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Kapitel 11

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Schrilles Läuten. Schlaftrunken schlug Liebig nach dem Wecker. Nach einer weiteren unruhigen Nacht wollte er einfach noch nicht Morpheus‘ Armen entgleiten. Doch der gellende Lärm wollte nicht abklingen. Erst dann sah er, dass ihn nicht der Wecker, sondern sein läutendes Handy aus dem Schlaf gerissen hatte. Er nahm das Handy zur Hand.

„Wer da?“, säuselte er gequält ins Handy.

„Schau aufs Display, du Idiot“.

Ein Moment der Stille. „Hm, danke. Aber das kann ich mir sparen. Dein liebliches Stimmchen ist unverkennbar. Was willst du so früh?“.

„Ganz ruhig Sonnenschein. Ich habe dir doch versprochen mich zu melden, sobald es was Neues gibt. Unserer spezieller Freund hat heut‘ Nacht wieder sein Unwesen getrieben. In einer kleinen Wohnung im Ostviertel der Stadt wurde wieder eine Männerleiche gefunden. Durchtrennte Kehle“.

„Wie kommt ihr darauf, dass er das war?“.

„Ganz einfach: Schau‘ dir das Bild an, was ich dir gesendet habe“.

Wortlos beendete Liebig das Telefonat und öffnete das übersandte Bild auf seinem Handy. Seine Hände wurden schlagartig schweißnass.

Vor seinen Augen zeichnete sich ein düsteres Bild ab: Ein korpulenter Mann lag in unnatürlicher Weise verkrümmt auf dem Sofa. Das Blut aus der Wunde an der Kehle hatte alles in ein durchdringendes Scharlachrot getränkt. Dann fiel sein Blick auf die Wand. „Ohja, das ist eindeutig unser Freund“, murmelte er leise vor sich hin.


„Mene mene tekel u-pharsin“


Unter jedem einzelnen der Buchstaben verlief eine getrocknete Blutspur. Die weiße Wand, auf der sich die mysteriösen Worte abzeichneten, tat das Übrige und sorgte für den richtigen Kontrast. Hastig tippte er auf seinem Handy und hielt es sich wieder ans Ohr. Er hörte seinen eigenen Herzschlag, tief im Ohr. So als ob sein Herz nicht in seiner Brust, sondern eine Etage weiter oben angestammt wäre.

„Das passt. Das ist er. Aber was soll dieses Kauderwelsch bedeuten?“.

„Ich hab’s einfach mal ins Blaue hinein gegooglet. Mene mene tekel u-phrasin ist ein Referenz auf eine Erzählung im Alten Testament. Aber jetzt pass auf: Viele Jahrhunderte später verfasste Heinrich Heine eine Ballade über besagte Erzählung. Dieser Verrückte hat ein verdammtes Faible für Balladen. Die Erzählung handelt davon, wie der blasphemische König Belsazar, König von Babylon, von Gott bestraft wird, nachdem er Gott verhöhnt, indem er aus einem Kelch trinkt, den sein Vater Nebukadnezar II. aus einem Tempel in Jerusalem geraub...“.

„Ja und weiter? Wir sind hier nicht in irgendeinem beschissenen Hollywood-Blockbuster. Spar‘ dir die Spannung und komm auf den Punkt“, unterbrach er seinen Kollegen ungeduldig.

„Jaja schon gut, Moment. Ich zitiere:


„Und sieh! Und sieh! An weißer Wand

Da kam’s hervor wie von Menschenhand;

Und schrieb, und schrieb an weißer Wand

Buchstaben von Feuer, und schrieb und schwand.“

„Und das Kauderwelsch sind dann die Worte, die der biblischen Erzählung nach geschrieben wurden. Ende der Geschichte ist, dass König Belsazar von seinen Knechten umgebracht wird“.

„Dann sag mir jetzt bitte, dass du auch schon weißt, was der Schwachsinn übersetzt bedeutet“.

„Diese Lösung, mein wissbegieriger Freund, liefert die gute alte Bibel gleich mit: Es bedeutet wohl so viel wie: Deine Tage sind gezählt, du wurdest gewogen und für zu leicht befunden, und dein Königreich wird zerteilt. Toni hat auch schon wieder seine qualifizierte Meinung kundgetan“, sagte er, nicht ohne das Wort “qualifizierte“ in die Länge zu ziehen und ihm somit eine mehr als ironische Note zu versetzen.

„Er ist skrupellos, ein selbstgerechter Narzisst auf Kreuzzug gegen das Leben im Namen einer zweifelhaften Moral. Silvester, Erlkönig und Belsazar, wohl alles Allegorien. Der Gerichtsmediziner hat auch bestätigt, dass das erste Opfer um Mitternacht, wie in der Silvester-Ballade, getötet wurde. Das dritte Opfer hat dem Kerl wahrscheinlich irgendetwas gestohlen. Etwas, das ihn sehr erzürnt hat, wie König Nebukadnezar II., Vater des Belsazar. Nun ja und wir vermuten, dass das zweite Opfer vor der drohenden Gefahr flüchten wollte und deswegen am Flughafen gefunden wurde, in der Tasche ein One-Way-Ticket nach Neuseeland. Das Opfer war nicht willig, also holte er es sich eben mit Gewalt, wie der Erlkönig.“

„Kann gut sein … Mein Kopf dröhnt. Nach deinem Überfall zur unchristlichen Zeit brauch‘ ich jetzt erst einmal eine Dusche und einen Kaffee. Ich melde mich später. Ach ja, und danke“.

Liebig ließ seinen Kopf zurück ins Kopfkissen fallen, streckte seine Arme im rechten Winkel vom Körper ab und blickte an die Schlafzimmerdecke. Ein grober Riss teilte sie in zwei. Vielleicht sollte er auch dies noch als mögliche Todesursache auf seiner langen Liste vermerken: Tod durch Deckeneinsturz. Ich lebe wirklich in einem Drecksloch …



Gnadenwolf

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