Читать книгу Pfad des Feuers - Alexander Mosca Spatz - Страница 17

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III

Wasser plätscherte an die hölzernen Stützen des Landungsstegs.

Sirian starrte auf die grünen Fluten hinab, warf kleine Steine in das dreckige Wasser und beobachtete die kleinen Wellen, die sich dort ausbreiteten.

Eine Entscheidung, dachte er in Erinnerungen versunken und legte nachdenklich den Kopf schief.

Ich treffe hier eine Entscheidung und irgendwo anders hat sie eine Konsequenz. Wenn ich etwas tun würde, das irgendwo weit entfernt einen großen Fehler hervorruft … ich würde es nicht einmal bemerken.

Sirian sah auf, stützte sich auf dem Landungssteg auf und schaute sich gelangweilt um.

Dockarbeiter wuchteten schwere Säcke und Kisten auf die Schiffe, unter dem bellenden Gebrüll der Kapitäne, die noch unbedingt vor Sonnenuntergang ablegen wollten. Es herrschte geschäftiges Treiben, obwohl die wichtigsten Stunden der Hafenstadt noch nicht einmal angebrochen waren.

Nachmittags, wenn die anderen Schiffe beladen waren, kamen die Schiffe des Händlerkönigs Savaron hierher, legten an und dann wurde jeder in der Nähe dazu gebraucht, so viel wie möglich so schnell wie möglich von den Schiffen herunter zu schaffen.

Manchmal legten auch in der Nacht Schiffe an und man munkelte, das seien die Schiffe der Menschenhändler, die seit einiger Zeit wieder in Moréngard nach Beute suchten.

Der Menschenhandel war ein großes Problem geworden in den letzten Jahren und die Hafenstadt von Moréngard hatte sich als der beste Platz herausgestellt, diesen zu zelebrieren.

Solange Sirian sich erinnern konnte, hatte er hier gelebt, in den Schatten der hohen Gebäude der Hafenstadt.

Und doch hasse ich diesen Ort mehr als jeden anderen …

Noch immer plagten ihn die Erinnerungen an seine Familie und seine Vergangenheit, suchten ihn nachts in seinen Träumen heim und raubten ihm den Schlaf.

Sein Vater war einmal ein Paladin gewesen, ein Verfechter des Ordens, bis seine Mutter gestorben war; dann hatte sich alles gravierend verändert. Seinem Vater war der Sinn für die Realität abhanden gekommen, alle möglichen Gründe für den Tod seiner Mutter gesucht und Stück für Stück den Verstand verloren. Während seiner Kindheit hatte er seinen Vater fürchten gelernt, wenn er nachts – angetrunken und schlecht gelaunt – nach Hause gekommen war und einen seiner Wutanfälle bekommen hatte.

Mein Vater hat Geschäfte mit den Schmugglern gemacht und als er sie nicht bezahlen konnte, floh er hierher, um sich zu verstecken. Er hat sich nie um Melanie und mich gekümmert; kein einziges Mal! Wir waren ihm egal!

Sirian rieb sich die Stirn und der pochende Schmerz in seinem Kopf ließ kurz nach, wich einer gähnenden Leere in seinem Kopf, die sich schlagartig mit Erinnerungen füllte.

Sein Vater war gestorben und hatte ihn mit seiner kleinen Schwester alleine gelassen; eine Schwester, wegen der er sich immer zwischen seinem Vater und ihr hatte entscheiden müssen.

Eine Schwester, die ihn immer daran gehindert hatte, auszubrechen aus der Hafenstadt, weil sie die gleiche erbliche Krankheit hatte, an der seine Mutter gestorben war – und sie deshalb jemanden brauchte, der sich um sie kümmerte.

Mit einem Seufzen erhob Sirian sich, streckte sich genüsslich und blickte der breiten Häuserfront der Hafenstadt entgegen; hier an den Docks herrschte Licht – doch dort tief drinnen, in dem unendlichen Labyrinth der Hafenstadt, drang selbst am Tage kein einziger Lichtstrahl durch die Vordächer der einzelnen Etagen. Die Menschen hatten die Hafenstadt schon so gefunden, als sie vor knapp tausend und dreihundert Jahren hier gelandet waren, mit ihren Schiffen, und hatten sich entschlossen, die Stadt gleich zu beziehen.

Sie hätten sie niederbrennen sollen … dann müsste niemand in diesem Drecksloch leben!

Die Häuser der Hafenstadt ragten so hoch in den Himmel wie kein anderes Gebäude im ganzen Land und wenngleich aus Holz, so waren sie doch außerordentlich stabil; jedoch waren die Zugänge zu den oberen Etagen vollkommen zerstört, so dass die meisten Bewohner höchstens bis zur zweiten Etage kommen konnten. Jede einzelne Etage hatte ein kleines Vordach und je tiefer man kam, desto dunkler wurde es. Unten im Labyrinth waren Fackeln und Feuer verboten, weil ein Funke an der falschen Stelle, das ganze Viertel in eine tosende Feuerbrunst verwandeln konnte. So mussten die Bewohner Tag und Nacht für Beleuchtung innerhalb ihrer Häuser sorgen, die dank der Bullaugen nach draußen auf die schlammigen Gassen geriet.

In Gedanken versunken schlenderte er das Landungssteg entlang, kalter Wind fegte ihm durch das kurze, braune Haar und er verzog das Gesicht; ein Gutes hatte das Labyrinth der Hafenstadt doch – nur selten verirrte sich eine Brise dort hinein, wenn es kalt war … im Gegenzug entwich auch die Hitze im Sommer nicht.

Das laute Geräusch seiner Schritte erstarb, als er den Stein der Docks erreichte und direkt auf die alte Kräuterheilerin zuhielt, die schon alt war, seit er ein kleines Kind war.

Ich habe keine Ahnung, wie sie das macht. Die meisten im Hafenviertel sterben, bevor sie die Vierzig erreichen und sie vegetiert hier vor sich hin, fast blind und doch noch am Leben …

Die Hafenstadt war das Viertel mit der größten Kriminalitätsrate und täglich starben hier viele Menschen an nicht ganz gewöhnlichen Todesursachen. Hier nannte man das dann einen unkonventionellen Tod und die Personen, die von einem solchen erwischt wurden, erwähnte man am besten niemals wieder.

Hier gab es keine Gardisten, keine Wachen und erst recht keine Paladine; Sirian hatte keinen Zweifel daran, dass er im Moment der einzige anwesende Vertreter des Staates im Hafenviertel war.

Als er sich der alten Kräuterheilerin näherte, breitete sich auf ihren Lippen ein Lächeln aus und streckte ihm ihre knorrigen Hände entgegen. Er hatte nicht alle Ingredienzen in der Oberstadt bekommen können, doch hier konnte ihm immer geholfen werden.

„Sirian, mein Junge!“, rief sie fröhlich aus und tastete nach ihrem Stock, um ihm entgegen zu humpeln.

Sirian sprang ihr hastig entgegen, damit sie nicht fiel und bugsierte sie sanft aber bestimmt zurück an ihren Kräuterstand.

„Übertreibe es nicht, Bruxa“, riet Sirian ihr leise und lehnte sich an ihren Stand.

„Ich weiß zwar nicht, wie lange du noch hier arbeiten willst, bevor du einsiehst, dass dieses Viertel hier zu gefährlich ist, aber ich will nicht, dass du wegen mir auf die Docks fällst.“

Bruxa verzog eine Miene und holte mit ihrem Stock aus, um ihm einen Schlag zu verpassen, verfehlte ihn jedoch und fluchte leise.

„Du wirst mit jedem Mal frecher, Bengel!“, schimpfte sie, doch Sirian wusste, dass sie es nicht so meinte.

Bruxa hatte schon seine Mutter behandelt, als es ihr zusehends schlechter gegangen war und hatte ihre Schmerzen dauerhaft senken können; am Ende hatte jedoch selbst ihre Hilfe nichts ändern können.

Seine Mutter war gestorben, in den Armen seines Vaters.

