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12. September Six mois plus tard – Sechs Monate später 1

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»Geht’s?«, fragte er und sah sie von der Seite an.

»Jetzt hör endlich auf, das zu fragen, Luc!«, sagte sie lachend. »Das war jetzt das zweiundvierzigste Mal in der letzten halben Stunde. Ja: Es geht mir gut, sehr gut. Und nun komm, wir müssen nicht schleichen, als wären wir bereits Großeltern.«

Sie nahm seine Hand und zog ihn mit sich, die kleine Anhöhe hinauf, die die Rue Sainte-Catherine nahm, kurz bevor sie die Place de la Comédie erreichte.

Wo sich die Menschen sonst in Massen entlangschoben, von Nobelboutique zu den Galeries Lafayette, von Weinladen zu Restaurant, flanierten jetzt nur wenige, es war die Stunde kurz vorm Apéro an einem Samstag, die Bordelesen bereiteten sich daheim auf den Abend vor: Wenn sie in einer Stunde schick gemacht aus ihren Häusern strömten, um in die kleinen Bars in den Gassen einzukehren, auf ein kaltes Glas Weißwein oder ein kleines Bier, von wo sie eine Stunde später den Restaurantterrassen entgegengingen, den fein eingedeckten Tischen mit Kerzen und Blumenbuketts, würde ein Klangteppich über den alten Straßen liegen, ein Gemisch aus Plaudern und Fachsimpeln über die besten Produkte – und aus purem Wohlgefühl. Luc betrachtete den strahlend blauen Himmel, der von nur wenigen Schönwetterwölkchen verziert war, es war das typische Azur der Aquitaine, die pure Freude in diesem herrlichen Spätsommer. Er schüttelte den Kopf über seine eigene Sorge, aber hey, er war nun mal besorgt um sie. Um Anouk, die schwangere, hochschwangere Anouk. Am liebsten hätte er sie ins Bett verfrachtet, aber die Beine hochzulegen war gar nicht ihre Sache – und so hatte sie ihn zu einem Spaziergang gedrängt, ein Glas in einer Bar, ein kleines, leichtes Dîner.

»Wir werden bald ohnehin sehr viel Zeit daheim verbringen«, hatte sie gesagt. Sie war überfällig, der errechnete Geburtstermin lag bereits fünf Tage zurück, doch Anouk ging es prächtig, sie hatte keine Schmerzen, keine Wehen, bewegte sich, als sei nichts, und nur der sehr dicke Bauch wies darauf hin, dass es bald losgehen würde, er hatte sich bereits gesenkt. Den Sommer hatten sie gemeinsam genossen, nach den schrecklichen Ereignissen im Baskenland hatte Luc sich eine Auszeit verordnet, und sie hatten Anouks Familie in Venedig besucht. Anschließend hatten sie sich gemeinsam mit Lucs Vater in Carcans-Plage häuslich eingerichtet und zwei Wochen ausschließlich am Strand und bei diversen Barbecues verbracht. Und nun warteten sie ungeduldig auf die Ankunft ihrer Tochter.

Sie nahmen die kleine Anhöhe und traten auf den menschenleeren Platz, der Luc mit seiner Schönheit auch bei seinem zehntausendsten Besuch noch den Atem nahm: die Anmut und die Grandezza all der Sandsteinhäuser, die Säulen der alten Oper auf der rechten Seite, die schmiedeeisernen Balkone des Grandhotels zur Linken, die Tische des Café »Le Regent« in ihrem Rücken, die bereit waren für den Apéro, und in der Ferne der Obelisk und der Brunnen der Girondins, auf einem der größten Plätze Europas, der Place des Quinconces – was für eine Stadt.

»Komm, wir laufen noch ein wenig am Ufer entlang, und dann setzen wir uns ins ›Castan‹ und essen etwas, ich habe Hunger auf ein wenig Charcuterie und Käse …«, sagte Anouk.

