Читать книгу Rue de Paradis - Alexander Oetker - Страница 9

Albert Peronne

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»Noch eine Flasche, Jean, komm, noch eine. Oder willst du uns bei dem Wetter etwa vor die Tür setzen?«

Philippe, der ihm gegenübersaß, schlug schon wieder den Bürgermeisterton an. Furchtbar fand er das, furchtbar und überheblich. Dominique trat unterm Tisch nach seinem Bein. Seine Frau fand es nämlich noch furchtbarer, hier sitzen zu müssen und den betrunkenen Philippe zu ertragen. Aber, bei Gott, der Maire hatte ja recht: Es regnete viel zu stark, sie waren hier gefangen. Seit beinahe anderthalb Stunden saßen sie im »L’Escale« genau am Fähranleger des Cap. Ihr Blick wäre hinüber nach Arcachon gegangen, hätten sie denn etwas sehen können. Aber derzeit betrug die Sichtweite hinter der großen Fensterscheibe gerade einmal einen Meter. Sie hatten Pizza gegessen, Charlotte daddelte auf dem Handy seiner Frau herum, und Philippe erzählte großspurig von einem neuen Bauprojekt hinterm Leuchtturm. Albert dagegen war nur noch genervt. Der Wirt brachte eine neue Flasche von dem Weißwein, einem simplen Entre-deux-Mers, doch Alberts Blick fiel auf etwas, auf jemanden. Der sich schnell bewegte, genau vorm Fenster. Er erkannte Paul, Paul Mercier, seinen Nachbarn von gegenüber. Der alte Mann rannte beinahe, Albert spürte instinktiv, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung war. Er stand auf und ging Paul entgegen, der in diesem Moment quasi zur Tür hineinfiel. Er zitterte, war völlig außer Atem, als er rief: »Die Düne, sie … sie ist gebrochen, wir saufen ab …«

Albert nahm den alten Mann in den Arm und sagte: »Wer? Was ist passiert, Paul? Wer säuft ab?«

»Die Rue de Paradis«, sagte Paul, dessen Gesicht ein besorgniserregendes Grau annahm, bevor er auf den nächsten Stuhl fiel. Albert griff sofort zu seinem Handy und wählte die Nummer seines Stellvertreters. Vincent antwortete direkt.

»Ruf alle zusammen, wir müssen sofort los, Überschwemmung in der Rue de Paradis. Ich komme zu euch.« Er legte auf und drehte sich um – der Tisch, nein, das ganze Restaurant hatte mitgehört. Doch bevor sie ihn alle bestürmen konnten, straffte er die Schultern und sagte, mitten im Raum stehend, mit lauter Stimme:

»Teile von Cap Ferret stehen unter Wasser. Es betrifft die Südspitze, vor allem die Rue de Paradis. Ich rufe hiermit den Ausnahmezustand für die Halbinsel aus. Mitglieder der Feuerwehr und Reservisten fahren sofort ins Depot. Alle anderen bleiben hier oder gehen nach Hause – aber achtet auf umstürzende Bäume! Niemand nähert sich der Rue de Paradis. Habt ihr das verstanden?«

Sie alle nickten, sogar dem Bürgermeister hatte es die Sprache verschlagen. Täuschte Albert der Eindruck, oder sah ihn Philippe Deschamps in diesem Moment sogar anders an? Bewundernd, voller Respekt?

Er gab Dominique einen Kuss und strich Charlotte über den Kopf, ein Augenblick, den er voll auskostete, dann rannte er los. Er hatte keine Ahnung, wie schlimm es war, aber da er Paul noch nie so aufgelöst gesehen hatte, konnte es nur katastrophal sein. Er stieg in seinen Dacia-Jeep und raste sofort los, nahm die Einbahnstraße entgegen der Fahrtrichtung und bog dann auf die Départementale 106 ein. Die Feuerwache befand sich auf der kurvigen Straße nach fünfhundert Metern auf der rechten Seite. Als er ankam, trudelten die ersten Kameraden ein, und sofort gab er Anweisungen: Alle Autos aus der Garage! Ladet zwei Schlauchboote auf! Wir brauchen die Generatoren und Pumpen! Ruft Rettungswagen aus Bordeaux hinzu!

