Читать книгу Michael Endes Philosophie - Alexander Oberleitner - Страница 18

1.Über die Möglichkeit einer philosophischen Interpretation poetischer Texte

Оглавление

Im Gespräch mit Hanne Täschl und Erhard Eppler klagt Michael Ende:

In unserem »verkopften« Jahrhundert dressiert man ja schon die Schulkinder im Umgang mit Literatur zu der Frage: Was wollte der Dichter uns sagen? Man sucht immerfort nach einer »Aussage«, nach einer »Botschaft«, nach einer »Lehre«, die der Autor dem Leser oder dem Zuschauer erteilt. Wenn man die herausdestilliert hat, dann – meint man – habe man die Sache verstanden. Damit wird alle Poesie zu einer Verpackungsfrage degradiert. Der Dichter verpackt seine »Botschaft« in poetische Formeln wie in ein hübsches Einwickelpapier, und der Leser oder Zuschauer muß es [sic] bloß wieder auswickeln.54

Diese Kritik kann wohl jeder nachvollziehen, der selbst den oft lieblosen Umgang mit Literatur im Schulunterricht erlebt hat, welcher nicht wenigen die Lust am Lesen raubt und zu dem auch das tendenziell gewaltsame und schematische »Interpretieren« von Texten gehört. Bedenklich daran ist vor allem, wie frag- und scheinbar mühelos hier oft der Abgrund (um ein Diktum aus Celans Theorie der Übersetzung zu verwenden)55 zwischen poetischer und argumentativer Sprache überschritten wird, ohne sich mit der Suche nach einem gangbaren Steg aufzuhalten.

Tatsächlich sind es zwei Prämissen, auf denen diese Art der Interpretation von poetischen Texten fußt. Erstens wird davon ausgegangen, daß eine strikte Trennung zwischen Inhalt und Form (»Botschaft« und »Verpackung«) eines literarischen Werkes möglich und sinnvoll sei; zweitens, daß es sich bei dieser um bloßes Beiwerk und Schmuck, bei jenem aber um das Eigentliche des Textes handle, das der Interpret daher herauszuarbeiten (»auszuwickeln«) habe. Beides ist freilich ausgesprochen fragwürdig, worauf nicht nur Ende nachdrücklich hingewiesen hat. Daniel Jones etwa schreibt in seiner Ausgabe der Lyrik des walisischen Dichters Dylan Thomas:

[…] wenn man versuchte, das Dichterische in andere Wörter zu »übersetzen«, es interpretierend in andere Gedanken zu fassen, dann wäre das so, als ob man die Umrisse einer Zeichnung begradigen und ihre Bedeutsamkeit durch das Ausmessen des Ergebnisses in Zoll vorführen würde.56

Wie ist mit dieser Problematik umzugehen? Wenn wir nicht überhaupt auf jede Art gedanklicher Auseinandersetzung mit Literatur verzichten wollen, so gilt es, einen Pfad abseits von »Botschaften« und »Begradigungen« zu suchen; vor allem aber, uns der so naheliegenden wie selten gestellten Frage zuzuwenden: Worin besteht eigentlich der Unterschied zwischen argumentativer und poetischer Sprache?

Eine mögliche Antwort wurde bereits angedeutet: Die eine vollzieht sich in abstrakten Begriffen, die andere hingegen in unmittelbarsinnlichen Bildern. Nun könnte man diesen Gegensatz, vom begrifflichen Denken aus, relativ leicht überbrücken, indem man letztere einfach als Metaphern versteht, die es entsprechend zu erschließen gilt. Die Aufgabe des Interpreten wäre in diesem Falle die der Abstraktion: Indem er den begrifflichen Kern aus dem poetischen Text herauslöst, hätte er diesen seiner Bildlichkeit zu entkleiden. So könnte er z. B. den Schlaf Dornröschens im gleichnamigen Märchen als ein Bild für Depression und die Dornenhecke als Symbol für die Abwehr von Hilfe erkennen, die Rettung durch den Prinzen hingegen als Metapher für die Möglichkeit der Heilung, usf.