„Ich brauche blaues Myrium, Bruxa“, kam Sirian zum Thema und holte ein wenig Geld aus einem Beutel.

„Melanie geht es nicht gut und ich bin hier, um mich um sie zu kümmern. Ich glaube, es ist ein Fieber, oder …“

„Lüg' mich nicht an, Junge!“, bellte Bruxa plötzlich und Sirian zuckte zusammen wie unter einem Peitschenhieb. Der freundliche Gesichtsausdruck war aus ihren runzeligen Zügen gewichen und sie kniff die blinden Augen zusammen, dachte kurz nach.

„Sie hat die Eversia, richtig?“, zischte sie endlich und über Sirians Lippen fuhr ein trauriges Seufzen; es hatte keinen Sinn, es zu leugnen.

Die Alte kennt sich einfach zu gut aus, als dass man sie in der Hinsicht überlisten könnte …

„Letztes Stadium“, antwortete er niedergeschlagen.

„Ihr Körper bereitet sich bereits auf die letzte Conciditionsperiode vor und daher hat sie die letzten Tage starkes Fieber gehabt und …“, er schaffte es nicht den Satz zu beenden und ließ niedergeschlagen den Kopf hängen.

Die Eversia war eine erbliche Krankheit, die von Generation über Generation weitergegeben wurde. Sobald man einen Elternteil oder einen direkten Nachfahren hatte, der unter der Eversia litt, bestand die Gefahr, dass die Krankheit bei einem selbst auch ausbrach. Dabei verkümmerten Stück für Stück die körperlichen Fähigkeiten, wobei die geistigen eine Blütezeit erlebten; nach etwa fünf Jahren kehrte der Prozess sich um und nun wurde der Geist angegriffen. Schritt für Schritt wurde so aus einem Erwachsenen ein sabberndes, kleines Kind. Die erste Phase der körperlichen Verkümmerung nannte man die aecilibrische Phase, die zweite, während der der Geist litt, die infantile. Nach etwa weiteren fünf Jahren folgte Phase der Concidition, während der der Körper sich noch einmal vollkommen regenerierte; die meisten dachten während dieser Zeit, die Krankheit sei auf magische Weise verschwunden, aber Sirian kannte die Wahrheit, da er selbst immer noch gefährdet war. Die Krankheit verschwand nicht, niemals. Man hatte ab und an noch einen Krampf, spürte aber ansonsten davon nichts mehr … bis die Concidition schließlich begann und der Körper sich von innen heraus unter heftigen Krämpfen selbst auflöste. Die Gnadenzeit, die man nach der zweiten Phase hatte, war der Zeitraum, die die Krankheit brauchte, um im Körper die nötige Energie für den Selbstzerstörungsvorgang zu sammeln.

Das erste Anzeichen für die Eversia war eine plötzliche Unfähigkeit, bestimmte Körperteile zu bewegen und kleinere Bewegungen auszuführen, gefolgt von Zittern und stechenden Schmerzen in den Gelenken und Nervenknoten.

Er selbst war offenbar verschont geblieben, doch seine Schwester …

Meine Schwester wurde mit einem Fluch geboren. Es war nur eine Frage der Zeit, bis es soweit kommen würde; sie ist nun sechzehn, ein ganzes Jahr über dem Durchschnitt. Sie weiß nicht, was auf sie zukommt, dafür hat unser Vater gesorgt. Und ich muss es ihr entweder sagen, oder schweigen und so tun, als wüsste ich es nicht. Wie soll ich das schaffen? Wie kann man vor jemanden treten und ihm ins Gesicht sagen, dass er sterben wird? Ich glaube, ich kann das nicht …

„Ich brauche blaues Myrium“, wiederholte Sirian flüsternd und streckte zitternd eine Hand nach dem seltenen Kraut aus; es würde die Schmerzen lindern, wenn es soweit war … was bei Melanie jeder Tag sein konnte.

Bruxa warf ihm einen mitleidigen Blick zu und band ihm geschickt ein Bündel blaues Myrium zusammen, reichte es ihm und winkte ab, als er ihr die goldene Krone geben wollte.

„Lass das Geld bloß stecken, Junge. Ich werde deine Schwester heute Abend in meine Gebete an den Letzten Herrscher einschließen. Ich lebe lange genug, um zu wissen, dass Wunder vorkommen.“

Ich glaube nicht an Wunder. Ich glaube an gar nichts mehr! Ich musste zusehen, wie meine Mutter sich in den Armen meines Vaters verflüssigt hat! Ich habe dabei zugesehen, wie meine kleine Schwester anfing, unter dem selben Fluch zu leiden! Es gibt keine Wunder!

„Ich bin sicher, es wird ihr helfen“, sagte er jedoch stattdessen, neigte kurz sein Haupt und betrat mit einem leisen Schluchzen das Labyrinth der ewigen Nacht.

„Stehe ihr bei, wenn es soweit ist!“, hörte er Bruxa noch, dann erstarben die Geräusche um ihn herum und das Licht erblasste.

An den Seiten des Kopfsteinpflasters, dort, wo der Weg in das Fundament der Häuser überging, gluckste das stinkende Abwasser, warf sogar manchmal Blasen. Der penetrante Geruch von Abfall, verfaultem Fisch und Ausscheidungen war hier noch schlimmer als direkt an den Docks, wo man darauf hoffen durfte, dass eine gnädige Brise den Gestank für einen Moment vertrieb.

Niemand sollte gezwungen sein, in solch einer Kloake zu leben. Kein Wunder, dass meine Schwester unter der selben verdammten Krankheit leidet wie meine Mutter! Wie sollte jemand hier drin auch gesund werden? Wieso tut der Letzte Herrscher nichts gegen die Zustände? Angeblich hat er doch die Macht, die ganze Welt mit einem Fingerschnippen zu beugen. Wieso sehe ich davon nichts?

Hier war es absolut windstill. Zu dieser Zeit trieben sich nur wenige Leute in den Gassen herum und die, die es taten, gehörten mit Sicherheit zu irgendwelchen Banden. Doch während Sirian durch die finsteren Gassen lief, begegnete er niemandem. Fackeln waren verboten. Sollte auch nur eine irgendetwas entzünden, würde die gesamte Hafenstadt sich in Sekundenbruchteilen in ein höllisches Inferno verwandeln. Daher waren die Lichter in den Häusern die einzige Lichtquelle im 'Partus aeternae Noctis', dem Teil der ewigen Nacht. Tag und Nacht beleuchteten sie spärlich die Gassen und Schleichwege und es war gerade ausreichend, um den Weg in die Docks und wieder zurück zu finden, ohne sich zu verirren … wenn man sich auskannte. Müde lief er die dunklen Gassen entlang, monoton einen Fuß vor den anderen setzend, den Kopf gesenkt, den Blick auf den dreckigen Boden gerichtet. Es war noch nass vom letzten Regen und wenn es so weiterging, würde das Hafenviertel überflutet, wie es schon so oft geschehen war. Passierte dies, holte man Boote aus hoch gebauten Lagerhäusern und fuhr auf den Gassen entlang, bis die Straßen wieder zugänglich waren. Und es sah danach aus, dass es dieses Jahr wieder so sein würde.