Er wusste nicht, wann er das letzte Mal so konzentriert und selbstsicher gewesen war. Die Hände der freiwilligen Feuerwehrleute griffen so fließend ineinander, dass Albert entschied vorzufahren. Er setzte das Blaulicht auf das Dach seines Autos und raste gen Süden, bog am Ende der Straße nach links ab, nun waren es nur noch wenige Hundert Meter. Die Straße fiel steil bergab in die Senke, die sein Zuhause war. Augenblicklich bremste er. Sein Gehirn brauchte einige Sekunden, um die Lage zu erfassen und zu verarbeiten, was die Augen ihm sagten. Dann erst fluchte er: »Verdammte Scheiße«, öffnete die Tür und stieg aus, blieb aber erst mal am Wagen stehen, dessen Scheinwerfer die Szenerie ausleuchteten.

Vor ihm fiel die Straße ab, die weiße Linie in der Mitte verlief schnurgerade, doch sie fiel … einfach ins Wasser. Das schwarze Meer stand mitten in der Straße. Die Rue de Paradis gab es nicht mehr.

Er blickte auf das Wasser, das weiter anzusteigen schien, doch anders, als er es erwartet hatte, war es im Anblick der Katastrophe ganz still, selbst der Regen schien aufgehört zu haben. Später würde er überlegen, ob es tatsächlich aufgehört hatte zu regnen, er konnte sich nicht mehr erinnern, zu gefangen war er von diesem Bild. Er suchte sein Haus und fand es nicht, er sah nur Dächer, von denen wiederum nur die obersten Ziegel aus der Flut schauten – und dort hinten, ganz am Ende der Straße das Château, Deschamps’ Haus, unbeeindruckt von den Wassermassen, die ohne Zweifel aus Bassin und Ozean über die gebrochene Düne hereingeflutet sein mussten. Die Häuser in der Straße standen alle unter Wasser. Sein Haus. Das Wohnzimmer. Er hatte das Parkett selbst verlegt. Das Badezimmer mit der neuen Wanne, die Fliesen hatte er selbst angebracht. Der Kamin mit den Holzpaneelen ringsum, die er aus dem Wald geholt hatte. Sein Garten. Merkwürdig, was ihm zuerst durch den Kopf ging, in diesem Moment, dachte er.

Albert wusste nicht, wie lange er am Rande der Straße gestanden hatte, doch endlich konnte er sich wieder bewegen, spürte, wie das Adrenalin ihn zu fluten begann. Er hörte die Sirenen aus der Ferne, doch es ging ihm alles viel zu langsam. Albert Peronne griff zu seinem Handy und wählte die Nummer der Leitstelle in Mérignac, am Rande von Bordeaux. Die Zentrale war rund um die Uhr besetzt.

»Hier ist der Leiter der Feuerwehr von Cap Ferret. Wir haben hier eine Katastrophenlage, eine Sturmflut hat Teile des Ortes überflutet. Wir brauchen sofort Verstärkung. Können Sie die Feuerwehren der umliegenden Orte informieren? Außerdem brauchen wir RTWs, falls möglich auch einen Helikopter.«

»Ich weiß nicht, ob der Heli starten kann, der Sturm ist immer noch direkt über uns«, sagte die Frau am anderen Ende. »Haben Sie Informationen über Opfer?«

»Bisher nicht. Ich warte noch auf meine Kräfte, dann gehen wir auf die Suche.«

»Gut. Ich schicke Ihnen alle Leute, die ich auftreiben kann. Aber ich muss Sie vorwarnen: Die Kollegen sind alle gut ausgelastet. Kann sein, dass Sie auf sich gestellt bleiben. Ich tue, was ich kann.«

Albert dankte und legte auf. In diesem Moment raste das erste Feuerwehrauto um die Ecke, ein Renault-Tanklöschfahrzeug, das eigentlich für einen Waldbrand vorgesehen war, mit seinen dicken Reifen und seiner Geländegängigkeit. Heute aber musste kein Wasser her, sondern das Wasser musste weg. Die Frauen und Männer sprangen aus dem Wagen, sie alle blickten betreten auf die völlig unter Wasser stehende Straße. Vincent, der stellvertretende Wehrführer, war der Einzige, der sich schnell bewegte. Er rannte auf Albert zu.