Luc wollte eben ansetzen, um zu fragen, ob sie wirklich sicher sei, den Weg zu schaffen, aber er bremste sich gerade noch rechtzeitig. »So machen wir’s«, sagte er, »der Salade Landaise ist dort wirklich hervorragend.« Und das sagte er nicht nur so daher, um sich selbst zu überzeugen – er liebte die Mischung aus leichtem Salat und gekochten Kartoffeln und der Würze und Schwere des Specks und der aufgeschnittenen und geräucherten Entenbrust.

»Und wenn wir nach Hause kommen«, sagte sie lächelnd, »dann packe ich den Koffer fürs Krankenhaus, auch wenn ich nicht glaube, dass es jetzt am Wochenende losgeht. Ich merke wirklich gar keine Wehen, mal abgesehen von den paar Übungswehen dann und wann. Dabei wäre es völlig okay, wenn dieser Vorbau endlich verschwindet. Ich würde wahnsinnig gern meine Füße mal wieder sehen.«

Hand in Hand gingen sie die Rue Esprit des Lois herunter, bis sie auf die Place de la Bourse trafen, den schönsten Platz der Stadt – ach was, den schönsten von ganz Frankreich. Das architektonische Ensemble der Gebäude mit ihren Rundbögen, die heute die Handelskammer und das Zollmuseum beherbergten, hatten den Ruf Bordeaux’ geprägt und den Grundstein gelegt für die Anerkennung als UNESCO-Welterbe. Drüben, auf der anderen Seite der Straße, am Ufer der Garonne, lag der Miroir d’eau, der Wasserspiegel, der alle halbe Stunde Fontänen kalten Wassers in die Luft sprühte. In dem eleganten Nebel spielten auch jetzt, wie fast zu jeder Tageszeit, Dutzende kleine Kinder völlig ausgelassen – und Anouk und Luc sahen ihnen versonnen dabei zu. In ein, zwei Jahren würde hier auch ihre Tochter toben. Luc konnte es kaum erwarten.

Sie hatten sich für die Uniklinik von Bordeaux entschieden. Deshalb hatten sie die vergangenen zwei Wochen in Anouks Wohnung an der Place Canteloup verbracht. Die Holzhütte am Strand wäre natürlich eine Option gewesen, schließlich gab es auch in Arès am Bassin d’Arcachon eine Klinik mit Geburtsstation, aber sie wollten die letzten Tage zu zweit explizit im Trubel der Stadt verbringen.

»So, nun muss ich wirklich sitzen«, sagte Anouk und wies auf das Bistro »Castan«, doch gerade, als sie sich aufmachten, um einen freien Tisch zu suchen, klingelte Lucs Handy. Als er sah, wer anrief, stutzte er. Es war Wochenende, er hatte keinen Dienst.

»Luc Verlain?«

Die Stimme am anderen Ende ließ ihn mit den Augen rollen. Anouk ahnte schon, wer es war, und grinste ihn an. Doch Luc wurde ernster und ernster, bis er mit nüchterner Stimme ins Telefon sagte:

»Monsieur, bei allem Respekt, aber das werde ich nicht tun. Sie wissen, dass Mademoiselle Filipetti und ich in den nächsten Tagen, ach was, Stunden unser Baby erwarten und …«

Die Stimme unterbrach ihn, Luc hörte abermals zu und sagte dann ziemlich genervt: »Ich werde das besprechen. Sie hören von mir.« Dann legte er auf. Vorm »Castan« mit seiner eingefassten Terrasse, den bespannten Korbstühlen und den jungen Gästen blieben sie stehen.

»Was ist denn?«, fragte Anouk.

»Er will, dass ich komme«, murmelte Luc.