Das Haus seiner Schwester lag weit von den Docks entfernt, so ziemlich genau in der Mitte des Labyrinths. Den Weg dorthin kannte er in und auswendig, war er ihn in seiner Kindheit doch jeden Tag gegangen, um die großen Schiffe auslaufen zu sehen. Damals hatte er sich geschworen, eines Tages auf einem Schiff das Meer zu bezwingen und ein neues Land zu finden, so wie die Vorfahren der Menschen Moréngard gefunden hatten. Nun steckte er hier fest, hatte Angst um das Leben seiner Schwester und versuchte mit seinem Mentor Aaron, den zweitmächtigsten Mann Moréngards eines Mordes zu bezichtigen. In Gedanken versunken hatte er gar nicht gemerkt, dass er schon angekommen war. Das Haus seiner Schwester, oder wohl eher seiner toten Eltern, war etwas breiter als die anderen darum herum und auch der Eingang sah nicht ganz so heruntergekommen aus, wie die der anderen Häuser. Er atmete noch einmal tief durch, bevor er die knirschenden Treppen zu der Tür hinauf stieg, die Hand auf die Klinke legte, sie herunter drückte und eintrat. Das leise Prasseln eines kleinen Feuers, vermischt mit dem Zischen von kochendem Wasser waren die einzigen Geräusche, die er hörte, als er eintrat. Das Feuer brannte in einem alten, staubigen Steinkamin vor sich hin und schenkte nur bedingt Wärme, doch es war genug, um nicht zu frieren. Das Zischen kam von dem mit Wasser gefüllten Kessel, der über eben diesem Feuer hing. Das Mobiliar war kümmerlich, aber ausreichend. Vor dem Kamin stand der alte Sessel seines Vaters und neben dem Kamin erstreckte sich eine Reihe von kleinen Kommoden über die ganze Wand, bis hin zu der Treppe, die in die höheren Etagen des Hauses führte. In der kleinsten Ecke des Hauses hatte ihre Mutter eine kleine, notdürftige Küche eingerichtet, von der aus man leicht die Sachen auf den wackeligen Tisch stellen konnte. Ihre Mutter war eine sehr praktische Frau gewesen …

Sirian ging zu dem Sessel, legte den Lederharnisch seiner Adeptenrüstung ab und warf die gekauften Kräuter in das nun saubere Wasser. Er wagte es immer noch nicht, in der Hafenstadt seine graue Rüstung eines Adepten zu tragen. Oft genug hatte er gesehen, wie Menschen zusammengeschlagen worden waren, nur weil sie entfernt an ein exekutives Staatsmitglied erinnerten. Das Wasser hatte er heute morgen geholt, gereinigt und über das Feuer gehängt, damit es kochen und somit Viren abtöten konnte, sollten welche in dem Wasser enthalten sein. Das Wasser zischte und brodelte, nahm eine bläuliche Färbung an und der Geruch von Jasmin breitete sich in dem Zimmer aus. Sirian beobachtete eine Weile das nun dunkelblaue Wasser, rieb sich die Stirn.

Melanie war immer noch der festen Überzeugung, ihr ginge es wieder gut. Sie schwärmte jeden Tag davon, wie bald sie wieder gesund werden und aus der Hafenstadt ausziehen würde – und er musste nun zu ihr gehen und ihr sagen, dass sie sterben würde.

So weit ist es nun also schon gekommen, dass ich meine Schwester aufgegeben habe, wo sie noch an mich glaubt. Was bin ich nur für ein Bruder?

Im Herzen kannte er die Antwort bereits seit langem; im Herzen hatte er begriffen, dass er seiner Schwester nicht half, weil er sie als Schwester liebte, sondern weil es ihm sein Pflichtgefühl verbot, sie endlich hinter sich zu lassen. Seit ihr Vater gestorben war, war sie für ihn eine Last gewesen, ein Gewicht, das ihn immer wieder in seine niedere Herkunft hinunter zog.

Am liebsten hätte Sirian sich für sein Verhalten eine Ohrfeige gegeben, aber er erhob sich zitternd aus dem Sessel und blickte hinauf zur Treppe, wo seine Schwester schon auf ihn wartete.

Ich kann gehen … in ein paar Tagen ist es sowieso vorbei. Ich kann ihr das Mittel geben und sagen, dass ich gehen muss. Ich weiß, dass sie Verständnis dafür hätte. Ich würde ihr nicht sagen müssen, was geschehen wird. Sie würde alleine sterben, aber in der Hoffnung, dass alles wieder gut wird.

Er ging auf die Treppe zu, die in das Zimmer seiner Schwester hinauf führte. Die Stufen ächzten laut, als er eine nach der anderen nahm, die eine Hand angespannt auf das Geländer stützend. Von oben hörte er ein Poltern, Schritte auf dem Holzboden über ihm. Staub rieselte herunter und er hustete, als er etwas davon in die Lungen bekam. Er hatte seiner Schwester gesagt, sie solle unbedingt liegen bleiben, aber sie war schon immer sehr … lebhaft gewesen.

Oben angekommen öffnete er langsam die Tür, in der Hoffnung, seine Melanie würde schlafen.

Sie saß aufrecht auf dem Bett. Ihr schwarzes Haar klebte ihr in schweißnassen Strähnen im Gesicht, ihre etwas dunklere Haut hatte einen ungesunden blässlichen Ton angenommen. Als Sirian eintrat, sah sie auf und strich sich die klebrigen Strähnen aus dem Gesicht, ein schwaches, aber glückliches Lächeln umspielte ihre Lippen. Sie war hübsch, wäre da nicht die Krankheit gewesen, die sie auslaugte und schwächte.

„Sirian! Ich dachte schon du kommst gar nicht mehr!“, rief sie aus und legte das Buch beiseite, das sie in Händen hielt.

Das dachte ich auch, Schwesterherz; genau das selbe dachte ich auch …

Sirian fiel es schwer, ihr Lächeln zu erwidern, aber er schaffte es und setzte sich zu ihr auf das Bett.

„Ich würde dich doch nie im Stich lassen. Wie fühlst du dich?“

Seine Schwester legte den Kopf schief und dachte einen Moment über die Antwort nach. „Unverändert. Nur irgendwie ist mir etwas wärmer, deswegen bin ich aus der Decke raus, ich wäre fast gestorben vor Hitze!“

Sofort presste Sirian eine Hand an die Stirn seiner Schwester und seine Mundwinkel zuckten, seine Augen verengten sich einen Moment zu Schlitzen. Die Stirn seiner Schwester war glühend heiß. „Ist es so schlimm? Was ist los, Sirian?“, fragte sie leise, als sie seinen entsetzten Gesichtsausdruck sah und Sirian nahm langsam die Hand von ihrer Stirn.

Die Eversia holt zu ihrem letzten Schlag aus. Die brennende Haut, der blässliche Teint; es geht los.

„Es ist … Melanie, wäre es schlimm, wenn ich kurz etwas trinken gehe und wir nachher reden? Die letzten Tage waren verdammt anstrengend und ich brauche dringend eine kleine Pause.“

Melanie sah an ihm vorbei, hob langsam die Hand und fasste sich an die Stirn. Einen Moment lang herrschte vollkommene Stille; dann zuckte Melanie mit den Achseln und ließ die Hand wieder sinken.

„Ich fühle mich gut, seit ich wieder aus der Decke raus bin. Geh ruhig etwas trinken, aber komm danach bitte wieder, ja? Ich will nicht alleine sein.“

Sirian fühlte wie sich sein Magen zusammen zog, sich eine eisige Kälte in ihm ausbreitete. Auf einmal fühlte sich seine Kehle an, als wäre sie ausgetrocknet und er konnte kaum schlucken.

Ich muss es ihr sagen … unbedingt. Aber erst, wenn ich wieder komme. Erst muss ich etwas trinken gehen …

„Ich komme so schnell wie möglich wieder, Melanie. Versprochen“, Sirian rang sich ein Zwinkern ab, doch seine Schwester glaubte ihm sofort und lächelte warm.

„Danke, Sirian. Du bist der Einzige, auf den ich hier zählen kann. Ich bin so froh, dass du da bist.“

Melanie umarmte ihn erstaunlich fest und er klopfte ihr auf den Rücken, bettete sein Kinn auf ihrer Schulter und versuchte den Augenblick zu verdrängen, der ihn bei seiner Rückkehr erwartete.

Sirian stand vor dem Haus seiner Schwester, hatte die Hände in die Taschen seines Wamses gesteckt und atmete tief die stinkende Luft des Hafenviertels ein, doch in diesem Moment schien sie ihm nicht so unangenehm. Eine frische Brise schaffte es, sich einen Weg von den Docks durch die dunklen Gassen bis hin zu ihm durch zu bahnen und Sirian schloss genießerisch die Augen.

