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DIE UNENDLICHE GESCHICHTE

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In das verschlafene Antiquariat Koreander stolpert eines Novembermorgens ein regennasser zehn- oder elfjähriger Junge namens Bastian Balthasar Bux. Er befindet sich auf der Flucht vor seinen Schulkameraden, gegen deren bösartige Streiche er sich nicht zu wehren wagt. Auch sonst ist Bastian, wie Herr Koreander bald abschätzig feststellt, »ein Versager auf der ganzen Linie« (UG 9): Er ist dick, unsportlich und ein miserabler Schüler. Aber wie die kleine Momo jenes des Zuhörens, besitzt auch er ein ebenso verborgenes wie wunderbares Talent: Er ist ein begnadeter Träumer. »[V]ielleicht war es das einzige, was er wirklich konnte: sich etwas vorstellen, so deutlich, daß er es fast sah und hörte. Wenn er sich selbst seine Geschichten erzählte, dann vergaß er manchmal alles um sich herum« (26). So ist es nicht verwunderlich, daß er sich magisch von einem Buch namens Die unendliche Geschichte mit »Einband aus kupferfarbener Seide« und »wunderschöne[n] große[n] Anfangsbuchstaben«47 angezogen fühlt, das der beschäftigte Koreander einige Augenblicke zur Seite gelegt hat. Kurz entschlossen nimmt er es an sich und läuft davon. Als ihm schlagartig klar wird, daß er gestohlen hat, wagt er sich nicht mehr zu seinem Vater nach Hause, sondern schleicht sich auf den Dachboden seiner Schule, wo er, auf einem Mattenlager sitzend, Die unendliche Geschichte zu lesen beginnt.

Zu seiner Freude stellt er fest, daß sie ihn – »genau […] wie seine eigenen Geschichten« (26) – in eine bunte, lebendige Welt voller fabelhafter, komischer und schauriger Figuren entführt: das weite, ja unendliche Reich Phantásien. Aber diese Welt ist in schrecklicher Gefahr: Sie löst sich langsam, aber stetig buchstäblich in Nichts auf (»anfangs [war es] nur ganz klein, ein Nichts, so groß wie ein Sumpfhuhn-Ei […]. Niemand von uns konnte sich erklären, was diese schreckliche Sache sein sollte, […] [die] sich immer mehr ausbreitete« (24)), eine Katastrophe, die ganz offenbar in Zusammenhang steht mit der unerklärlichen Krankheit der Kindlichen Kaiserin – des mystischen Zentrums von ganz Phantásien. Mit dem geheimnisvollen Amulett AURYN48 als Zeichen ihrer Macht versehen, wird die »Grünhaut« Atréju (der an einen Indianerjungen erinnert) auf die »Große Suche« (43) nach einem Heilmittel durch die vielgestaltigen Länder Phantásiens geschickt. Atréju erweist sich dabei als ausdauernd, tapfer und mutig und besitzt somit gerade jene Eigenschaften, die Bastian völlig fehlen. Doch als ihn sein Weg durch einen Zauberspiegel führt, der jedem »sein wahres inneres Wesen« (95) zeigt, widerfährt ihm etwas sehr Seltsames: Atréju erblickt »einen dicken Jungen mit blassem Gesicht – etwa ebenso alt wie er selbst – der mit untergeschlagenen Beinen auf einem Mattenlager saß und in einem Buch las« (99). Bastian erschrickt gewaltig, versucht das Ganze jedoch als »Zufall« abzutun und verfolgt gebannt die weitere Große Suche. Von einem Orakel erfährt Atréju (und Bastian), daß nur ein »Menschenkind«, das sich entschließt, nach Phantásien zu kommen und der Kindlichen Kaiserin einen neuen Namen zu geben, ihren Tod und damit die völlige Vernichtung des Reiches abwenden kann. Dies jedoch ist seit undenkbaren Zeiten nicht mehr geschehen, da die Menschen, sehr zum Schaden auch ihrer eigenen Welt, den Weg nach Phantásien offenbar vergessen haben. Als die Grünhaut mit dieser dramatischen Botschaft zur Kindlichen Kaiserin zurückkehrt, geschieht etwas, das Bastian endgültig die Augen öffnet. Für einen kurzen, magischen Moment erblickt er die Kaiserin leibhaftig vor sich und weiß sofort: »Mondenkind. Es gab überhaupt nicht den geringsten Zweifel, daß dies ihr Name war« (161). Die Kindliche Kaiserin lobt Atréju dafür, daß er »unseren Retter« (166) mitgebracht habe, was jener nicht, Bastian aber nur zu gut versteht: Er und niemand anders kann dieser Retter sein. Dennoch wagt er nicht, der Aufforderung Mondenkinds nachzukommen, »mich bei meinem neuen Namen zu rufen, den nur er weiß« (170). Gequält muß er lesen, wie die Kaiserin lange vergeblich auf ihn wartet und schließlich ihren Palast verläßt, um als letztes Mittel den Alten vom Wandernden Berge aufzusuchen. Ihre Entschlossenheit verheißt Bastian nichts Gutes.

