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2.3.1 Der Wert der Gegenwart

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„Ich kann allem widerstehen, außer der Versuchung“ (WILDE 1997, S. 11). Knapper und treffender lässt sich die Macht der Gegenwart kaum beschreiben. Aber nicht nur in der massiven Präsenz des Unwiderstehlichen, auch in der Banalität des Ökonomischen hat der aktuelle Genuss in aller Regel einen höheren Wert als der zukünftige – und seinen Preis. Will man sich beispielsweise ein neues Auto gönnen, hat aber dafür kein Geld, sieht man sich üblicherweise vor die Alternative gestellt, entweder zu sparen oder einen Kredit aufzunehmen – und dafür die fälligen Zinsen zu zahlen. Nicht wenige Personen verwerfen den Konsumaufschub. Jedenfalls ist es durchaus etwas teurer einen Genuss-Sofort Geschmack zu haben. Auch Hilfe hat ihre Verfallszeit: Unmittelbare Hilfe ist nun mal deutlich wirksamer als jedes Hilfeversprechen, bekanntlich gilt der Satz: „Doppelt hilft, wer schnell hilft“. Ähnliches gilt für Belohnungen, die ja bedauerlicherweise oft nur einen Zweck haben: den Belohnten zu einem erwünschten Verhalten zu veranlassen. Die Belohnungsaussichten sollten nicht allzu weit in der Zukunft liegen („Wenn Du fleißig lernst, dann wirst Du später auch im Beruf erfolgreich sein!“), denn sonst entschwindet zuverlässig auch deren Motivationswirkung. Gleiches gilt wohl auch für Bestrafungen. Auch Maximalbestrafungen (Höllenqualen!), wenn sie nur weit genug in der Zukunft liegen, lassen einen normalerweise kalt, jedenfalls den fröhlichen Sünder, der nicht so selten ist. Selbst in den Zeiten, in denen der Jenseitsglaube noch verbreiteter war, musste die Jenseitsangst doch immer wieder neu geschürt werden, damit sie den Menschen das Fürchten lehrte.

Die Empfindlichkeit der Nutzenerwartungen gegenüber der Zeit ist ein Faktum, das einen eigentlich nicht beunruhigen müsste, wären damit nicht einige Folgen verbunden, die wir eigentlich nicht wollen und zwar im wörtlichen Sinne; weil einen das eigentümliche Zeitmuster unseres Präferenzempfindens dazu verführen kann, von zwei Handlungen diejenige zu wählen, von der wir nur (zeitweilig) glauben, dass sie uns einen größeren Nutzen bringt als eine andere, die wir aber verwerfen, obwohl wir (bei kühlem Nachdenken) wissen, dass mit dieser ein größerer Nutzen einhergeht. Dieser missliche Fall ist alles andere als selten, er ist aber an die (ebenfalls nicht selten gegebene) Voraussetzung geknüpft, dass die Nutzenbewertung einen bestimmten Verlauf annimmt. In Abbildung 2.2 ist diese Situation dargestellt.


