Читать книгу Rue de Paradis - Alexander Oetker - Страница 10

Serge Lopez

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Zwanzig Minuten eher und Serge Lopez hätte verschlafen. Ihn rettete nur, dass er die Füße nicht wie sonst auf dem bezogenen Hocker abgelegt, sondern sie aus irgendeinem Grund, den er später nicht mehr nachvollziehen konnte, auf dem Boden abgestellt hatte. So träumte er, als er vorm Fernseher bei einer Folge CSI New York eingeschlafen war, er sei auf seinem Boot, das leckgeschlagen war. Es dauerte, bis er aufwachte, und als er es tat, standen seine Füße längst im Wasser. Er sprang aus dem Sessel, die Wohnstube war schon dreißig Zentimeter hoch überflutet, und das Wasser stieg unaufhaltsam. Doch Serge war schnell, er watete durch das kalte Nass, war schon bei der Haustür, als ihm Gott sei Dank die Hintertür einfiel. Im Garten konnte die Flut noch nicht so hoch sein, sein Lager lag außerdem auf einer kleinen Anhöhe. Er zog die Tür mit aller Kraft auf und rannte in Richtung Anleger, mit einem Satz war er auf seinem Boot und ließ den Motor an. Statt wie sonst den Weg hinaus aufs Bassin zu nehmen, folgte er dem Meer, das wie von einem starken Magneten angezogen der Senke entgegenströmte. Der Regen peitschte das Wasser ringsum auf, der Wind ließ das Boot bedrohlich schaukeln. Er war nun am Anfang der Rue de Paradis unterwegs, die Häuser standen bereits alle zur Hälfte unter Wasser, es hatte maximal drei Minuten gedauert. Er sah den Lichtblitz zu seiner Linken, auf der Atlantikseite, es gab einen Knall hinter den Fenstern, eben war da noch Licht gewesen, oder war das eine optische Täuschung? Nein, es war sicher ein Kurzschluss gewesen, nun war dort alles dunkel. Sie waren also daheim. Seine Wathosen lagen im Boot bereit, sekundenschnell war er hineingeschlüpft, ließ sich ganz nah ans Haus herangleiten, zog sich dann ans Fensterbrett und befestigte die Leine des Bootes an einem Haken am Fensterladen – es durfte um keinen Preis wegtreiben. Dann spähte er durchs Fenster hinein, es war wirklich gänzlich dunkel. Erst scheute er sich, doch dann gab er sich einen Ruck und schlug mit dem Hammer, mit dem er sonst die Fische tötete, die Scheibe ein. Jetzt hörte er die Hilferufe der Frau, Fanny, sie hatte ihn gehört, sie konnte nicht weit sein. Er kletterte durch das Fenster, sprang ab und landete so tief im Wasser, dass die Wathosen gerade so ausreichten – und die gingen immerhin bis über die Brust. Schwerfällig stemmte er sich gegen die Flut und ging in die Richtung, aus der der Schrei gekommen war, er fand sie beide, sie standen in der Küche wie angewurzelt, wobei sich Madame Jean auf die Anrichte gerettet hatte und ihr Mann versuchte, sie von dort oben loszukriegen, er zog an ihr, doch sie hielt dagegen, er zitterte vor Kälte, und sie war kreidebleich, auch ihre Beine waren schon unter Wasser, Serge überlegte nicht lange und schwamm auf sie zu.

»Sie will nicht«, rief Yves. »Fanny, nun komm doch.«

»Meine Küche«, schrie sie, »es ist alles verloren … Ich gehe hier nicht weg!«

Er war nun bei ihr, ihr Gesicht genau vor ihm, ihr Mund ein Schrei, doch dann schlug er sie, er schlug ihr einfach mit der nackten Hand ins Gesicht. Für einen Moment war Stille, sie alle drei waren sprachlos. Dann fasste sich Serge wieder, es tat ihm leid, aber was sollte er machen – sie hatten doch keine Zeit!

