Читать книгу Rue de Paradis - Alexander Oetker - Страница 13

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Das Taxi nahm die Nordroute durch die Stadt, fuhr also wieder vorbei an der Oper und der Place des Quinconces und bahnte sich dann, vorbei an den Stadtmauern und der Porte Dijeaux, seinen Weg nach Mériadeck, in das Geschäftsviertel der Stadt mit all seinen Verwaltungsgebäuden, in das die Touristen keinen Fuß setzten, das aber nur einen Steinwurf von der alten Kathedrale entfernt lag. Neben der modernen Bibliothek und der Eishalle von Bordeaux lag das Hôtel de Police, ein Bau aus weißem Stein und viel Glas, auf dessen Fassade in riesigen blauen Lettern die Worte Police Nationale prangten.

Lucs ultramoderner Arbeitsplatz hatte nichts gemein mit seiner alten Wirkungsstätte, der Préfecture de Police am Quai des Orfèvres in Paris, jener altehrwürdigen Institution, die hinter historischen Mauern auf der wunderschönen Île de la Cité lag und wo Frankreichs beste Polizisten seit Generationen Dienst taten. Als Luc zum ersten Mal seinen neuen Arbeitsplatz auf Zeit gesehen hatte, hatte er schlucken müssen, doch seither hatte er Stadt und Kollegen liebgewonnen, was wiederum nur noch eingeschränkt galt, seit Laurent Aubry aufgetaucht war. So betrat Luc auch heute das Commissariat mit einem Bauchgrimmen. Im Wartebereich saßen nur wenige Menschen, normalerweise handelte es sich um Touristen, denen das Handy gestohlen worden war, oder Opfer von Fahrrad- und Autodiebstählen.

Er ließ den Fahrstuhl links liegen und nahm die Treppe hinauf durch das ansonsten nahezu leere Gebäude – am Wochenende waren die Verwaltungsbeamten alle zu Hause, und in der Mordkommission arbeitete nur ein Bereitschaftsdienst. Deswegen war Luc durchaus verwundert darüber, dass Aubry ihn noch an diesem Tag einbestellt hatte. Er schaute kurz in sein Großraumbüro hinein, doch Hugo, der an diesem Wochenende Bereitschaft hatte, schien bereits den Weg nach Hause zu seiner Familie angetreten zu haben – im Notfall würde er telefonisch benachrichtigt. Also stieg Luc direkt eine Etage höher. War Preud’homme stets ins Büro seiner Untergebenen gekommen, ließ der junge Aubry die Polizisten immer bei sich in der vierten Etage antanzen. Dieses Verhalten hatte ihm innerhalb weniger Wochen den Spitznamen le petit roi eingebracht, der kleine König.

Luc ging den kühlen Flur entlang, die Klimaanlage blies immer noch auf Hochtouren, obwohl der heiße Teil des Sommers eigentlich vorüber war. Aubrys Sekretärin hatte sicher frei, also klopfte er direkt an der Tür des Leiters der Polizei.

»Entrez!«, erklang es von drinnen.

Luc war, als trete er direkt in die gleißende Abendsonne. Von hier aus bot sich ein unglaublicher Blick über die Stadt. Durch die riesige Fensterfront sah Luc auf die Kathedrale, die in das gelblich rote Licht getaucht war, weiter hinten die Basilika von Saint-Michel und die Dächer der alten Stadt, all die Sandsteinhäuser und in der Ferne die neuen Hochhäuser, die in Rekordzeit südlich des Bahnhofs errichtet worden waren. Dann aber fiel sein Blick auf Aubry, der, die Augen stur auf den Bildschirm gerichtet, hinter seinem Schreibtisch saß. Er hielt nichts von legerer Kleidung, nicht einmal am Wochenende, und so saß der junge Mann in diesem Gebäude ohne Publikum auch heute in schwarzem Anzug und mit Krawatte da, gerade so, als müsste er seiner neuen Position zumindest der Form halber die Ehre erweisen. Luc kam sich reichlich underdressed vor mit seinem Surf-T-Shirt und der dunkelbraunen Lederjacke.

»Commissaire«, sagte Aubry, ohne den Blick zu heben. »Gut, dass Sie endlich da sind, ich wäre beinahe schon raus gewesen.«

»Mit Verlaub, Monsieur, es ist mein freies Wochenende, und Sie waren es, der mich herbestellt hat.«

»Na, wir wollen uns nicht über Banalitäten streiten«, erwiderte Aubry pikiert, und endlich löste er den Blick von seinem Computer und sah Luc an. Sein Blick war wie immer unstet, als sei er reichlich unsicher. Er war stets glatt rasiert und hatte für sein Alter bereits sehr schütteres Haar. Seine kleinen grünen Augen sahen listig in die Welt. Er scheute die kräftige Sonne der Aquitaine, deshalb behielt er auch im Sommer seinen matt weißen Teint. Wenn Luc richtig informiert war, stammte er aus dem Norden, aus den Ardennen.