Abb. 2.2: Hyperbolischer Nutzenverlauf

Auf der x-Achse ist die Zeit abgetragen, auf der y-Achse die Nutzenbewertung. Gegenübergestellt sind zwei sich gegenseitig ausschließende Alternativen I und II mit ihren jeweiligen Nutzenkurven. Der Nutzen stellt sich im Falle der Alternative I zum Zeitpunkt 2 ein, im Falle der Alternative II zu einem späteren Zeitpunkt 3. Wie man erkennt, ist der Nutzen von Alternative II deutlich höher als der Nutzen von Alternative I. Dennoch wird sich die hier betrachtete Person für Alternative I entscheiden. Warum? Um dies zu verstehen, muss man sich nochmals klar machen, was die beiden Nutzenkurven bedeuten, sie bringen nicht mehr und nicht weniger zum Ausdruck als die Nutzenschätzungen zu unterschiedlichen Zeitpunkten. Zum Zeitpunkt t1 wird der Nutzen der Alternative II deutlich höher bewertet als der Nutzen der Alternative I. Das bleibt zunächst auch so, wenn man sich in der Zeit weiter vorwärts bewegt. Allerdings ändert sich diese Bewertung im Zeitpunkt t*, ab hier wird die Alternative I zunehmend besser bewertet als Alternative II. Wie kann man sich das erklären? Offenbar ist es bei beiden Alternativen so, dass sich die Nutzenschätzung deutlich steigert, je näher man sich dem Zeitpunkt des Nutzenkonsums annähert: die Nutzenkurve wird immer steiler, sie erreicht ihren höchsten Punkt zum Zeitpunkt der tatsächlichen Bedürfnisbefriedigung. Der Verlauf der Nutzenkurve spiegelt also das oben beschriebene Diskontierungsprinzip wieder: je weiter in der Zukunft die Bedürfnisbefriedigung liegt, desto weniger Wert misst man ihr zu, nähert man sich aber dem Zeitpunkt der Bedürfnisbefriedigung, dann steigt diese Wertschätzung beträchtlich an. Wie die Abbildung 2.2 zeigt, kann es daher geschehen, dass man die ursprüngliche Präferenz für die im Endeffekt wertvollere Alternative aufgibt und dazu übergeht, nun die weniger wertvolle Alternative zu präferieren. Ein Beispiel soll diesen Gedankengang veranschaulichen: Mancher nimmt sich nach einem beschwerlichen Arbeitstag vor, einmal früher ins Bett zu gehen (Alternative I), um am nächsten Tag gut ausgeschlafen zu sein, z.B. weil man da einen wichtigen Termin wahrnehmen muss, bei dem es besser ist, sehr aufgeweckt aufzutreten. Die spätabendliche Verabredung mit Freunden (Alternative II) will man dafür gerne ausfallen lassen. Nun nimmt der Abend so seinen Lauf und gestärkt durch etwas Ruhe und mit neuerwecktem Interesse an einem ungezwungenen und geselligen Zusammensein, gewinnt das Freundestreffen an Reiz und entfaltet schließlich stärkere Anziehungskräfte als die Aussicht auf einen ausgeschlafenen, aber doch noch so sehr fernen nächsten Tag. Manche Menschen sind deswegen fast nie ausgeschlafen, was immer einen vom zu Bett gehen abhalten kann, gewinnt für sie eine übermächtige Motivation, was dann zwar regelmäßig bedauert, aber letztlich nicht geändert wird. Das beschriebene Grundmuster ist in der einen oder anderen Form sicher jedem vertraut. Wer sich vor dem Lernen drückt, bringt damit nicht unbedingt zum Ausdruck, dass er es nicht schätzte, etwas gelernt zu haben, eine andere – näher liegende – Freude (Fußballspielen, Skatspielen, ins Kino gehen …) gewinnt aber nicht selten die Oberhand. Man nimmt sich zwar vor, den Abend mit Lernen zu verbringen, weil man weiß, dass das einen höheren Nutzen bringt, als das „Verplempern“ der Zeit und gibt sich dann doch Letzterem hin.

Die angeführten Beispiele könnten den Eindruck erwecken, als ginge es bei dem beschriebenen Effekt vornehmlich um das Unterliegen der moralisch höherwertigen Alternative. Das ist aber nicht der entscheidende Punkt. Es geht hierbei vielmehr um den rein zeitlichen Aspekt. Vor die Wahl gestellt, ein begehrtes Gut sofort zu erhalten oder auf ein noch höher begehrtes Gut einige Zeit warten zu müssen, entscheidet man sich sehr häufig für das eigentlich weniger begehrte, aber aufgrund seiner Präsenz unmittelbar attraktiver erscheinende Gut. Das gilt für praktisch alle Lebensbereiche, etwa in der Konsumwelt bei der Entscheidung, ob man in das schöne neue Auto praktisch gleich einsteigen und damit vom Hof fahren kann, oder ob man auf das Auto mit der eigentlich gewünschten Ausstattung noch einige Monate warten soll, bei der Kindererziehung, wenn das Kind mit einer geringeren Belohnung zufrieden ist, wenn sie nur sofort erfolgt oder in der Wissenschaftspraxis, wenn Forscher sich lieber mit der Abfassung belangloser Aufsätze beschäftigen als mit dem „Bohren dicker Bretter“, was – so Max Weber – die eigentliche wissenschaftliche Tätigkeit auszeichnet.