Das waren die einzigen schönen Momente in der Hafenstadt, die er hatte.

Während er sich auf den Weg zur Taverne 'zum stinkenden Fisch' machte, verdrängte er die bevorstehenden Ereignisse und versuchte sich zu beruhigen.

Die kalte Luft legte sich trocken auf seine Haut und er fühlte sich so ausgedörrt, wie noch nie zuvor, etwas schnürte ihm die Kehle zu.

Ich wusste schon immer, dass sie sterben würde. Ich hatte ein Leben lang, um mich darauf vorzubereiten und es ihr zu sagen, wenn sie stirbt.

Wieso fällt es mir jetzt so schwer? Erinnere dich an die ersten Jahre deiner Ausbildung! Distanziere dich!

Er erinnerte sich an die Lektionen, in denen ihnen eingepaukt wurde, jegliche Bindung zu ihrem alten Leben zu kappen, bevor sie dem Orden endgültig beitraten.

Alte Rechnungen sollten beglichen oder vergessen werden, aber nichts durfte dem Paladin mehr aus seiner Vergangenheit im Wege stehen.

Das schlammige Abwasser gluckste, warf stinkende Blasen und Sirian rümpfte angewidert die Nase. Wieso hatte sein Vater so früh aufgegeben? Er sah sich nun mit der selben Situation konfrontiert wie sein Vater damals, aber gab nicht auf!

Mit einem Schnauben bog er um die Ecke, die ihn zu der Taverne bringen würde und bereits aus der Ferne kam ihm der Geruch von schlechtem Alkohol und altem Fleisch entgegen.

Zu dieser Tageszeit dürfte noch niemand in der Taverne sein; die meisten Bewohner arbeiteten von früh morgens bis tief nachts auf den Docks, um wenigstens halbwegs über die Runden zu kommen.

Die Taverne war leicht zu erkennen; sie war das einzige Gebäude, das sich äußerlich wirklich deutlich von den anderen unterschied. Die anderen Bürgern mussten sich private Markierungen machen, um ihre Häuser und Wohnungen wiederzufinden, die Taverne jedoch würde niemand verfehlen. Ein paar alte Holzstufen führten zu der großen Tür, über der an einer rostigen Eisenstange ein Schild hing, das mit dem Namen der Taverne beschriftet war.

Die Fenster waren nicht so eintönig wie die anderen im Hafenviertel, sondern aus grünem Glas und das Licht, das durch sie fiel, tauchte die umliegenden Gassen und Hauswände in einen grünen, tanzenden Schein. Mit federnden Schritten schlenderte Sirian darauf zu, öffnete die Tür und trat ein. Eine Mauer aus warmer Luft schlug ihm entgegen und einen Moment war er etwas benommen. Draußen herrschte Schnee und Eis, doch in der Taverne brannten etliche Feuer an Fackeln und in zwei Kaminen und somit war es mehr als nur warm. Entgegen Sirians Erwartungen, oder vielleicht sogar Hoffnungen, war er nicht alleine in der Taverne, im Gegenteil, an vielen Tischen saßen Dockarbeiter, beugten sich über Würfelbretter, oder tranken Bier. Sirian hatte das Bier in der Taverne nur einmal probiert und seitdem den starken Verdacht, dass der Wirt es mit dem dreckigen Wasser aus den Docks panschte, denn genauso schmeckte es.

Sirian ging direkt zu dem Wirt und klopfte auf den Tisch, den der Wirt gerade putzte. Er war der Inbegriff der Hässlichkeit. Dick, pickelig und glatzköpfig bot er nicht gerade den Anblick, den man beim Trinken eines Biers haben wollte. Wahrscheinlich war es das, was die guten von den schlechten Tavernen unterschied. Der Wirt richtete sich auf, wischte die dreckigen Hände an einer Schürze ab, die vor Jahrtausenden einmal weiss gewesen sein musste, stemmte die Hände in die Hüften und schaute Sirian mit einem schiefen Lächeln an.

„Die Taverne ist nur was für Männer, Kleiner. Komm wieder, wenn du erwachsen bist!“

Einige der Männer lachten auf diese Bemerkung hin, aber Sirian ignorierte es.

„Ich will etwas zu trinken. Jetzt!“, erwiderte er mit beherrschter Stimme und stützte sich mit den Händen auf dem Tisch ab.

„Und nichts von diesem widerlichen Bier, das hier ausgeschenkt wird.“

Der Wirt warf ihm einen wütenden Blick zu, er wurde etwas blasser und die Pickel traten hässlich hervor.

„Wie du möchtest, Jungchen“, presste er zwischen zusammengepressten Zähnen hervor und deutete auf einen freien Stuhl.

„Setze dich und ich bringe dir was.“

Gehorsam ließ Sirian sich auf dem wackeligen Stuhl nieder und schaute sich um. Die wenigen Gäste beachteten ihn kaum, waren voll und ganz auf ihre Tätigkeiten konzentriert. Bis auf einen! Einer der Gäste saß in der hintersten Ecke der Taverne, starrte Sirian an und zog an einer Pfeife. Obwohl der Rauch der Pfeife im nächsten Moment ein wenig die Sicht nahm, konnte Sirian klar erkennen, wie sich die Lippen des Mannes zu einem lässigen Lächeln verzogen. Sirian schluckte und wandte den Blick ab, fixierte die dreckige Tischplatte.

Es ist nichts Ungewöhnliches, dass man hier gehässig angegrinst wird …

„Hier!“, ertönte auf einmal die Stimme des Wirts und ein Glas wurde heftig auf Sirians Tisch geknallt. Die Flüssigkeit in dem Glas sah mehr nach dem Versuch eines jungen Magiers aus, ein Rattengift zu mischen, als ein Getränk, aber als er den schadenfrohen Blick des Wirts sah, griff er nach dem Glas und nahm einen Schluck von dem Gebräu.

Das gehässige Grinsen des Wirts gefror und mit einem wütenden Schnauben warf der Wirt sich einen Lappen auf die Schulter, bevor er sich wieder seinen Gläsern zuwandte. Gerade rechtzeitig, denn länger hätte Sirian ein Keuchen nicht zurückhalten können. Das Gebräu floss wie flüssiges Feuer seine Kehle hinab und er hielt sich ächzend den Hals.

Letzter Herrscher, was ist das für ein Zeug? Wasser aus den Docks?

Zu Sirians Glück hatte es niemand bemerkt; niemand außer dem Mann in der hintersten Ecke, der genüsslich einen weiteren Zug seiner Pfeife nahm.

Sirian warf dem Mann einen verstohlenen Blick zu, nahm dabei einen erneuten Schluck seines Getränks. Diesmal brannte es nicht so heftig, sondern war viel mehr beruhigend, betörte die Sinne. Der Mann mit der Pfeife rieb sich das Kinn und musterte Sirian mit einem neugierigen Blick, als würde er ihn irgendwie einschätzen wollen. Sirian wandte demonstrativ den Blick ab, schaute aus dem grünen Fenster. Die ganze Taverne spiegelte sich in der grünen Glasscheibe und Sirian meinte zu sehen, wie das Lächeln des Mannes breiter wurde.

Das habe ich mir eingebildet …, Sirian rieb sich die Stirn und bettete das Gesicht in Händen, ich hatte nur zu viel Stress die letzten Tage. Es wird alles wieder gut, wenn wir den Mörder erst mal gefunden haben.

Sirian trank in einigen hastigen Zügen das Glas leer, stellte es auf den Tisch und winkte dem Wirt zu. Mürrisch stapfte der Wirt zu ihm herüber, nahm das Glas entgegen und machte Anstalten, sofort wieder zu gehen, aber Sirian packte in an der Schürze und zog ihn zu sich heran. Die Augen des Wirts weiteten sich und er wollte laut los brüllen, aber Sirian langte in eine Tasche seines Wamses und holte ein Goldstück heraus.

„Reden wir“, flüsterte er leise und musste sich ein Lächeln verkneifen, als sich der Blick des Wirts aufhellte und er sich setzte.