»Komm, raus hier, Fanny. Mein Boot ist draußen, keine Widerrede, oder willst du hier sterben?«

Sie regte sich nicht, schwer zu sagen, ob wegen des Schlags oder weil sie schlicht unter Schock stand. Also griff er nach ihr und zog sie mit sich, wobei Yves ihm half. Zusammen trugen sie Fanny auf ihren Armen zur Tür, sie war steif und kühl, der Schock musste gewaltig sein, sie brauchten dringend Hilfe.

»Nein, nicht zur Tür, das Wasser schneidet uns noch den Weg ab, los, durchs Fenster.« Serge kletterte durch das Loch hinaus, dann griff er ihre Schultern und zog sie, sie schnitt sich am Glas, und ihr Arm blutete, doch es gelang ihm, sie ins Boot zu hieven. Yves kletterte hinterdrein, nun waren sie zu dritt in dem kleinen Fischerboot, sie waren gerettet, Serge löste die Leine und legte sofort ab.

»Wir müssen nach Olive sehen«, fiel ihm ein.

»Und nach Paul«, flüsterte Fanny, die sich langsam wieder fing. Das kalte Salzwasser, das im Boot stand, hatte die Blutung sofort gestoppt. Er drehte das Schwert nach Backbord, und augenblicklich legte sich das Boot auf die Seite und beschrieb eine Kurve durchs Wasser. Sie wendeten.

»Es ist so schrecklich«, sagte Fanny und fing an zu weinen, als würde sie den Ernst der Lage eben erst begreifen – als habe drinnen alles danach ausgesehen, dass es nur sie betraf, sie und ihre Küche. Yves dagegen saß regungslos im Boot und starrte auf die Wellen.

Es sah so anders aus, jetzt, hier auf diesem Kanal, all die Häuser, von denen nur noch die Dachlichter herausschauten, darunter lagen Wohnzimmer, Vorgärten, Sandkästen, Träume.

So viele Leben. Serge hörte den Ruf wie durch eine dichte Nebelwand. Er nahm Tempo raus, da, da war der Ruf wieder, er kam aus der anderen Richtung. Sofort wendete er und fuhr gen Süden. Wer war da noch? Da sah er sie. Brigitte stand im Vorgarten ihres Hauses, die Füße im Wasser, das Haus, auf der Anhöhe neben der Düne gelegen, schien völlig unversehrt. Er legte einen Zahn zu, raste ihr entgegen, legte an, dort, wo der Hügel zum Haus des Bürgermeisters anstieg.

»Brigitte«, sagte Fanny als Erste, »wie geht es dir?«

»Gut«, sagte sie und nickte, auch sie bleich im Gesicht. »Was ist mit den anderen?«

»Wir wollten eben zu Olive – und zu Paul.«

Serge half der Bürgermeistergattin ins Boot, das nun hoffnungslos überfüllt war. Von Norden, dort, wo die Rue de Paradis höher lag, kamen ihnen Lichter entgegen, drei Taschenlampen, nein, mehr noch – ja, auch Blaulicht.

»Hier«, rief Serge, »hierher!«

»Wir müssen erst zu den Jeans«, rief ein junger Mann, den Serge aus der Bar kannte – er war bei der Feuerwehr.

»Sie sind in Sicherheit, bei mir auf dem Boot.«

Das Feuerwehrboot mit den beiden Tauchern in voller Montur näherte sich weiter, die drei Männer vergewisserten sich: »Wer wohnt hier noch?«

»Wir wollten eben zu Paul Mercier.«

Von hinten kam ein drittes Boot heran, Serge erkannte Albert, der am Bug stand und sein Boot zu ihnen lotste.

»Der wiederum ist bei uns in Sicherheit«, sagte der junge Pompier.

»Das ist gut …«

Albert machte längsseits fest, Serge sah etwas unter einer Decke liegen. Etwas? Jemanden? Er erschauerte.

»Albert. Wir wollten eben nach Paul sehen, aber ihn habt ihr ja. Und Olive? Was ist mit Olive? Ist sie rechtzeitig raus?«

Doch Albert sah ihn nur mit feuchten Augen an. Er wies knapp auf die Decke.

»Nein, Olive hat es nicht geschafft«, sagte er.

Rue de Paradis

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