Es ist leicht zu sehen, daß wir hier bereits auf den Irrweg der »Botschaften« geraten sind. Was haben wir durch die »Übersetzung« etwa des Textelements Schlaf in De-pression (lat. »Niedergedrücktheit«) erreicht? Nicht nur, daß wir das Märchen banalisiert, trivialisiert und dadurch seines poetischen Zaubers beraubt haben, wir haben auch unser Ziel verfehlt: Wir sind jene Bildlichkeit, die wir zu entfernen glaubten, gar nicht losgeworden, sondern haben lediglich ein Bild durch ein anderes (vermutlich schwächeres) ersetzt. Mehr war uns schon deshalb nicht möglich, weil es eine von aller Metaphorik gereinigte Begrifflichkeit gar nicht gibt.57 Tatsächlich ist das bildliche, oder sagen wir besser und genauer: das sinnliche Element58 wesentlicher Bestandteil jeder menschlichen Sprache – der wissenschaftlichen genauso wie der poetischen. Begründet ist dies letztlich in den Strukturen unseres Bewußtseins selbst. Wie nämlich kein Leser das Märchen verstehen kann, ohne sich eine konkrete Dornenhecke vorzustellen, so kann auch der Mathematiker »keine Linie denken, ohne sie in Gedanken zu ziehen« (Immanuel Kant59). So setzt z. B. auch die entscheidende philosophische Frage nach dem Grund alles Endlichen bereits eine Leistung der Imagination voraus, für die stets auch ein sinnliches Element benötigt wird. Jeder Versuch, dieses abzuschütteln, etwa indem anstatt vom Grund vom Absoluten (lat. »das Abgelöste«) gesprochen wird, führt uns nur zu immer neuen Bildern.60

Was poetische und argumentative Sprache wesenhaft trennt, ist also nicht einfach, wie man auf den ersten Blick annehmen könnte, die Sinnlichkeit der einen und gedankliche Abstraktheit der anderen. Daß etwa zwischen den Sätzen »Der Prinz überwand die Dornenhecke, um Dornröschen aus ihrem Schlaf zu erwecken« und »Das Endliche in seiner Relativität setzt einen absoluten Grund voraus« ein essentieller Unterschied besteht, ist indes offensichtlich. Was aber macht diesen Unterschied aus?

Betrachten wir die angeführten Beispiele genauer, so fällt zunächst auf, daß die einzelnen Elemente des Märchens (der Prinz, die Hecke, Dornröschen, ihr hundertjähriger Schlaf) nicht einfach austauschbar sind. Wer aus der Dornenhecke einen Wassergraben macht, verändert das Märchen – und zwar wesentlich, da dieser als Vorstellungsinhalt schlicht andere Emotionen »transportiert« als jene. Ganz anders verhält es sich bei unserem zweiten Beispiel, wo keine Geschichte erzählt, sondern ein Urteil gefällt wird, das seinerseits einer logischen Begründung bedarf. Während so der argumentative Text seiner Struktur nach strikt an die Regeln der Logik gebunden bleibt, ist er in seiner sinnlichen Komponente hingegen auffallend flexibel. Anders als im ersten Beispiel macht es hier keinen essentiellen Unterschied, ob wir vom End-lichen oder vom Be-dingten sprechen, obwohl doch beide Ausdrücke ganz verschiedene Bilder in sich tragen. Dies zeigt, daß das sinnliche Element, wenn auch unabdingbar für unseren argumentativen Text, doch nicht das ist, worum es ihm letztlich geht. Gerade die philosophische Sprache – um die es uns hier in erster Linie zu tun ist – kann relationale Zusammenhänge auf ganz unterschiedliche Weise »versinnlichen«,61 ohne damit der Genauigkeit des Gedankenganges im geringsten Abbruch zu tun.

Tasächlich birgt zwar jeder Text, vom banalsten Schlager bis zur »Kritik der reinen Vernunft«, immer schon beide Elemente in sich: einen unmittelbar-sinnlichen und einen gedanklich-reflexiven. Das entscheidende Merkmal argumentativer, zumal philosophischer Sprache ist es aber, die sinnliche Komponente im Argument beiseite lassen zu können. Zwar sind sowohl der Schreibende als auch der Leser, sowohl der Sprechende als auch sein Zuhörer gezwungen, sich Inhalte in anschaulicher Weise vorzustellen; aber im Argument spielt dies dennoch keine wesentliche Rolle. Anders als poetische Sprache erhebt philosophische Argumentation keinerlei Anspruch, unmittelbar auf das Gefühl zu wirken (obwohl sie es natürlich auch tut; aber dies wird ebenfalls wiederum beiseite gelassen).