„Gut, reden wir.“

Sirian nickte und legte das Goldstück auf den Tisch. Der Wirt streckte seine Finger danach aus und ließ das Goldstück schneller verschwinden, als Sirian es ihm zugetraut hätte.

„Wer ist der Kerl da hinten mit der Pfeife?“, raunte Sirian leise.

Der Wirt sah zu der Ecke hinter und ein Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht auf.

„Hey, hey, ganz ruhig. Ich verrate hier Geheimnisse über einen Kunden. Das kostet etwas mehr, Jungchen.“

Die Hand des Wirts wanderte in Richtung von Sirians Wamstasche, aber Sirian hielt die Hand des Wirts mit eisernem Griff fest, setzte ein gespielt freundliches Lächeln auf.

„So läuft das nicht. Pro Information ein Goldstück. Das erste Goldstück wartet auf seinen Wert, Herr Wirt.“

Der Wirt kräuselte die Lippen, setzte eine beleidigte Miene auf, doch die Gier war größer als der Groll auf Sirian.

„Der Mann gehört zu einer mächtigen Gruppe mit Geld, die sich im Hafenviertel normalerweise nie blicken lässt. Sein Name ist Avon. Ein mieses Arschloch, aber er zahlt gut.“

Der Wirt lachte laut und streckte wartend die Hand aus. Sirian wartete einen Moment, dann ließ er ein weiteres Goldstück in der Hand des Wirts auftauchen.

Mit solchen 'Kräften' kommt man hier im Hafenviertel fast überall hin …

„Wer ist er und was will er hier, wenn seine Gruppe normalerweise nie hier ist?“

Der Wirt runzelte die Stirn in lehnte sich auf dem Stuhl zurück, der Mitleid erregend knirschte, verschränkte die Arme vor der Brust und zog ein wenig seinen voluminösen Bauch ein, damit er nicht gegen den Tisch stieß.

„Soweit ich es verstanden habe, ist er hinter irgendjemandem her, der … sagen wir, Ärger macht.“ Sirian zuckte leicht zusammen, doch er beruhigte sich sofort wieder und wandte den Blick von dem Mann mit der Pfeife ab.

„Und was macht der? Wozu ist er gut?“, fragte Sirian und überreichte ein weiteres Goldstück. Der Wirt beugte sich über den Tisch zu Sirian herüber und grinste so breit, dass Sirian die gelben Zähne sehen konnte.

„Er ist gut im Töten. Vor allem so töten, dass es aussieht wie ein Unfall. Wenn ich du wäre“, der Wirt leckte sich über die Lippen und lachte leise, „würde ich aufpassen und versuchen, ihm nicht in die Quere zu kommen.“

Sirian wurde etwas blasser und verzog seine Augen zu funkelnden Schlitzen.

Ein Auftragsmörder also … ich als Adept des Ordens sollte entweder die Garnison alarmieren oder versuchen, ihn auf eigene Faust zu erwischen, damit ich ihn befragen kann. Vielleicht, wenn ich ihm eine kleine Falle stelle …

„Kann ich dir noch was bringen, Jungchen?“, fragte der Wirt belustigt und Sirian schüttelte den Kopf, erhob sich und atmete tief durch.

„Danke, nein, ich denke …“´, er stockte und warf aus den Augenwinkeln einen misstrauischen Blick auf den Mann mit der Pfeife, „ … es ist besser, wenn ich jetzt gehe.“

Der Wirt schnaubte leise, nickte in Richtung Tür und streckte sich genüsslich auf dem Stuhl; für ihn war Sirian bereits fort. Sirian trat leicht bebend aus der Taverne und draußen schüttelte er sich in der eisigen Kälte, schlug die Arme um sich. Hoch über ihnen donnerte es laut und Sirian fluchte leise. Das Regenwasser der letzten Tage war fast nicht mehr abgeflossen; sollte es jetzt noch einmal so regnen, wäre das Viertel wieder überflutet.

Sirian unterdrückte einen weiteren Fluch, sprang von den Stufen der Taverne hinab und machte sich auf zum Haus seiner Schwester, wobei er plante, einen kleinen Umweg einzulegen.

Ich weiß noch immer nicht, wie ich es ihr sagen soll. Es könnte jederzeit soweit sein und sie denkt, sie wäre vollkommen gesund und habe nur ein kleines Fieber; Fieber lässt sich mittlerweile ziemlich leicht heilen, aber die Eversia … die ist unheilbar!

Als er wieder um die Ecke bog, die den Blick auf die Taverne verdeckte, hörte er, wie die Tür der Taverne laut zugeschlagen wurde. Verwundert blieb er stehen und lauschte. Jemand sprang von den Stufen, landete mit einem lauten Klatschen in eine der zahllosen Pfützen und lief schnell und vor allem viel zu leise in Sirians Richtung. Anstatt schnell weiterzulaufen, schlich Sirian zu der Ecke zurück und warf einen schnellen Blick auf die Straße, die zu der Taverne führte. Der Mann aus der Taverne, der mit der Pfeife, eilte in seine Richtung, das lange blonde Haar war im Nacken zusammengebunden. Sirian wusste, wann ein Mann, der langes Haar trug, dieses zusammen band.

Nämlich wenn man einen Kampf erwartet!

Sirian wich einige Schritte zurück, weg von der Ecke und aus dem Sichtfeld des Mannes. Er musste hier weg und zwar schnell! Sirian drehte sich um und sprintete in das Labyrinth aus dunklen Gassen, jedoch nicht zum Haus seiner Schwester! Er musste den Mann, diesen Avon, von seiner Schwester ablenken. Sirian war es nicht gewohnt, lange zu rennen. In dem Training des Ordens, hoch in den Bergen hinter Moréngard lehrte man jemanden, schnell zu sein und zwar auf eine kurze Distanz, um Fliehende einzuholen. Doch niemand kam auf den Gedanken ihnen beizubringen, lange Strecken ohne Pause zu rennen. Man dachte, das andere Training würde die Ausdauer schon genügend fördern und damit hatten die Lehrmeister auch prinzipiell Recht, aber während Sirian sprintete, hörte er auch auf die Schritte Avons. Avon trabte mit konstanter Geschwindigkeit hinter Sirian her, verlor nicht ein Mal die Balance, während Sirian immer wieder auf dem nassen Kopfsteinpflaster ausrutschte und manchmal sogar fast hinfiel. Avon schien extra dafür trainiert worden zu sein, lange Strecken schnell zu laufen.

Ich muss ihn umgehen, indem ich meine Kenntnis des Gebiets nutze! Ich habe den Heimvorteil und kann ihm so entkommen, ohne dass er mich sieht oder hört!

Doch je weiter Sirian rannte, desto heftiger wurden seine Schmerzen, seine Seite schien förmlich zu brennen und seine Rippen fühlten sich an, als bohrten sie sich gerade in die Lungen!

Hinter ihm hörte er die Schritte Avons, ein rhythmisches Aufeinandertreffen von Pfützen und Stiefeln, immer wieder, immer im selben Abstand.

Verzweiflung ergriff Sirian, als er noch einmal realisierte, dass er sein Schwert nicht mitgenommen hatte. Er war vollkommen wehrlos! Panisch bog er scharf ab, in eine der engeren Gassen und rannte sie entlang, dabei über die Schulter zurückblickend. Anscheinend hatte Avon ihn verloren, denn er kam nicht in die Gasse! Sirian wollte schon triumphierend jubeln, als er endlich nach vorne schaute und beinahe gegen die solide Steinmauer gerannt wäre, die vor ihm aufragte. Schlitternd kam er zum Stehen und schlug gegen die Steinmauer, als könne er sie mit den bloßen Händen einreißen.

„Nein!“, flüsterte er atemlos und ignorierte das Brennen und Stechen in seiner Seite.

Am Eingang der Gasse wurden die Schritte wieder lauter, Sirian schlug noch einmal mit der Faust an die Mauer, versuchte an ihr hoch zu springen. Es gelang ihm nicht! Er steckte fest! Fest in einer Sackgasse, in der es kaum Licht gab, in einer Sackgasse, die so eng war, dass man nur durch den Eingang wieder hinaus konnte. Durch den Eingang, den Sirians Verfolger nun blockierte.