Wer aber ist der Alte vom Wandernden Berge? Er erweist sich als der Chronist Phantásiens, der alle Geschehnisse in seinem »in kupferfarbene Seide gebunden[en]«49 Buch vermerkt. Dessen Titel lautet – sehr zu Bastians Verblüffung – Die unendliche Geschichte. »[…] kein Zweifel, es war das Buch, das er in der Hand hatte, von dem da die Rede war. Aber wie konnte dieses Buch denn in sich selbst vorkommen?« (183) Die Kindliche Kaiserin bedrängt den Alten, Die unendliche Geschichte von Anfang an vorzutragen, wovor er eindringlich warnt. Schließlich fügt er sich und beginnt zu lesen, aber nicht etwa das Buch in Bastians Händen, sondern – Endes Roman! Blankes Entsetzen packt Bastian, als er sein eigenes Erscheinen im Antiquariat Koreander, den Diebstahl, die Flucht auf den Dachboden der Schule und sogar all seine Gedanken bei der Lektüre der Unendlichen Geschichte detailliert wiedergegeben findet. Auch die Unendliche Geschichte selbst wird natürlich ein zweites Mal erzählt: von der Krankheit der Kindlichen Kaiserin über Atréjus Große Suche bis zum Alten vom Wandernden Berge. Hier aber zeigt sich die Katastrophe, vor der der Alte gewarnt hat: Erneut beginnt er sein Buch vorzutragen; erneut betritt ein dicklicher Junge das Antiquariat Koreander. Bastian, der nicht mehr aufhören kann zu lesen, erkennt plötzlich, daß ihn die Kindliche Kaiserin in einem ausweglosen »Kreis der ewigen Wiederkehr«50 gefangen hat. Da endlich, mit dem Mut der äußersten Verzweiflung, »schrie er plötzlich: ‚Mondenkind! Ich komme!’« (190), sprengt so den Kreislauf, wird in das Buch hineingezogen und selbst Teil der Unendlichen Geschichte.