»Wissen Sie, Commissaire, es ist wirklich wichtig, sonst hätte ich Sie keinesfalls an Ihrem freien Wochenende gestört«, sagte er, und seine Stimme klang plötzlich durchaus jovial. »Es geht darum, dass Sie in dieser Sache vermitteln – und hätte es mehr Zeit gehabt, wäre ich auch gar nicht auf Sie zugekommen. Allerdings habe ich die Information erhalten, dass die Bagger am Montag anrücken und dann die letzten Häuser der Straße abreißen werden. Bis dahin müssen die Bewohner verschwunden sein. Es geht um die …«, wieder sah er auf den Bildschirm, als würde er den Namen zum ersten Mal lesen, »um die Rue de Paradis am Cap Ferret. Die Hausnummern zwei bis sechs. Alle Bewohner weigern sich bisher, die Häuser zu verlassen. Sie gehen einfach nicht. Die Kollegen von der Police Municipale in Lacanau haben alles versucht. Man munkelt, Sie kennen den leitenden Beamten, Commissaire.«

»Ich kenne Lou seit Jahrzehnten«, sagte Luc leise. »Und wenn er mit seiner Art bei den Menschen am Cap nicht weiterkommt, dann werde ich erst recht keine Chance haben.«

»Sie sollten eine Chance haben, Commissaire«, sagte Aubry, und Luc konnte nicht sagen, ob Aubry ihm gerade drohte oder einfach nur dreist war. »Hören Sie, die Lage ist sehr angespannt. Offenbar gibt es einige Rädelsführer: Ein Fischer gehört dazu – und der Leiter der örtlichen Feuerwehr. Und …«

»Ja? Was noch, Monsieur Aubry?«

»Nun gut, es gab ja in der Flutnacht einen Todesfall unter den Anwohnern. Eine alte Dame, Madame …«, er suchte wieder im Computer, bis es Luc zu bunt wurde.

»Madame Morel«, half er und fügte erklärend hinzu: »Ich habe die Akte gelesen.«

»Genau, Madame Morel. Ihre Familie lebt weitgehend im Ausland, in Madrid und Lissabon, aber es gibt einen Enkel, ein junger Mann, der in Paris gewohnt hat und nun, nach dem Tod seiner Großmutter, zurückgekehrt ist. Er ist kein unbeschriebenes Blatt, die Pariser Kollegen haben uns seine Akte zugesandt: Zweimal saß er wegen schwerer Körperverletzung, einmal wegen schweren Raubs. Ein ungemütlicher Zeitgenosse. Wenn er dort mitmischt, brauchen wir vielleicht härtere Bandagen. Auch deshalb wollte ich, dass Sie an Bord sind, Commissaire.« Er wühlte in der Schublade des alten hölzernen Schreibtischs und stöhnte. »Ich hasse dieses unmoderne Ding – wird Zeit, dass endlich meine Sachen aus Paris kommen.«

Luc wollte sich das Büro gar nicht vorstellen ohne Preud’hommes alte Möbel, die genauso wie der Commissaire général zum Inventar des Hôtel de Police gehörten.

»Hier«, sagte Aubry und gab ihm eine Akte mit der Aufschrift Confidentiel – Vertraulich. »Ich habe Ihnen ein Dossier über alle Anwohner zusammengestellt. Ich möchte, dass Sie sich morgen auf den Weg machen. Sie haben einen Tag, um die Leute zu überzeugen, ihren Widerstand aufzugeben. Es ist ja nicht so, dass wir sie auf die Straße setzen. Sie kriegen neue Häuser in Mérignac.«

»Sie sollen einen der schönsten Orte der Welt tauschen gegen ein Reihenhaus in einem Vorort – na, ich kann ihren Ärger schon verstehen«, sagte Luc trocken.

»Es steht uns nicht zu, die Pläne der Regierung zu kritisieren«, sagte Aubry, »wir sind die Exekutive. Und deshalb ist es unsere Aufgabe, diese Arbeit auszuführen.«

»Ich habe mir angewöhnt, unsinnige Entscheidungen zu hinterfragen, Monsieur.«

»Es ist ja nicht meine Anweisung, sondern …« Aubry stockte, weil ihm natürlich klar war, dass er sich verraten hatte.

Daher also wehte der Wind, dachte Luc, deshalb war es ihm so wichtig. Irgendein hohes Tier in Paris hatte mal wieder vom Schreibtisch aus eine Entscheidung getroffen, weil die Dinge in der Aquitaine so angenehm weit weg waren – und nun mussten sie vor Ort es ausbaden. Doch offenbar war es ein sehr hohes Tier gewesen, und Aubry wollte um jeden Preis dessen Erfüllungsgehilfe sein, um seine neue Stellung in Bordeaux zu rechtfertigen – und sie womöglich auszubauen.

»Sei’s drum, ich erwarte Taten, Commissaire. Wir sprechen morgen Abend. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg. Und nun einen schönen Abend, ich werde gleich zum Tennismatch mit dem Assistenten des Bürgermeisters erwartet.«

»Oh, viel Spaß dabei. Ach, und noch was, Monsieur Aubry: Sollte meine Freundin heute Nacht Wehen kriegen, dann müssen Sie sich einen Neuen für Ihren … äh, für den Auftrag aus Paris suchen. Schönen Abend.«

Mit einem Satz war Luc aus dem Büro, die kleine Spitze hatte er sich nicht verkneifen können.

Rue de Paradis

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