„Hallo Sirian“, hauchte der Mann leise, doch Sirian konnte es genau verstehen. Jedes einzelne, verdammte Wort.

„Was willst du?“, fauchte Sirian zurück und sah sich hektisch nach etwas um, das er als Waffe einsetzen konnte, sollte es zu einem Kampf kommen. Er fand nichts!

„Was ich will?“ Avon lachte laut auf und trat federnden Schrittes näher.

„Kannst du es dir nicht denken? Ich habe doch gesehen, wie du den Wirt über mich ausgefragt hast und ich denke du weißt, wer ich bin und was ich tue.“

Im schwachen Licht vermochte Sirian ein gehässiges Grinsen auszumachen und er wich mit dem Rücken an die Wand zurück, drückte sich an das kalte Gestein.

„Du willst mich töten?“, flüsterte Sirian heiser und spannte sich innerlich an. Avon kicherte leise und Sirian hörte, wie eine Klinge aus einer Schwertscheide gezogen wurde, das Metall blitzte kurz im spärlichen Licht auf, das von einem einzigen Bullauge in der Gasse gespendet wurde.

„Nein, nicht nur dich. Auch alle, denen du von Godrics Mord erzählt haben könntest. Die nette Frau am Stand, die Kräuter verkauft hat, haben wir schon … genauso wie den Wirt, obwohl ich zugeben muss, dass mir der alte Fettsack schon lange ein Dorn im Auge war, ich suchte nur nach einem Grund, ihn los zu werden.“

Sirians Augen weiteten sich entsetzt und er sackte leicht in die Knie.

„Das kannst du nicht! Der Wirt … ! Die anderen Gäste waren da! Sie hätten dich aufgehalten!“

„Dummer Junge! Um die Uhrzeit sind normalerweise nie Arbeiter in der Taverne! Und das hat sich auch nicht geändert! Die Männer dort in der Taverne haben für mich gearbeitet!“

Erneut lachte Avon, diesmal freudlos und schadenfroh.

„Schade nur, dass ich nicht mehr gesehen habe, wie sie das fette Schwein erledigt haben, aber ich musste dir ja hinterher!“

Avon war jetzt nur noch fünf Schritte von Sirian entfernt. Er musste nur springen und zustoßen, dann würde Sirian sterben – ohne sich auch nur im Geringsten wehren zu können.

Erfahrene Paladine und Kämpfer wussten, wie man jemanden entwaffnete und die Waffe anschließend gegen den Angreifer benutzte, doch Sirian war nie ein Freund von Gewalt gewesen; er konnte das nicht!

Ich muss Zeit gewinnen!, dachte Sirian panisch und versuchte seinen Atem zu beruhigen.

Ich muss so viel Informationen wie möglich sammeln! Wenn ich es schaffe zu entkommen, dann könnte ich die Situation zu meinem Vorteil nutzen!

„Für wen arbeitest du?“, platzte Sirian heraus und ging etwas in die Knie.

Avon schnaubte und schüttelte den Kopf, hob das Schwert und Sirian wandte den Blick ab, schloss die Augen. Er konnte nicht ausweichen, der Platz reichte nicht und im direkten Kampf zwischen Fleisch und Stahl gewann immer der Stahl.

„Ich werde es schnell machen, du wirst es gar nicht spüren. Nun vielleicht ein bisschen.“

Das Grinsen auf Avons Lippen wurde breiter und er holte aus, um zu schlagen.

Etwas raschelte. Sirian zuckte in Erwartung des Schlags zusammen, doch der Schlag kam nicht.

Zögerlich öffnete Sirian die Augen und schaute zu Avon. Sein Arm war immer noch erhoben, bereit, das Schwert auf Sirian hinabfahren zu lassen, aber er schlug nicht zu, sondern blickte mit weit aufgerissenen Augen auf etwas über Sirian. Langsam, zögerlich legte Sirian den Kopf in den Nacken und blickte nach oben. Oben, auf der fünf Meter hohen Mauer stand eine Gestalt in einem schwarzen Mantel, die Kapuze war so tief ins Gesicht gezogen, dass man es in dem sowieso schon fahlen Licht nicht erkennen konnte. Sirian schluckte schwer und seine Hände an der kalten Steinwand verkrampften sich. Mit einem weiteren Rascheln des Mantels, das sich anhörte wie der Flügelschlag eines Raben, stieß sich die Gestalt von der fünf Meter hohen Mauer ab und vollführte in der Luft einen eleganten Salto. Niemand konnte aus dieser Höhe springen und so weich und abfedernd landen, wie eine Katze! Niemand konnte nach einem Sprung aus dieser Höhe in einer eleganten Pirouette herumwirbeln und ein Schwert ziehen! Doch die Gestalt tat es.

Avon wich überrascht zurück, wehrte die schnellen und präzisen Schläge mehr schlecht als recht ab. Der Fremde stieß zu, wie eine Schlange, schlug blitzschnell zu, nur um sich dann wieder zurückzuziehen, bevor er wieder zustieß. Die Gasse war zu eng, als dass man groß ausweichen konnte, hier galten alleine die Fähigkeiten mit dem Schwert. Avon schlug wild und heftig zu, drängte den Fremden immer weiter zurück. Dieser ließ sich darauf ein, sein Rücken kam Sirian immer näher, die Klingen krachten schnell aufeinander und ab und an sah man sie im schwachen Licht aufblitzen.

Plötzlich stoppte der Fremde seinen Rückzug und trat unvermittelt einen Schritt auf Avon zu, verkürzte die Distanz so sehr, dass sie sich fast berührten. Avon schrie auf, wollte zurückweichen, um wieder Platz zwischen sie zu bringen, aber war einen Augenblick zu langsam. Der Fremde blockte einen letzten verzweifelten, viel zu hoch angesetzten Schlag, tauchte unter Avons Deckung und stieß zu. Avon ächzte, sein entsetzter Blick richtete sich auf das Schwert, das sich durch ihn gebohrt hatte und aus seinem Rücken wieder austrat. Blut tropfte aus Avons Mund, er ging leicht in die Knie, packte den Fremden am Arm, aber dieser zog das Schwert mit einem widerlichen Geräusch heraus und schlug Avon das Knie mit voller Kraft ins Gesicht. Es knackte, Avon fiel nach hinten, zuckte noch einen Moment, dann erlahmten seine Bewegungen und er blieb leblos liegen.

Sirian löste sich von der Wand und trat auf den Fremden zu, verengte die Augen zu Schlitzen in dem Versuch, einen Blick auf dessen Gesicht zu erhaschen. Der Fremde steckte das Schwert weg und beugte sich zu dem Toten hinunter, durchsuchte systematisch dessen Taschen.

Bei den drei Säulen! Er hat ihn so schnell getötet … als wäre Avon nur ein Straßenköter!

„Wer bist du?“, flüsterte Sirian leise.

Der Fremde erhob sich, sah Sirian an. Obwohl es nun hell genug war, konnte Sirian das Gesicht nicht erkennen. Es war, als fliehe das Licht vor dem Mantel und der Kapuze.

„Ich bin ein Freund“, erwiderte der Fremde und trat mit seiner Fußspitze auf den Leichnam Avons, „im Gegensatz zu diesem Mörder hier.“

Sirian wandte den Blick von den toten Augen des Mannes ab und hielt sich den Magen.

Er wusste nicht, wer der Fremde war, aber er war dankbar für dessen Anwesenheit und Hilfe.

Ohne ihn wäre ich jetzt tot …

„Dieser Mörder“, fuhr der Fremde leise fort und verschränkte die Arme vor der Brust, lief dabei langsam aus der engen Gasse hinaus, „er war nicht der Einzige. Ihr Anführer ist ein Mann namens Azard Ciantá, einer der besten Assassinen der Welt. Ich denke du weißt, warum sie hinter dir her sind … Godrics Tod. Wem hättest du davon erzählen können?“

Sirian folgte dem Fremden aus der Gasse, kratzte sich dabei nachdenklich am Kinn.

