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Serge Lopez

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»Die Letzte«, stöhnte er und hievte die gut dreißig Kilo schwere Kiste in den Kühlraum, dabei übersah er die Schwelle und verlor das Gleichgewicht, seine Hand rutschte ab, und die Kiste glitt zur Seite, sodass erst die Fische und dann das Eis unter lautem Getöse auf den kalten Boden fielen. Er sank sofort hinterher und rieb sich den schmerzenden Fuß.

»So ein verdammter Mist!«, rief er und blieb dort unten sitzen, irgendwas im Knöchel tat höllisch weh. »Ich hasse diesen Tag, aber echt.«

Er hatte einen sehr guten Fang gehabt in der vorangegangenen Nacht, es war fast so gewesen, als hätten die Fische dabei zusehen wollen, wie das Wetter umschlug. Manchmal vor großen Stürmen war das tatsächlich so. Doch dann hatte er auf dem Fischmarkt in Lège gestanden, vom frühen Morgen bis zum späten Nachmittag, und es war einfach niemand gekommen. Kein einziger Kunde. Die Touristen und Kurzurlauber aus Bordeaux hatten wegen des schlechten Wetters ihre Quartiere storniert, und die Haushalte des Cap Ferret schienen sich alle am selben Tag entschieden zu haben, doch lieber ein Steak zu servieren. Quel horreur.

Er fegte das Eis mit den Händen vom Boden zusammen und packte es zurück in die Kiste, dann griff er nach zwei Doraden, die mit ihren weit aufgerissenen Augen auf dem glatten Boden lagen. Vorsichtig bettete er sie auf das Eis, es waren schöne große Tiere, ihre Schuppen glänzten, sie wären phantastisch auf dem Grill, aber nun würden sie noch eine Nacht in ihrem kalten Grab verbringen. Dann griff er nach zwei Wolfsbarschen und packte auch die zurück. Er überschlug, was er alles auf Eis hatte: zwei Dutzend Doraden und Wolfsbarsche, sechs Steinbutt mittlerer Größe, zu groß für einen kleinen Haushalt, zu klein für die beiden Sternerestaurants, die er belieferte. Die rissen sich um seine Ware – während das Bistro der Nachbarn … Er hustete, gereizt von der Kälte – oder der Wut. Letzte Nacht hatte er zusätzlich reichlich Chipirons gefangen, die kleinen Tintenfische, die sich so herrlich grillen ließen. Es war Ware im Wert von gut dreihundert Euro. Doch verdient hatte er an diesem Tag nicht einen einzigen.

Und wenn er den Regen hörte, der auf sein Vordach prasselte, dann konnte er auch für den morgigen Tag nicht mit besseren Geschäften rechnen. Markttag in Lacanau. Wer würde bei dem Wetter einen Marktbummel machen?

»Die Hoffnung stirbt zuletzt«, murmelte er und ärgerte sich im selben Moment über diese Plattitüde.

Er trat hinaus und ließ die Kühltür einrasten, dann stand er im Schatten seiner kleinen Lagerhalle, die genau neben dem Holzhaus stand, in dem er lebte und das seit fünf Generationen seiner Familie gehörte. Es grenzte an einen winzigen Garten, den seine Mutter stets wunderbar bepflanzt und gepflegt hatte, der nun aber zusehends verwahrloste, weil Zeit und Muße für ihn beinahe schon Fremdwörter waren. Der vordere Teil war voller Werkzeuge und Netze und ging in den Steg über, an dem das große Boot lag und von dem aus er tagtäglich zusammen mit seinem letzten verbliebenen Angestellten zum Fischen hinausfuhr. Die Poissonnerie Lopez gab es so lange wie seine Familie, seit eben jenen fünf Generationen. Früher waren die Zeiten rosig gewesen, doch seit Jahren ging es bergab. Die großen Trailer fischten den Atlantik leer, zudem sanken die Preise auf den Märkten, weil auch in Frankreich die Discounter Einzug gehalten hatten und den kleinen Produzenten die Preise diktierten.

Deshalb ging es hierbei längst nicht mehr darum, ob er auf dem Markt einen guten oder einen sehr guten Verkaufstag erzielt hatte. Es ging vielmehr darum, ob er auch künftig dieses Haus würde behalten können, seine kleine Lagerhalle, das Boot. Es ging um den Namen der Familie Lopez. Um sein Erbe.

Seit Rita ausgezogen war, jagten ihn diese Gedanken noch öfter. Eigentlich jeden Abend, jede Nacht. Obwohl er schon um kurz nach drei aufstehen musste, um den Bootsmotor anzuwerfen.

Morgen früh aber wohl nicht. Der Regen würde sehr wahrscheinlich zu stark sein. Genau wie der Sturm. Ein Orkan, schlimmer als alle bisherigen in diesem Jahrzehnt. Er betrachtete das aufgewühlte Wasser unter seinem Steg, so weit unter dem Steg war es ehrlich gesagt gar nicht mehr, aber der Flutkoeffizient war hoch in dieser Nacht, deshalb wunderte er sich nicht. Serge ging hinein ins Haus, er musste dringend ein Bier trinken, vielleicht auch ein Eau de Vie. So richtig beachtete er den Sturm gar nicht, seine anderen Sorgen waren so viel größer.

Rue de Paradis

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