Nun beginnt das Abenteuer für Bastian erst richtig. Allein mit der Kindlichen Kaiserin im Dunkel schwebend, wird er von ihr beauftragt, Phantásien aus einem winzigen Sandkorn (»alles, was von meinem grenzenlosen Reich übriggeblieben ist« (195)) nach seinem Willen neu zu errichten. Scheidend ermächtigt sie ihn durch ihr Zeichen AURYN, all jene Wesen und Welten Gestalt werden zu lassen, die seinen (bewußten oder unbewußten) Wünschen entsprechen. So erfüllt sich etwa Bastians Traum von Ausdauer und Zähigkeit auf dem Marsch durch »die größte Wüste Phantásiens« (207); jener von bewundernder Anerkennung zeitigt eine Art Ritterturnier, bei dem er durch seine Fähigkeiten zu glänzen vermag. Je mehr er aber auf diesem Weg voranschreitet, desto mehr erlischt die Erinnerung in ihm, »daß er nicht immer stark, schön, mutig und mächtig gewesen war« (268). So verleiht AURYN zwar dem »Menschenkind« Bastian ungleich größere Macht als zuvor dem Phantásier Atréju (den er sich bald als Gefährten »herbeiwünscht«), nimmt ihm dafür aber gleichzeitig Stück für Stück seiner Identität. Indes werden Bastians Wünsche im Laufe der Zeit immer düsterer: scheinbar harmlosen nach Verehrung als »großer Dichter« (256) oder »Wohltäter« (275) folgt bald schon jener, »gefährlich und gefürchtet« (301) zu sein. Vergebens drängt ihn Atréju, der sich zunehmend Sorgen um seinen Freund macht, heimzukehren und seine »Welt in Ordnung zu bringen, damit wieder Menschen […] nach Phantásien kommen« (289); denn nicht einmal der Gedanke an den eigenen Vater, den er seit dem Tod der Mutter als völlig verschlossen und unnahbar erlebt hat, zieht Bastian in jene Welt zurück. So strebt er stattdessen geradewegs ins Zentrum Phantásiens, dem Elfenbeinturm der Kindlichen Kaiserin zu, verschleudert dabei seine Erinnerungen für Wünsche nach Größe und Glanz und steigert sich mehr und mehr in fiebrige Allmachtsphantasien hinein. Als er Mondenkind im Elfenbeinturm nicht vorfindet, befällt ihn schließlich regelrechter Cäsarenwahn: Er erklärt, »daß er von nun an ihre Stelle einnehme« (349) als Herrscher »einer Welt, die bis in alle Einzelheiten nach [seinem] Belieben zu gestalten war, in der er nach Willkür schaffen und vernichten konnte, in der es keine Schranken und Bedingungen mehr gab« (347).

Da sieht Atréju, der vom arroganten und aufbrausenden Bastian mittlerweile verstoßen wurde, nur noch eine Möglichkeit, seinen Freund zu retten: Er sammelt ein Heer und versucht Bastians Krönung zum Kaiser mit Gewalt zu verhindern. In der blutigen »Schlacht um den Elfenbeinturm« (337) behält er zunächst die Oberhand, zögert aber dann, Bastian das Amulett AURYN abzunehmen. Dieser brüllt ihn an: »Verräter! […] Du bist mein Geschöpf! Alles habe ich ins Dasein gerufen! Auch dich!« (356), zieht sein Schwert und verwundet Atréju schwer, der nur um Haaresbreite gerettet wird und dessen Truppen sich daraufhin zurückziehen. Rasend vor Wut verfolgt ihn Bastian – verirrt sich jedoch in ein grauenhaftes »Tollhaus von Stadt« (370), das von offenbar unheilbar Geisteskranken bevölkert wird. Vom »Aufseher« des Ortes, dem zynischen Äffchen Argax, erfährt Bastian zu seinem Entsetzen, daß diese keine Phantásier, sondern Menschen sind, die den Weg zurück in ihre Welt verfehlt und so ihre Identität, ihre Sprache und ihren Verstand verloren haben. Bastian ist in die Alte Kaiser Stadt geraten: »[…] jeder, der nicht zurückfindet, will früher oder später Kaiser werden« (366). Aber auch jene, die »ihren letzten Wunsch zu irgend etwas anderem verwendet« (365) haben, landen in Argax’ schauriger Stadt. Da erst wird Bastian klar, daß mit seiner letzten Erinnerung auch seine Fähigkeit zu wünschen erlöschen wird. Als er von Argax »für diesmal noch« (369) aus der Stadt entlassen wird, ist nichts mehr für ihn, wie es vorher war.

