Читать книгу Rue de Paradis - Alexander Oetker - Страница 7

Paul Mercier

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»Die Windgeschwindigkeiten nehmen noch zu, was besonders bedrohlich ist, weil der Orkan erst in diesen Minuten auf Land trifft – und zwar am stärksten zwischen Hourtin-Plage und Biscarrosse-Plage. Die Orte, die entlang der Küste liegen, werden also am schlimmsten betroffen sein, so warnt der Meteorologe von France 2. Es ist nicht auszuschließen, dass Stromleitungen umgerissen und Bäume entwurzelt werden. Zudem könnten Passanten von herumfliegenden Gegenständen getroffen werden. Bleiben Sie, wann immer es geht, unbedingt daheim und verfolgen Sie die Nachrichten. Über Evakuierungen entscheiden die lokalen Behörden in den einzelnen Gemeinden.«

Laurent Delahousse, der blonde Nachrichtensprecher, dessen Frisur immer so verwegen nach dem jungen Alain Delon aussah, stockte kurz und las eine neue Nachricht von seinem Computer ab.

»Eben erfahren wir in dieser späten Sondersendung, dass unsere Meteorologen davon ausgehen, dass die Gefahr einer Sturmflut besteht. Das ergeben neue Analysedaten der Winde, die auf den sehr hohen Gezeitenkoeffizienten treffen, der in dieser Nacht besteht. Wir bitten daher alle Anwohner der Küstengebiete des Département Gironde, alle notwendigen Vorkehrungen zu treffen. Bei einem Notfall wählen Sie die bekannte Rufnummer 18.«

Sturmflut, na, das fehlte noch. Paul Mercier betrachtete mit pochendem Herzen den Fernsehbildschirm, auf dem nun Bilder des Sturmes flackerten, riesige Wellen, die sich nördlich von hier bei La Rochelle an die Hafenmauer warfen. Das sah nicht gut aus. Er hatte ausreichend viele Winter an diesem Ort verbracht, um zu wissen, wann es schlimm werden würde. Sechzig Winter, genauer gesagt. Seit einigen Stunden machte er sich ernsthafte Sorgen. Den ganzen Nachmittag über hatte er den Himmel beobachtet. Das hatte die Sorgen eher vergrößert. Vor zwei Stunden war aus dem Niesel, der den ganzen Tag über angehalten hatte, heftiger Regen geworden. Erst waren dicke schwere Tropfen in seinen Vorgarten gefallen, dann waren es Bindfäden gewesen, unablässig, bis die Beete zu einem großen See geworden waren. Dabei hatte er erst vorgestern die Frühblüher gesteckt – und die ersten Tomatenpflanzen. Nun, da Claudette über eine Woche mit ihrer besten Freundin in Marokko war, hatte er endlich Zeit dazu gehabt. Die Blumen und die Tomatenpflanzen hatte er irgendwann am Abend abgeschrieben, morgen würde er die Fähre nach Arcachon nehmen und im »Gamm vert« neue Knollen und Zöglinge kaufen. Doch der Garten würde lange brauchen, bis all das Wasser versickert wäre. Morgen Abend würde Claudette in Mérignac landen. Besorgt sah er zum Fenster hinaus. Hinter der Scheibe lag alles in vollständiger Dunkelheit. Sturmflut hatte es auf France 2 geheißen. Er sah auf die Uhr. Kurz vor zehn. Bald würde sie anrufen. Aber er hatte das verflixte Gefühl, nach dem Rechten sehen zu müssen – immerhin hätte er ja eine Entschuldigung, wenn er Claudette verpassen würde: dieses Unwetter. Also: Er würde nach Olive sehen und dann auf die Düne gehen. Sie war immer so eingeschnappt, wenn man sich ihretwegen zu viele Sorgen machte. Andererseits: Er hatte dieses Bauchgrummeln, ganz tief drinnen.

Ich alter Narr, schalt er sich. So viele Stürme habe ich schon erlebt, und nun mache ich mir einen Kopf?

Doch dann behielt sein Bauchgefühl die Oberhand. Paul Mercier ließ den Blick durch das schlichte Wohnzimmer schweifen, der Esstisch war seit Tagen unberührt, er hatte vorhin eine kleine Käseplatte auf dem Sofa zu sich genommen, dazu ein winziges Glas Chablis. Nun ging er in den Flur, griff zu seinem Mantel und öffnete die Tür. Er würde fragen, wie es um sie stand, ob sie etwas brauchte, ob sie gemeinsam nach der Flut sehen wollten. Nur einmal fragen. Was sollte schon dabei sein? Der Regen traf ihn wie ein Schlag, und er legte einen Zahn zu, er müsste schnell sein, schnell unter ihrem Vordach. Paul rannte los, so gut er mit seinen fünfundsiebzig Jahren noch konnte. Die Rue de Paradis lag dunkel in ihrer Senke. Gestern Nacht, als er noch spät eine Runde zum Wasser gegangen war, hatte sie gänzlich still dagelegen, heute aber stürmte es nahezu ohrenbetäubend. Er blickte sich im dichten Regen um: Die niedrigen Bauten schienen alle verlassen, nur bei ihm zu Hause leuchtete ein Licht.

Sie sahen alle gleich aus: einstöckige Häuser aus Sandstein und Beton mit roten Flachdächern, der typische Baustil dieser Gegend. Nur das Restaurant schräg gegenüber war größer – und das Haus des Bürgermeisters, das alle hier spöttisch das Château nannten –, eine dreistöckige Monstrosität am Ende der Straße, von wo der Blick unverbaut auf Meer und Bassin hinausging.