Der poetische Text steht also – im Gegensatz zur begrifflichen Argumentation, die, wie das Beispiel gezeigt hat, prinzipiell imstande und geeignet ist, von ihrer sinnlichen Komponente gewissermaßen abzusehen – immer schon ganz wesentlich in der Spannung zwischen Sinnlichkeit und Denken, zwischen Unmittelbarkeit und Reflexion. Ihm eine jener Botschaften abzupressen, die Ende (berechtigterweise) so sehr verachtet, bedeutet, diese Spannung zu ignorieren, indem mit dem poetischen Text umgegangen wird, als ob er »in Wirklichkeit« ohnehin argumentativ wäre. So kommt es zur berüchtigten Frage: »Was will uns der Künstler eigentlich sagen?« – ganz so, als ob es dem Autor an Talent oder an Kraft gemangelt hätte, seine eigentliche Aussage zu Papier zu bringen. Die Antworten pflegen dementsprechend am Text vorbeizugehen. Wenn in der Unendlichen Geschichte die Kindliche Kaiserin todkrank in ihrem Gemach liegt, tut sie das dann in ihrer Funktion als »Symbolfigur für das Selbst«62 oder doch eher als »archetypische[s] Mutterbild«?63 Oder beides? Ich sage nicht, daß man Bilder wie dieses nicht deuten kann. Tatsächlich bedeutet gerade die Krankheit der Kindlichen Kaiserin für Michael Ende, wie wir noch sehen werden, etwas schlicht Ungeheuerliches – aber so plump ist dieses Etwas nicht zu fassen.

Eine Untersuchung, die immer wieder eine solche »Botschaft« Michael Endes zum Ausgangspunkt nähme, um sie dann mit anderen seiner »Botschaften« zu einem möglichst widerspruchsfreien »System« zu verbinden, würde also im Ergebnis ein Denken Endes aufweisen, das es so nie gegeben hat. Gerade wenn wir sein Denken tatsächlich ernst nehmen wollen, ist es daher nötig, stattdessen vom Sinn seiner einzelnen Texte, wie er der jeweiligen Gesamtheit ihrer sprachlichen Gefüge innewohnt, auszugehen, um von dort her nach seinem Denken zu fragen. Dies bedeutet, unablässig auf die Spannung zwischen Sinnlichkeit und Denken, in der sie stehen, zu achten und auf diese im einzelnen immer wieder kritisch zu reflektieren. Dabei können wir natürlich darauf bauen, daß eine Vermittlung zwischen beiden nicht nur grundsätzlich möglich ist, sondern sogar permanent geschieht, da unsere gesamte Erfahrung sonst in eine sinnliche und eine reflexive Komponente auseinanderfallen würde – wovon glücklicherweise keine Rede sein kann. Ich möchte indes in diesen lediglich hinführenden Notizen noch nicht allzusehr in die Tiefe gehen, sondern nur darauf hinweisen, daß wir mit diesem Thema im Laufe der Untersuchung noch zu tun haben werden.64

Es war in diesem Abschnitt meist vom argumentativen Denken im allgemeinen und weniger vom philosophischen im speziellen die Rede, in der berechtigten Annahme, daß alles, was für jenes gilt, auch auf dieses zutreffen muß. Es könnte indes scheinen, daß die Philosophie, welche ja geradezu ein Hort logischen Denkens ist (oder zumindest sein sollte), mehr von der Poesie trennt als andere Wissenschaften. In der Tat haben wir es hier in gewisser Weise mit Gegensätzen zu tun, Gegensätzen freilich, die nicht nur aufeinander bezogen werden können, sondern von sich aus aufeinander bezogen sind.65 So kann die Philosophie, gerade wegen ihrer exemplarisch strengen Logik und dementsprechend geschärften Begrifflichkeit, in einen echten, sinnvollen Dialog zur Poesie treten – sofern sie sich nur nicht selbst poetisch gebärdet.66 Wenn also der Begründer der modernen Fantasyliteratur, der Brite J. R. R. Tolkien, so treffend bemerkt: »Je klarer und schärfer die Vernunft, desto bessere Phantasien wird sie hervorbringen«67, so bleibt nur zu betonen, daß dies auch vice versa gelten kann: Das begriffliche Denken vermag Bewußtseinswelten zu schaffen, welche die Dichter zu neuen Bildern anregen, die wiederum den Philosophen zu denken geben. Vielleicht kann auch die vorliegende Untersuchung einen bescheidenen Beitrag zu diesem fruchtbaren Kreislauf leisten.

Michael Endes Philosophie

Подняться наверх