»Monsieur Mercier kam eben zu uns auf die Wache. Er war völlig aufgelöst. Er hat versucht, Madame Morel auf dem Handy anzurufen, aber er erreicht sie nicht. Das Gerät ist tot.«

Ein weiterer Feuerwehrwagen bog um die Ecke, sein Blaulicht zuckte über den dunklen Asphalt. Er hatte das Material dabei, das sie jetzt brauchten.

»Verdammt«, sagte Albert zu seinem Stellvertreter, »los, ladet die Boote ab, wir müssen uns beeilen. Ich hätte es nicht geglaubt, aber wir brauchen die Taucherausrüstungen.«

Die Feuerwehrleute begannen, die Autos abzuladen – sie nahmen die bereits aufgepumpten Schlauchboote herunter, drei Männer rüsteten sich mit Tauchermasken und Sauerstoffflaschen.

»Ich komme mit runter«, rief Albert und ging nach hinten zum Wagen, um sich umzuziehen. Es dauerte alles viel zu lange, dachte er, viel zu lange. Nach Minuten waren sie bereit, zwei Boote, vier Taucher, mehr hatten sie nicht. Sie würden auf die Verstärkung aus Lège und Lacanau warten müssen, vielleicht brauchten sie sogar Hilfe aus Bordeaux. Aber die Frau am Telefon hatte es ja gesagt: Die anderen hatten ihre eigenen Katastrophen, vielleicht waren Dünen und Deiche auch in anderen Orten gebrochen.

Je zwei Taucher stiegen in ein Boot, dazu kam jeweils ein Bootsführer. Der Bootsmotor surrte leise, Albert knipste die riesige wasserfeste Taschenlampe an, die er in der Hand hielt. Sie fuhren los. Erst war das Wasser nur zentimetertief, dann aber, je weiter die Straße abfiel, waren es erst ein Meter, anderthalb, dann zwei Meter. Die Fahrrinne entsprach genau dem, was wenige Stunden zuvor noch die Rue de Paradis gewesen war, es ging quer durch die Vorgärten, die herausragenden Dächer boten Orientierung. Er hätte nie gedacht, je auf der eigenen Straße mit dem Boot entlangzufahren. Es war gespenstisch.

»Wir beginnen bei Madame Morel«, rief er gegen den Wind. »Ihr fahrt weiter, das Haus von Paul Mercier müssen wir nicht besuchen, seine Frau ist im Urlaub. Fahrt rüber zum Restaurant, oder: Seht besser zuerst nach Serge. Er geht immer früh schlafen, vielleicht ist er überrascht worden.«

Das zweite Boot überholte sie. »Hier«, rief hingegen Albert, »halt hier an.« Er hatte das Dach von Olive Morels Haus ausgemacht, darunter war noch der Name zu sehen, den sie und ihr verstorbener Mann ihm gegeben hatten, Maison Bonheur.

»Bereit?« Der andere Mann nickte.

Albert zog die Taucherbrille auf und setzte sich das Mundstück ein. Dann ließen sie sich, wie sie das einmal im Jahr trainierten, rückwärts vom Boot fallen. Es war kalt, das Wasser, eiskalt, der lange Winter hatte den Ozean noch fest im Griff. Doch Albert spürte weiterhin die Anspannung, das Adrenalin im ganzen Körper. Ohne diese Kraft wäre er wahrscheinlich sofort erfroren. Dramatisch war das Bild, das sich ihnen unter Wasser bot, all der Schlamm, all die Zerstörung. Nichts würde wieder so sein, wie es gewesen war, das war ihm bereits jetzt klar.