Er trat vorsichtig auf, ein Sturz fehlte ihm gerade noch. Gegenüber schien niemand zu sein, was merkwürdig war. Aber doch, ja, die Fenster waren alle dunkel. War sie vielleicht schon aus dem Haus gegangen, aus Sorge vor dem Unwetter und der Springflut? Gut möglich, dass sie sogar bei ihm geklingelt, aber er es wegen des lauten Fernsehers schlicht nicht mitbekommen hatte. Er verfluchte die Schwerhörigkeit, er verfluchte sein Alter, wieder einmal.

Paul Mercier durchquerte den winzigen Vorgarten, den sie so hübsch pflegte wie er den seinen, da standen ein Rhododendron, mehrere Schneebälle und eine Minipalme, die sie ganz besonders ins Herz geschlossen hatte, wie er wusste. Die Holztür war verschlossen, wie sein Versuch ergab, also drückte er die Klingel. Er lauschte an der Tür. Sekundenlang. Nichts. Das Haus war verlassen. Er presste sein altes Ohr noch weitere fünf Sekunden an die Tür, aber kein Laut drang zu ihm. War sie also wirklich schon weggegangen? Sicher hatte sie ihm Bescheid sagen wollen. Verdammt. Wo war sie wohl? War sie in die Bar im Ortskern gegangen, wo sich die Bewohner des Cap Ferret bei allen Unwägbarkeiten des Lebens – Sturm, Feuer, Touristenschwemme – versammelten, um die Furcht oder den Ärger gleichermaßen zu ertränken und in ein vielkehliges Stimmengewirr zu versenken? Sicher, auch er würde gleich dorthin gehen, aber erst mal, und auch wenn ihm das Wasser schon von der Stirn lief, musste er noch einen Blick auf die Düne werfen. Er ging die Rue de Paradis gen Süden, es waren nur ein-, zweihundert Meter. Bis vor zwei Jahren war das mehrmals am Tag seine Wegstrecke gewesen, aber damals starb Ulysses, der kleine Dachshund und sein Gefährte, und seitdem ging er nur noch morgens und abends hinauf auf die Düne. Der Stichweg befand sich zwischen dem Restaurant und dem Château. Er schloss das winzige Gatter auf, für das nur Anwohner einen Schlüssel hatten. Touristen durften diesen Weg nicht mehr nehmen, das hatte der Bürgermeister entschieden. Offiziell ging es darum, die Düne vor Erosion zu schützen, damit sie nicht weiter abbrach, inoffiziell aber wussten alle, dass der Maire seinen Apéro gern halbnackt im Garten einnahm und dabei nicht von fotografierenden Urlaubern beobachtet werden wollte.

Der Weg hinauf war steil, und das Wasser lief in einem Sturzbach über den Beton, Pauls Atem beschleunigte sich. War der Sturm in der Straße schon schlimm gewesen, dann war es hier wie in einem Windkanal. Er hatte Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Über ihm jagten die Wolken vorbei, dicht und schwer, monströse schwarzgraue Kissen, die sich ineinander verhakt hatten und immer noch mehr Niederschlag brachten. Als er endlich oben stand, genau an der Spitze der Halbinsel, hielt er den Atem an. So etwas hatte er noch nie gesehen.

Auf der einen Seite rauschte der Ozean heran, mit derart riesigen Wellen, dass sie sogar von hier oben, wo er stand, höher wirkten als das Château neben ihm. Es waren echte Brecher, die aber nicht ordentlich aufgereiht waren, so wie die Surfer sie liebten, sondern die sich wild gegeneinanderwarfen und sich dabei noch verstärkten, besonders auf der Sandbank kurz vorm Strand. Er beobachtete zwei, drei Brecher, sah, wie sie sich bereits an der Düne zu schaffen machten, an ihr nagten, sie zu unterspülen begannen. Doch das, was ihm die größten Sorgen bereitete, lag auf der anderen Seite: Das Bassin, das sonst so ruhig und wellengeschützt dalag, war so geflutet, dass es bereits den Stichweg überspülte. Daher vor allem kam also all das Wasser. Von innen wie von außen bedrängte es die Halbinsel mit der Kraft, die nur die Elemente haben konnten.

Der Vollmond ließ die Unterschiede von Ebbe und Flut besonders gewaltig ausfallen. Dass es nun aber ausgerechnet an diesem Tag so einen Sturm geben musste …

Er schüttelte den Kopf und wollte sich eben vom Meer abwenden, als es geschah. Zwei Brecher unterspülten die Sanddüne mit solcher Kraft, dass ein großes Stück davon abbrach. Er konnte es förmlich hören, auch wenn er nicht sicher war, ob ihm das Getöse des Sturms hier nicht einen akustischen Streich spielte. Dann ging alles ganz schnell. Plötzlich klaffte eine riesige Lücke im Schutzschild, und sofort ergossen sich Tausende Liter des Bassins in die Brache, das Wasser flutete die Rue de Paradis. Er wusste, dass es hier nichts mehr aufzuhalten gab, er hatte zu viele Sturmfluten erlebt. Er musste Hilfe holen, doch sein Handy lag natürlich daheim auf dem Couchtisch. Und er musste weg hier, schnell, bevor der Rückweg versperrt war. Ihm blieb nur der Rundweg auf der Düne am Bassin entlang, er hoffte, dass sie noch gänzlich intakt war. Er sah immer mehr Wasser den Stichweg hinunterlaufen, der Garten des Bürgermeisters, den Brigitte so hingebungsvoll pflegte, glich schon einem Baggersee. Wieder und wieder sah er sich um, auf keinen Fall wollte er von einer Welle von der Düne und ins Meer gerissen werden. Doch das Wasser kannte nur noch eine Richtung: den Berg hinunter – und in die Senke, die bis vor einer Minute die Rue de Paradis gewesen war.

Rue de Paradis

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