Читать книгу Rue de Paradis - Alexander Oetker - Страница 8

Olive Morel

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Sie liebte das warme Wasser auf ihrer Haut, den Schaum, der sich bis über den Badewannenrand erhob. Aus dem kleinen Radio drang die Kantate 188 von Bach an ihr Ohr, Ich habe meine Zuversicht, sie liebte besonders die Stelle mit der Soloorgel. Auf dem Rand der Wanne stand ein Glas mit Rotwein aus dem kleinen Laden unten an der Rue des Goélands. Sie hatte ihn extra vorher kalt gestellt, weil sie den Kontrast so mochte: die warme Wanne und dazu das beschlagene Glas, aus dem jeder Schluck sie erfrischte. Vorhin hatte sie kurz geglaubt, es würde an der Tür klingeln. Sie musste sich verhört haben, wer wäre denn bei diesem Wetter und zu dieser späten Stunde draußen unterwegs.

Nach den 20-Uhr-Nachrichten von France 2 hatte sie den Fernseher ausgestellt und noch einige Seiten gelesen. Als der Sturm immer stärker wurde, hatte sie nur noch diesen einen Wunsch: in die Badewanne. Der Tag war so unwirtlich gewesen, überhaupt hatte sie das Gefühl, dass es seit Wochen nicht mehr richtig hell geworden war. Es reichte, der Winter hatte das Cap nun lange genug in seinen Fängen gehalten, außergewöhnlich lang in diesem Jahr. Jetzt wurde es Zeit für den Frühling, für ihren Garten, für lange Spaziergänge auf der Düne, bevor sich Richtung Sommer die Einheimischen wieder auf das eigene Grundstück zurückziehen würden – dann nämlich, wenn die Touristen in Massen auf der Insel einfielen.

Sie hatte keine Angst vor den Touristen, sie hatte lange genug mit und von ihnen gelebt. Als Fremdenführerin, als Leiterin des Informationszentrums für die Bunker des Cap. Nach dem Tod ihres Mannes war sie in Rente gegangen, weil sie einfach noch Zeit für sich und ihr Leben haben wollte. Sie hatte es keinen Tag bereut.

Nun genoss sie die innere Ruhe, während über ihr, über den Balken und den roten Ziegeln ihres Hauses das Unwetter tobte. Was gab es Besseres? Diese Gewalten, die man nirgendwo besser spüren konnte als hier am Cap Ferret, dieser Halbinsel am äußersten Rand Frankreichs, die so naturbelassen und echt war mit ihren gewaltigen Wäldern aus Seekiefern, den sandigen Dünen, mit all den Eidechsen, dem Wild – und eben dem Wetter: den heißen Sommern und den kräftigen Stürmen im Frühjahr und im Herbst. Sie liebte es, dieses Fleckchen Erde, auf dem sie aufgewachsen war. Wenn sie daran dachte, dass ihre Kinder mittlerweile beide in Paris lebten, dort wiederum Kinder bekommen hatten. Kinder, die auf einem engen Spielplatz zwischen den – zugegeben – sehr hübschen Häusern Haussmann’scher Bauart spielten statt hier, auf diesem gottgegebenen, großzügigen und grünen Land. Nun ja, ihre Kinder hatten es so entschieden – dafür kamen sie sie aber auch oft besuchen. Die Zeit im Jahr, die Olive am meisten genoss.

Sie hatte überlegt, in der Wanne zu lesen, es dann aber verworfen, weil sie lieber die Augen schließen und den Wein genießen wollte. Sie spielte ein wenig mit dem Schaum auf der Wasseroberfläche. Der Lärm und das Getöse ringsum wurden immer lauter, es war kein Plätschern mehr, eher schon ein Rauschen, ein Geräusch, das sie so in der Rue de Paradis noch nie gehört hatte. Deshalb entschied sie nach weiteren fünf Minuten, die Wanne zu verlassen. Doch als sie herauskletterte, erschrak sie, weil sie auf einmal wieder im Wasser stand, in kaltem schmutzigem Wasser, das ihr bis zum Knie ging. Sie drehte sich um, wollte lachen, was für ein Missgeschick, sie glaubte, dass sie den Hahn von der Spüle aufgelassen hätte – oder war etwas mit der Waschmaschine? Aber nein, weit gefehlt, sie spürte, wie sie zu zittern begann, mit sich selbst zu sprechen, »beruhig dich«, sagte sie und griff mit fahriger Hand nach ihrem Morgenmantel. Als sie vorsichtig die Tür zum Flur öffnete, geschah es: Eine Flutwelle ergoss sich ins Bad, das ganze Haus stand voll Wasser, sie sah es, sie hörte es, das Rauschen war nicht draußen, es war drinnen, und das Wasser war kalt, eiskalt und salzig, es reichte ihr jetzt bis an die Oberschenkel, sodass sie Mühe hatte, sich vorwärts zu bewegen, auch weil sie fror, so sehr, sie war nicht sehr groß, sie schaufelte das Wasser mit den Händen, sah ihre Bücher in der Brühe schwimmen, sie spürte, wie es stieg, sekündlich, sie konnte dabei zusehen. Angst schoss ihr in den Kopf, nackte Angst, nun ging ihr das Wasser schon bis zum Bauchnabel, sie begann zu weinen und um Hilfe zu rufen, obwohl sie nur zu gut wusste, dass niemand sie hören konnte. Was war nur geschehen? Der Deich, die Düne, die verdammte Düne musste eingebrochen sein, zwischen ihr und der Haustür lagen zwanzig Meter, die musste sie schaffen. Das Wasser ging ihr nun schon bis zur Brust, sie bewegte sich, strampelte mit den Füßen, doch der Widerstand, die Strömung waren zu stark, sie glitt aus, tauchte unter, ihr Kopf unter Wasser, dann fanden ihre Füße den Grund wieder, sie stand auf und hustete, aber das Zittern hatte ihren ganzen Körper erfasst, sie konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen, warum nur gab es keine Treppe, keine erste Etage, sie stand in ihrem Wohnzimmer, und es gelang ihr nicht mal, in den Flur zu kommen, das Wasser erreichte ihr Kinn. Da kam ihr der rettende Einfall: Die Couch, sie musste auf die Couch und dann laut um Hilfe rufen, sie bewegte sich langsam, das Wasser stieg und stieg, sie wusste, wo die Couch war, und sie fand sie, setzte den Fuß auf und zog sich hoch. Es gelang ihr, schon wollte sie schreien, doch dann rutschte der Fuß ab, es wurde schlagartig dunkel, sie begann zu husten, nackte, schwarze Panik überkam sie, einmal noch schaffte sie es aufzutauchen, sie rief seinen Namen, laut oder leise, sie konnte es nicht sagen, dann hatte das Wasser sie wieder erreicht, es stand drinnen so hoch wie draußen vor dem Fenster, der Weg hinaus hätte sie nicht gerettet, das erkannte sie, während ihr schwarz vor Augen wurde, ihr die Sinne schwanden, sie hinunterglitt, unter die Wasseroberfläche, für immer. Sein Name, dann Stille, nur noch das Rauschen des ewigen Wassers.

Rue de Paradis

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