieden. Motor dieser Überlegung war allerdings nicht die Hoffnung auf das Leben, sondern der Schmerz. Er wollte die Selbstgeißelung. Er wollte sich für seine jahrelange Apathie dem gegenüber, was sich direkt vor seinen Augen abspielte, bestrafen.

„Huhu, Andreas“. Olson riss Liebig aus seinen Gedanken.

„Was? Oh ja, tut mir leid“, Liebig wischte sich über die Stirn, „in letzter Zeit bin ich manchmal etwas geistesabwesend“.

„In letzter Zeit?“. Olson stieß einen Luftschwall aus.

„Was ist das für eine Sache? Das mit der Blutbotschaft“, lenkte Liebig das Gespräch auf den makabren Fund.

Olson stockte kurz. „Diese beschissen Käseblätter".

„Ja, die böse Presse. Nein jetzt mal im ernst. Was ist da los?".

„Frag mich Einfacheres. Wir wissen noch nichts Genaues, alles sehr vage. Wir sind aber mittlerweile sicher, dass die Botschaft auf die Ballade Silvesternacht von Fontane verweist. „Aber …“, lachte Olson höhnisch, „selbst die Deutungen der Ballade sind nicht unumstritten. Es geht um ein junges Mädchen, das einer alten Sage folgt. Hiernach offenbart sich einem jeden Mädchen der zukünftige Ehemann, wenn es in der Silvesternacht um Mitternacht den Essenstisch für zwei deckt. Als die Uhr dann zwölf Uhr schlägt, bekommt es das Mädchen allerdings mit der Angst zu tun. Aber da ist es auch schon zu spät und jemand hat sich zu ihr gesellt. An dieser Stelle schließt sich die Strophe an, die der Spinner uns hinterlassen hat. Am Ende ist das Mädchen tot. Der Gast, der ihr zukünftiger Ehemann sein soll, ist nach landläufiger Auffassung der personifizierte Tod. Er holt sich das Mädchen … Was ist mit dir Andi, du bist ja ganz blass geworden? Wirst du auf deine alten Tage noch sensibel?“.

„Nein, nein. Das sind nur die Medikamente“.

Kalter Schweiß legte sich auf seine Stirn. Ist er das? Mein Teufel? Möglich? Wahrscheinlich? Sicher? Liebig konnte die Lage nicht einschätzen, was allerdings seiner aufsteigenden Angst nicht abträglich war.

„Die Tote konnte bisher nicht einmal identifiziert werden, hatte keinen Ausweis bei sich. Und wird anscheinend auch nicht vermisst, wir haben’s mit den bekannten Vermisstenmeldungen abgeglichen. Nicht selten bei Junkies. Die anderen Halbtoten im Park haben ausgesagt, dass sie “Ratte“ genannt wurde. Hatte wohl immer so einen verlausten Nager dabei. Und sie lebte auf der Straße. Wer soll sie also auch schon vermissen?“.

Erst jetzt fiel Liebig auf, dass er die ganze Zeit den Mund geöffnet hatte.

„Wirklich alles in Ordnung?“.

„Jaja doch. Mach dir mal keine Sorgen. Oder sollte ich sagen, Hoffnung? Auf ein alleiniges Büro vielleicht?“.

„Das wäre schon was Feines“, lachte Olson.

„Da musst du dich aber nicht etwas gedulden. Wie geht’s eigentlich dem Chef?“.

„Ach, knurrig wie eh und je. Aber in letzter Zeit war hier nicht viel los, das hat ihn ein bisschen sanftmütig gestimmt. Wollen wir mal hoffen, dass es auch dabei bleibt … und diese wirre Bluttat das Werk eines kleinen Psychos ist, dem nur einmal kurzzeitig die Sicherungen durchgebrannt sind“.

„Das hoffe ich auch“.

„Na dann kann ja nichts mehr schiefgehen. Du, ich muss jetzt weiter machen. Während du zu Hause krankspielst, muss ich hier deine ganze Arbeit übernehmen, also sieh zu, dass du hier bald wieder auftauchst!“.

„Eher als dir lieb ist!“.

Liebig verließ das Büro und ging den umgekehrten Weg zurück in die Kälte. Er brauchte jetzt erst einmal Zeit zum Nachdenken. Zeit für sich. Wenn Nils nur wüsste, welch gewaltiger Sturm in mir tobt.

Nachdem er zwanzig Minuten gegangen war, kam er in den Park, in dem in der Nacht die Leiche der jungen Frau gefunden wurde. Vor ihm tat sich eine riesige, weiße Fläche auf, deren elliptische Form an den Seiten von kahlen Bäumen gesäumt wurde. Der junge Polizist, der am Eingang postiert war, ließ Liebig nervös passieren. Liebig sah es schon von hier. In einiger Entfernung wogte das polizeiliche Flatterband sanft in der Luft. Dahinter arbeiteten immer noch die Männer von der Spurensicherung. Er presste die Luft aus seinen Lungen und ging durch den plattgetretenen Schnee hinüber. An der Stelle angelangt, stellte er sich vor die Absperrung, vergrub seine Hände in den Jackentaschen und sah in den Schnee vor der Parkbank herab. Die Blutspritzer waren immer noch zu sehen. Er spielte in Gedanken durch, was hier gestern Nacht abgelaufen war, stellte sich vor, wie der Mann mit der Maske hinter einem der Bäume aus dem Schatten hervortritt, sich von hinten heranschleicht, seinem Opfer die Kehle durchschneidet, seine Finger in der Blutlache tränkt und in aller Ruhe die Zeilen schreibt. Immer und immer wieder spielte er den Vorgang in seinem Kopf durch, manchmal sah er sich selbst in seinen Gedanken auf der Bank sitzen.

Liebig beobachtete die Spurensicherung noch eine Zeitlang bei ihrer Arbeit, bis die Dämmerung einsetzte. Er ging den Weg aus plattgetretenem Schnee wieder zurück und machte sich auf den Heimweg. Als er den Park verließ, hörte er die mahnenden Worte der Kirchenglocken.


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