Formal betrachtet hängt das jeweilige Verhalten vom zeitlichen Verlauf der Nutzenkurve ab. Der beschriebene Effekt tritt nur dann ein, wenn die Nutzenfunktion einen hyperbolischen Verlauf annimmt, also wie in der Abbildung zu sehen erst eine relativ moderate Steigung aufweist und in Annäherung an den Zeitpunkt der Nutzenrealisierung einen immer steileren Anstieg nimmt. In der ökonomischen Theorie geht man dagegen in aller Regel von einem exponentiellen Verlauf der Nutzenkurve aus. Auch beim exponentiellen Verlauf wächst die Nutzenbewertung im Zeitablauf überproportional an, allerdings ohne dass es zu einem immer steileren Anstieg kommt. In diesem Fall gibt es keine Überschneidung der beiden Nutzenkurven und entsprechend auch nicht zu der irrationalen Konsequenz, dass man das weniger geschätzte Gut wählt. Es ist nun eine empirische Frage, welche der Verlaufskurven die Wirklichkeit besser abbildet. Allgemein lässt sich da wenig sagen, es spricht aber einiges dafür, dass in vielen Fällen eher die hyperbolische Form anzutreffen ist (AINSLIE 2005). Tatsächlich wird man aber auch alle möglichen anderen Formen antreffen, also z.B. eine lineare Diskontierung oder auch das Fehlen einer jeden Diskontierung, und selbst wenn man annähme, Menschen würden immer exponentiell diskontieren, wäre zu fragen, wie hoch der jeweilige Diskontsatz jeweils ausfällt. Die Annahme, alle Menschen würden bei allen Angelegenheiten die gleichen Präferenzverläufe aufweisen, ist jedenfalls einigermaßen weltfremd. Entsprechend ist auch die Frage nach dem „richtigen“ Diskontsatz abwegig. In der ökonomischen Sphäre lässt sich diesbezüglich immerhin eine gewisse Normierung feststellen, die man aber deswegen noch nicht gutheißen muss, denn hier ist der richtige Diskontsatz einfach der geltende Diskontsatz. Personen, die sich hieran nicht orientieren, erleiden einen ökonomischen Schaden. Es steht ihnen dabei natürlich frei, diesen so oder so zu bewerten. Rein rechnerisch jedenfalls verzichtet derjenige, dem heute 1.000 Euro ebenso viel wert sind wie, sagen wir in 5 Jahren, und der deswegen sein Geld im Nachtschrank aufbewahrt statt es zur Bank zu tragen, immerhin auf 276 Euro (wenn wir davon ausgehen, dass die Bank für 5-jährige Festanlagen 5 % Jahreszinsen zahlt). Und jemand, der darauf verzichtet, seine 1.000 Euro auszugeben und das Geld auf ein Sparbuch ohne Kündigungsfrist legt und sich damit für seinen Konsumverzicht 2 % Zinsen sichert und dann sein Geld nach 5 Jahren abhebt und ausgibt, kann zwar 104 Euro Zinsgewinn verbuchen, aber verglichen mit der zuerst genannten Anlage hat er ein schlechtes Geschäft gemacht. Wie hoch auch immer: In der Ökonomiewelt haben die psychologischen Kosten, die durch einen Bedürfnisaufschub entstehen, einen monetären Gegenwert in Gestalt der Zinsen, die man für den Betrag erhalten kann, den man nicht für Konsumzwecke ausgibt. Umgekehrt hat das Nachgeben gegenüber einem starken Bedürfnisdruck seinen Preis in Form der Zinsen, die man für den Kredit entrichten muss, den man braucht, um den nicht aufschiebbaren Konsumwunsch befriedigen zu können.

Doch zurück zur normalen Psychologie: Hier findet man manchmal das genaue Gegenteil, nämlich den Wunsch, die Bedürfnisbefriedigung aufzuschieben, also sozusagen eine negative Diskontierung des Nutzens. Ein Grund dafür kann in der Vorfreude liegen, sprichwörtlich ist sie bekanntlich die schönste Freude, manchmal sogar schöner als die Wunscherfüllungsfreude, und man möchte sie möglichst lange genießen. Das kann dazu führen, dass man das Ereignis, um das es eigentlich geht, immer weiter hinausschiebt. Oft fällt es uns auch nicht schwer, einen Termin, auf den wir uns freuen (ein Kino- oder Theaterbesuch, das Treffen mit einem alten Freund usw.) zu verschieben, weil wir uns dann gewissermaßen doppelt darauf freuen können. Man hat sogar schon von Leuten gehört, die denselben Partner mehrfach geheiratet (und sich zwischendurch von ihm geschieden) haben, offenbar hatten sie ihre beste Zeit immer vor der Zeit, um die es beim Heiraten eigentlich geht. Doch so groß die Vorfreude auch sein kann, sie bleibt eine abgeleitete Freude und irgendwann drängt es jeden dann doch nach der Wunscherfüllung. Dafür, dass die Annäherung an ein Ziel nicht unbedingt mit einer Nutzensteigerung einhergeht, gibt es einen dauerhafteren Grund als die Vorfreude; und dieser Grund liegt in dem Ziel selbst. Wer ein Buch schreibt, erlebt in dem Moment, in dem das Buch schließlich und endlich fertig wird, normalerweise durchaus ein Gefühl der Freude oder der Erleichterung, deswegen strebt man aber durchaus nicht an, das Buch nur schnell und irgendwie fertigzustellen. Der Nutzen entsteht vielmehr im Verfertigen der Gedanken und in deren Niederschrift, ein Prozess, der häufig von ganz anderen als positiven Gefühlen begleitet wird – was im Übrigen ein schönes Beispiel dafür ist, dass nicht Gefühle darüber entscheiden, ob man die Arbeit abbricht, sie unfertig beendet oder sich weiter plagt. Ähnliches gilt für viele weitere Tätigkeiten (künstlerischer, technischer, intellektueller oder handwerklicher Art), die sich nicht darin erschöpfen, dass man sie rein instrumentell wegarbeitet, weil man schließlich dafür bezahlt wird.

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