Er richtete die Taschenlampe auf das Haus, tastete sich schwimmend vorwärts, es ging beinahe mühelos, er fand die Tür, natürlich war sie verschlossen, er tastete sich weiter nach links zum Fenster, es war wohl das Schlafzimmer, wenn er sich richtig erinnerte. Er leuchtete hinein, sah das Bett, den Schrank, das Wasser stand bis zur Decke, natürlich, warum sollte es drinnen anders sein als draußen? Er wandte sich zu dem anderen Mann um und nickte, dann zog er sich zurück. Der andere nahm seine Taschenlampe und schützte sein Gesicht, dann schlug er die Scheibe ein, es war gänzlich still, als das Glas nach innen fiel und im Schlafzimmer herumzutreiben begann. Er vergrößerte mit der Lampe das Loch, dann tauchten sie durch die Öffnung, vorsichtig, um nicht den Taucheranzug zu zerschneiden. Innen trieben Gegenstände herum, Bücher, Bilder, das Radio, schwimmende Überreste eines Lebens. Sie tauchten durch das Zimmer, dann in den Flur, alles war dunkel, natürlich gab es hier keinen Strom mehr, die Tür zum Wohnzimmer, Albert wollte schreien, als er sie sah, aber er besann sich, er hatte schon viele Leichen gesehen, nach Bränden, auch tote Schwimmer, aber das hier, so etwas hatte er noch nie gesehen: Sie trieb inmitten des Wohnzimmers, nicht an der Oberfläche, nicht auf dem Boden, sie schwebte, als sei sie eine Puppe, die Augen waren weit aufgerissen, es gab keinen Zweifel: Olive Morel war ertrunken in ihrem eigenen Haus.

Sie trug einen Morgenmantel, die grauen Haare bewegten sich leicht im Wasser, er musste den Blick abwenden, weil er nicht ertrug, was er sah: Sie schien zu Tode erschrocken.

Er tauchte zu ihr, es gab nichts anderes zu tun, was dringender gewesen wäre – auch das hier war nicht mehr dringend, aber es war auch nicht zu vermeiden. Er griff nach ihr, fühlte ihre Haut, die Kälte, die Leichtigkeit, in der gleichzeitig eine Schwere lag, er war ihr nun ganz nah und sah in ihre Augen, vergaß dabei das Atmen, für einen kurzen Moment geriet er in Panik, er wollte auftauchen, aber es gab keine Luft in diesem Haus, sein Co-Taucher neben ihm sah ihn fragend an, und endlich zwang Albert sich wieder ins Hier und Jetzt. Er nahm einen Zug aus der Flasche, dann griffen sie beide die Tote, trugen sie zum Ausgang und retteten sich durch das zerschlagene Fenster. Erst einer, dann die Leiche, dann der andere – und endlich konnten sie auftauchen, der Körper war schon oben, nun hatte er Auftrieb bekommen, sie folgten ihm an die Wasseroberfläche, Albert riss sich das Mundstück heraus und nahm einen tiefen Atemzug, die kalte Nachtluft drang in seine Lunge, und er sah erst Madame Morel und dann das Boot. Der Bootsführer erschrak, doch dann fasste er sich gleich, griff nach dem Körper der Frau, zog sie ins Boot, den Blick leicht abgewandt, und Albert war froh, dass er nicht mit der Leiche allein sein musste, mit der Leiche und mit seinem Schmerz. Das alles dauerte keine Minute, und doch war es keine Sekunde zu früh, denn dort hinten, am Ende der Rue de Paradis, erklang in diesem Moment der Ruf: »Hierher, hierher!« Sie sahen die Lichter, Albert und der andere Taucher schwangen sich aufs Boot, und schon nahmen sie Kurs gen Süden.

Rue de Paradis

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