„Nun eigentlich der Kräuterhexe Bruxa, dem Wirt und …“, Sirian versagte die Stimme und wie mit einem Donnerschlag fiel es ihm ein, „beim Letzten Herrscher!“

Schnell wirbelte der Fremde herum und packte ihn fragend an den Schultern.

„Was? Wem noch?“

„Meine Schwester!“, stieß Sirian aus und schluchzte leise.

„Ich hätte genug Zeit gehabt, es meiner Schwester zu erzählen!“

Wenn es stimmt, was Avon gesagt hat, dann haben sie Melanie schon … dann bin ich an ihrem Tod Schuld, nicht die Krankheit. Meine Schuld …

Der Fremde fluchte leise, zog mit einem singenden Ton sein Schwert und stieß Sirian voran.

„Los, bring uns hin! Und beeil' dich!“, drängte er, doch das war nicht nötig. Sirian war schon losgerannt, es war ihm egal, ob ihm der Fremde folgte oder nicht.

Fort waren die Schmerzen, fort das Brennen und Stechen in der Seite! Melanie war in Gefahr! All die anderen Gefühle wischte er weg, wurden durch ein Einziges ersetzt. Angst! Schon waren sie an der Taverne vorbei, sein Haus kam immer näher. Sirian bildete sich ein, einen Schrei zu hören, woraufhin er die Zähne zusammen biss und noch einmal sämtliche Kraftreserven mobilisierte. Leise Stimmen drangen an sein Ohr, Gelächter und eindeutig Schreie.

Nein, das darf nicht sein! Lasst meine Schwester in Ruhe! Lasst sie in Frieden! Sie kann nichts dafür! Sie wird sowieso schon sterben, also lasst sie!

Hinter ihm hörte er die leisen Schritte des Fremden, ruhig und gelassen, als stelle das Rennen für ihn keine Anstrengung dar. Erneut ertönten Schreie und je näher sie kamen, desto leiser wurden die Schreie, bis sie schließlich vollkommen verstummten.

Sirian stürmte um die Ecke.

Nur noch die Gasse runter, dann bin ich da! Bitte halte durch, bitte, bitte, bitte!

Bevor er um die Ecke rennen konnte, packte ihn ein Arm und zerrte ihn zurück, eine behandschuhte Hand legte sich auf seinen Mund und drückte so fest zu, dass er keinen Laut von sich geben konnte. Als Sirian panisch den Kopf wandte, um zu sehen, wer es war, erkannte er den Fremden und hörte auf, sich zu wehren.

„Nicht bewegen!“, zischte der Fremde leise und ließ so weit locker, dass Sirian im Schutze der Dunkelheit um die Ecke spähen konnte. Vor dem Haus lehnte ein Mann an der Fassade der anderen Häuser und schien auf etwas zu warten. Er hatte langes schwarzes Haar und eine Narbe zog sich über das gesamte Gesicht.

„Das ist Azard, der Anführer der Inquisition. Die Inquisition ist die Gruppe, von der der Wirt vorhin sprach. Sie haben versucht, dich umzubringen“, flüsterte der Fremde und Sirian spürte, wie er sich anspannte. Schritte polterten durch das Haus seiner Schwester und Sirian fühlte sich, als falle er in ein sehr tiefes schwarzes Loch.

„Sie sind dort drinnen!“, murmelte er hinter der Hand des Fremden und versuchte erfolglos, sich zu befreien.

„Ich muss ihr helfen! Lass mich los! Die wollen mich, nicht meine Schwester!“

Er fragte nicht, woher der Fremde all diese Dinge wusste; es war ihm auch egal!

Aber wieso standen sie hier und taten nichts!

Der Fremde lachte kalt und zog Sirian wieder etwas zurück, sein Arm schloss sich wie eine eiserne Zange um seinen Hals.

„Wir wissen beide, dass deine Schwester des Todes ist, Sirian. Es wäre sinnlos für jemanden sein Leben zu opfern, der sowieso bald sterben wird. Im Grunde wird es jetzt schmerzloser gehen, als wenn die Krankheit sie holt – und sie stirbt in dem Glauben, niemals ernsthaft krank gewesen zu sein. Sie stirbt in dem Glauben, dass sie bis jetzt etwas Schönes hatte und erleben durfte. Wofür willst du das zunichte machen? Damit sie den Rest ihres Lebens damit verbringt, sich vor dem Tag zu fürchten, da die Eversia ausbricht? Damit sie von dem Wissen gemartert wird, dass ihr Leben von vorne herein nur ein Fliegenklatsch war im Vergleich zur Lebensspanne eines anderen Menschen?“

Sirian knirschte mit den Zähnen, wehrte sich gegen den Griff des Fremden, aber Sirian wusste, dass er Recht hatte. Seine Schwester würde sterben und mit einer schönen Erinnerung an ihr Leben gehen, nicht verbittert und gepeinigt; jedoch war es seine Schuld, dass sie überhaupt so starb!

Ich kann das nicht! Ich kann nicht damit leben, dass sie wegen mir ein Opfer von Gewalt wird! Mein ganzes Leben habe ich damit verbracht, sie vor unserem Vater zu beschützen und dafür zu sorgen, dass sie von seinen Wutanfällen verschont bleibt! Es kann jetzt nicht so enden! Nicht so, nicht jetzt!

„Ist mir egal! Ich will sie retten! Lass mich los! Wenn es sein muss, töte ich sie alle! Allesamt!“, wollte er schreien, doch heraus kam nur ein trockenes Keuchen.

„Allein? Ohne Waffen? Gegen …“, er spähte nun kurz zu dem Haus, aus dem nun sieben Männer hinaus kamen, „gegen acht Männer, von denen einer Azard ist, einer der gefürchtetsten Schwertkämpfer des Landes?“

Sirian funkelte den Fremden böse an, wehrte sich aber nicht mehr und schaute nun direkt in die durchdringende Schwärze in dessen ´Kapuze.

„Du könntest es tun! Du könntest sie retten! Ich habe dich gegen Avon kämpfen sehen und …“

„Nein!“, unterbrach der Fremde ihn und schüttelte den Kopf.

„Es ist bereits zu spät. Und jetzt schweige, sie reden!“

„Dieser Paladin … Sirian, er ist nicht im Haus“, knurrte einer der Männer und verschränkte seine muskulösen Arme vor der breiten Brust. Die anderen Männer hatten alle eine ähnliche Statur, glichen gewöhnlichen Dockarbeitern – dies war auch einer der Gründe, warum die Überfälle und Gewalttaten an sich eher seltener vorkamen als in anderen Vierteln. Wer legt sich schon gerne mit einer Familie an, in der die Söhne von klein auf arbeiten müssen und die Väter Muskeln haben, mit denen sie einen Ochsen bezwingen könnten? Die Kriminalität hier beschränkte sich beinahe hauptsächlich auf Einbrüche während der Abwesenheit der Arbeiter und auf die Korruption der Behörden … die allerdings in einem schöneren Teil der Hafenstadt saßen, meistens direkt an den Docks.

Dort bekam man nichts mit von den Verbrechen der Schläger Savarons und die Behörden schlossen die Augen nur zu gerne, wenn sie dafür das beruhigende Klimpern von Goldmünzen in ihren Geldbeuteln hören konnten.

Azards blaue Augen verengten sich zu Schlitzen und er fluchte leise.

„Dieses Mädchen … hat sie etwas gewusst? Hat sie etwas verraten?“

Die Männer warfen sich verstohlene Blicke zu und grinsten breit.

„Keine Ahnung, wer sie war und mehr als zu schreien hat sie nicht gemacht. Das war auch nicht unsere Aufgabe, für die du uns bezahlen wolltest, … Herr! Wir sollten in das Haus und schauen, ob der Paladin dort ist und wenn ja, ihn töten. Nicht mehr – und ich will jetzt mein Geld.“

Die anderen grunzten zustimmend und Azard warf ihnen einen Blick zu, der schärfer war, als jede Klinge.