Einsam und voller Reue wandert Bastian durch Phantásien. Wünsche ganz neuer Art beginnen sich in ihm zu regen: Er will einer Gemeinschaft angehören; er will geliebt werden als der, der er wirklich ist. Nachdem aber beide Wünsche erfüllt sind – der eine durch die Kameradschaft der kollektivistischen Yskálnari, der andere durch die mütterliche Liebe der Blumendame Aiuóla –, hat Bastian beinah alle seine Erinnerungen verloren. Gestrandet schließlich beim blinden Bergmann Yor, der nach menschlichen Träumen schürft, bleibt Bastian nur noch ein einziger Wunsch, um den Weg zurück zu finden: jener, selbst lieben zu können. Aber Yor fragt: »Wen? Lieben kann man nämlich nicht einfach so irgendwie und allgemein. Du aber hast alles vergessen außer deinem Namen. […] Drum kann dir nur noch ein vergessener Traum helfen, den du wiederfindest« (402). So schürft Bastian in unendlich mühsamer Kleinarbeit in Yors Bergwerk der Bilder – bis er schließlich eines zu Tage fördert, das ihn sofort mit tiefer Sehnsucht erfüllt. Es zeigt einen Mann, der in einem Eisblock eingeschlossen ist und dessen Blick ihm zu sagen scheint: »Hilf mir! Nur du kannst mich daraus befreien – nur du!« (406) Obwohl Bastian seinen Vater nicht mehr erkennt, weiß er, daß seine Suche zu Ende ist. Doch dem »Jungen ohne Namen«, der er nun ist, zerfällt das Bild und damit die letzte Hoffnung unter den Händen. Da taucht plötzlich Atréju auf, den Bastian im Kampf um AURYN beinah getötet und der ihn dennoch nie aufgeben hat. Nun aber legt der Junge ohne Namen das Amulett freiwillig ab – und findet sich darauf mit Atréju im Inneren des Zeichens wieder. So erweist sich AURYN als das Tor, das er die ganze Zeit gesucht hat; denn die Grenzen Phantásiens »liegen nicht außen, sondern innen« (392). Doch erst als Atréju für ihn einsteht, erhält der Junge ohne Namen seine Erinnerung zurück und darf jenes Tor durchschreiten. Wie beim Eintritt nach Phantásien den Namen der Kindlichen Kaiserin, so ruft Bastian nun: »Vater! – Ich – bin – Bastian – Balthasar – Bux!« (419)

Ohne Übergang findet Bastian sich auf dem Dachboden der Schule wieder, von wo er vor vermeintlich »langer Zeit« (419) zu Mondenkind aufgebrochen ist. Die unendliche Geschichte ist spurlos verschwunden. Heimkehrend zum besorgten Vater erfährt er, daß er nur eine einzige Nacht menschlicher Zeit in Phantásien verbracht hat. Und doch ist nichts mehr wie zuvor. Mit der Geschichte seiner Reise gelingt es Bastian, das Eis zwischen ihm und dem schwer depressiven Vater zu brechen, ja diesen sogar zu Tränen zu rühren. Aber auch Bastian selbst hat sich im Innersten verändert: Mutig sucht er anderntags Herrn Koreander auf und gesteht ihm den Diebstahl und das Verschwinden der Unendlichen Geschichte. Dieser jedoch meint, ihm fehle kein Buch. Er läßt sich Bastians haarsträubendes Abenteuer in allen Details schildern und bemerkt dann seelenruhig: »Du hast mir dieses Buch nicht gestohlen, denn es gehört weder mir noch dir […]. Wenn ich mich nicht irre, dann stammte es selbst schon aus Phantásien. Wer weiß, vielleicht hat es genau in diesem Augenblick gerade jemand anders in der Hand und liest darin.« Auf Bastians verblüffte Frage, ob er ihm das Erzählte denn glaube, erwidert er: »Selbstverständlich […] jeder vernünftige Mensch würde das tun.« Es stellt sich heraus, daß es sich bei dem griesgrämigen Koreander um einen erfahrenen Phantásienreisenden handelt. Die Unendliche Geschichte sei nicht das einzige Tor in jenes Reich, offenbart er Bastian, denn: »Jede wirkliche Geschichte ist eine Unendliche Geschichte« (426). Erleichtert und glücklich kehrt Bastian zum Vater zurück. Am Ende steht Koreanders Prophezeiung: »Bastian Balthasar Bux […] wenn ich mich nicht irre, dann wirst du noch manch einem den Weg nach Phantásien zeigen […].« (428)

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