„Nun gut …“, antwortete Azard gedehnt und der gefährliche Ausdruck verschwand augenblicklich aus seinen Zügen.

„Ich will, dass ihr euch um die Leiche des Mädchens kümmert. Geht hoch, beseitigt alle Spuren und die Leiche. Danach gebe ich euch euer Geld, genau hier.“

Um seine Worte zu bekräftigen, deutete Azard auf genau die Stelle, an der er stand und die Männer seufzten laut hörbar, wandten sich allerdings um und betraten erneut das Haus.

„Sie werden alle sterben“, zischte der Fremde und Sirian sah überrascht auf.

Mit einem Nicken deutete der Fremde auf Melanies Haus; Azard trat an die Haustür vor, zog einen kleinen Dolch, öffnete die Tür einen Spalt breit und holte eine 'Kugel' hervor, die er mit einem kalten Lächeln streichelte.

„Was ist das?“, fragte Sirian hinter der Hand des Fremden und dieser lachte freudlos auf.

„Eine Art Drachenbombe nur im kleinen Format. Bei Stoßangriffen werden sie meist verwendet, um das Gebiet soweit zu räumen, dass man relativ sicher stürmen kann. Godric hat sie entworfen, während der Zeit der Vampirkriege. Eine kleine magische Kapsel enthält Drachenfeuer und sobald man sie aktiviert, hat man fünf Sekunden, bevor sie explodiert und alles in flüssiges Feuer taucht, das sich mit Wasser nur sehr schwer löschen lässt. Diese Flammen kann man nur ersticken, nicht wirklich löschen“, erklärte der Fremde und Sirians Augen weiteten sich.

Godric soll das entworfen haben? Der friedliebende, freundliche Priester hat Waffen konstruiert?

Sirian warf seinem Retter einen verstohlenen Blick zu.

Und woher weiß er das alles? Er kennt die Inquisition, kennt ihren Anführer, weiß, dass das eine kleine Drachenbombe ist, kennt ihren Erfinder und wann sie benutzt worden sind. Wer bei den drei Säulen ist das?

Azard ließ die Kugel leicht klicken und rollte sie in das Haus, schlug die Tür zu und hieb einen Dolch quer durch das Schloss, so dass es nicht mehr funktionierte.

Sirians Augen weiteten sich und er wollte schreiend aus seiner Ecke brechen und Azard angreifen, aber der Fremde hielt ihn eisern fest und zog ihn weiter weg, tiefer in die Schatten hinein.

Azard trat nur einige Schritte zurück und versteckte sich hinter einer Ecke, während die Männer drinnen das Zuschlagen der Tür mit einem überraschten Grunzen quittierten.

Plötzlich sah einer von ihnen die kleine Drachenbombe und laute Schreie erhoben sich, jemand warf sich gegen die blockierte Tür und mit einem ohrenbetäubenden Fauchen schossen auf einmal Flammen aus den Fenstern, ließen die Bullaugen explodieren, die Tür barst nach außen und brennende Männer rannten kreischend heraus, warfen sich auf den Boden und wälzten sich im Schlamm, aber sie brannten weiter, egal wie nass sie wurden.

Die Druckwelle schlug Sirian ins Gesicht und das Feuer breitete sich schlagartig nach oben aus, brannte sich die weiteren Etagen des Hauses hinauf und der schwarze Qualm stieg hinauf in die Luft, deutlich sichtbar am Mittagshimmel Moréngards.

Azard wandte sich von den Flammen ab und Sirians Versteck zu, rannte los und der Fremde seufzte leicht überrascht.

„Wir müssen hier weg und das so schnell wie möglich …“, stöhnte er und warf sich Sirian auf die Schultern, als wöge dieser nichts.

Sirian schlug auf den Rücken des Fremden, trat mit den Beinen aus, aber es fühlte sich an, als schlüge er mit den bloßen Fäusten auf Stahl.

„Lass mich gegen Azard kämpfen! Ich will meine Schwester rächen! Lass mich los, verdammt …!“

Weiter kam er nicht, denn der Fremde schoss los, schneller als ein gewöhnlicher Mensch es jemals könnte und ließ das brennende Gebäude weit hinter sich. Je weiter sie davon weg kamen, desto öfter kamen ihnen panische Bürger entgegen, die Eimer voll Sand, Schlamm oder Wasser trugen, um das Feuer zu löschen. Einer schrie laut, man solle eine Kette zu den Docks bilden, aber die Menschen rannten panisch umher, versuchten teils zu fliehen, teils zu helfen.

Ein Funke an der falschen Stelle und das gesamte Viertel würde in einem gewaltigen Feuersturm untergehen; Sirian konnte nicht fassen, dass jemand so viel Schaden riskierte, nur um ihn zu töten!

Allerdings würden jegliche Beweise nun vollkommen vernichtet – niemand würde mehr nachvollziehen können, dass es sich um einen Mord gehandelt hatte; es glich einem Unfall … einem Unfall mit gewaltigem Ausmaß.

Nach einer Weile ließ der Fremde Sirian von seiner Schulter fallen und hielt ihn so fest, dass er sich nicht rühren konnte; der Fremde lauschte kurz.

„Wir haben Azard abgehängt … sehr gut. Sirian, hast du einen Ort, an den du dich in so einem Fall zurückziehen kannst? Irgendjemand, dem du vertraust?“

Sirian nickte wie betäubt; er schaffte es immer noch nicht, all das was geschehen war, zu realisieren.

Mein Zuhause ist vernichtet, die Hafenstadt wird mit etwas Pech abbrennen und meine Schwester wurde wegen des Mordes an Godric ermordet … und das nur weil sie davon wissen könnte.

Wo soll ich jetzt hin? Wie soll ich weitermachen? Alles, was mir im Leben einmal wichtig war, ist in Flammen aufgegangen.

Sirian starrte regungslos auf den matschigen Boden und versuchte die gewaltige Last der Schuld auf seinen Schultern abzulegen, doch er schaffte es nicht. Er war schuld am Tod seiner Schwester, daran gab es keinen Zweifel – er ganz allein.

Ich hatte niemals die Chance, ihr endlich die Wahrheit zu sagen. Ich habe sie angelogen, ihr ganzes Leben lang und als ich es ihr sagen wollte, hat das Schicksal mir diese Chance genommen. Nun muss ich mit dem Wissen leben, niemals zu Melanie ehrlich gewesen zu sein.

Halb erwartete er, plötzlich schweißgebadet aufzuwachen, irgendwo in der Festung und gesagt zu bekommen, dass er aufstehen könne, dass Godric noch am Leben sei und er zu seiner Schwester dürfe.

„Ich kenne einen Paladin namens Liyold; er hat mich im Hafenviertel gefunden und mich zu Aaron gebracht“, antwortete er langsam und hob den Kopf.

Liyold war der Einzige, dem er mit Aaron noch trauen konnte; die einzige andere Person, der er vertraut hatte, war nun tot, einfach vom Antlitz der Welt gewischt.

„Gut“, antwortete der Fremde leise und ließ seine Fingerknochen krachen, „dann suche diesen Liyold auf und lasse dir dort weiterhelfen. Es tut mir leid.“

Trotz seiner Erschöpfung schaffte Sirian es, überrascht drein zu blicken.

„Es tut dir leid? Was soll dir denn leidtun? Du hast absolut gar nicht …“, der Fremde griff nach ihm und bevor Sirian seinen Satz beenden konnte, warf er Sirian in eine kleine Mulde im Fundament eines Hauses, die in die Kanalisation führte. Fassungslos rutschte Sirian über die steinerne Kante, der Gestank der Kanalisation schlug ihm in die Nase und er krachte mit voller Wucht auf den Stein, rutschte halb in das dreckige Wasser.

Bevor er das Bewusstsein verlor, hörte er Azard oben laut fluchen.

Pfad des Feuers

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