»Aubry?«

»Genau der. So ein …«

»Was ist denn passiert?«

»Er sagt, er brauche mich, weil es niemand anders machen könne – es sei zu heikel.« Luc lauschte kurz den eigenen Worten nach, dann wies er auf einen freien Tisch, und sie setzten sich nebeneinander, den Blick auf die Garonne gerichtet. Er fuhr fort: »Du erinnerst dich an die Straße am Cap Ferret, die im Frühjahr von dieser Springflut komplett zerstört wurde? Es gab auch eine Tote. Wir wurden nicht hinzugezogen, weil die Todesursache klar war, die Frau war im Wasser gestorben. Lou war damals der diensthabende Beamte vor Ort. Nun, der Präfekt hat auf Anweisung des Innenministers durchgesetzt, dass die komplette Straße rückgebaut werden muss.«

Anouk wurde blass. »Was? Das heißt …«

»Genau: dass alle Häuser abgerissen werden müssen, weil sie nie hätten gebaut werden dürfen. Die Straße liegt nun mal in einem Flutgebiet.«

»Die Menschen werden also zwangsumgesiedelt?«

»Ja, sie sollen neue Häuser auf dem Festland bekommen. Die meisten Häuser sind schon abgerissen, aber die letzten Bewohner weigern sich zu gehen. Doch am Montag sollen die Bagger kommen. Deshalb …«

»… sollst du sie jetzt überzeugen, ihre Häuser zu verlassen.«

»Das ist es, was er will. Aber ich mache das nicht … Ähm, wir nehmen …«

Der Kellner stand am Tisch und sah sie aufmunternd an.

»… eine Verveine«, sagte Anouk freundlich.

»Und ein kleines Bier«, ergänzte Luc.

»Doch, du machst das«, sagte sie mit fester Stimme, als sie wieder allein waren. »Luc, ehrlich, das ist wichtig. Du sprichst die Sprache dieser Leute, jeder hier im Département kennt dich, wegen deiner gelösten Fälle – und wegen deines Vaters. Die Menschen vertrauen dir. Du musst das machen.«

»Aber ich kann dich doch nicht allein lassen!«

»Ach, fühl mal«, sagte sie, nahm seine Hand und legte sie auf ihren Bauch. »Es ist alles ruhig, die Kleine will sich einfach noch etwas ausruhen, bevor sie auf diese verrückte Welt kommt. Du fährst da morgen hin, überzeugst die Leute, und ehe du es dich versiehst, bist du wieder bei mir. Vor Montag passiert hier gar nichts.«

Er sah sie lange und prüfend an. »Bist du dir sicher?«

»Sehr sicher. Gib dir einen Ruck, ich, ich meine: Wir kommen hier klar.«

»Er will, dass ich gleich ins Commissariat komme, dieser unsensible Idiot. Als ob er da niemand anderen hinschicken könnte. Wirklich, ich verabscheue diesen …«

Luc brach ab, weil der Kellner ihre Getränke brachte.

»Ist er wirklich so furchtbar?«, fragte Anouk. »Ich kann mir das gar nicht vorstellen. Außerdem: Du hättest es ja anders haben können, sie haben dich gefragt. Aber du wolltest dich ja nicht auf Bordeaux festlegen.« Sie grinste ihn an, als wollte sie ihn necken.

Anouk arbeitete seit vielen Monaten nicht mehr, deshalb hatte sie den Wachwechsel an der Spitze der Polizei von Bordeaux nicht miterlebt. Nach dem Schock über Lucs Verhaftung im Baskenland hatte der frühere Chef der beiden, Commissaire général Preud’homme, entschieden, dass die Zeit für seinen Ruhestand gekommen sei. Preud’homme, ausgerechnet Preud’homme – der Mann, von dem Luc einst alles über die Polizeiarbeit gelernt hatte und den er so sehr schätzte, ach was, verehrte. Der alte Leiter des Hôtel de Police hatte innerhalb eines Monats seinen Hut genommen, sehr zur Überraschung des Innenministers. Der hatte sofort Luc gefragt, ob er das Hôtel de Police leiten wolle. Doch dafür hätte Verlain seine Stelle in Paris aufgeben müssen, die für ihn frei gehalten wurde. Luc hatte zwei Nächte nicht geschlafen und dann abgesagt. Es war ihm zu früh, sich darauf festzulegen, für immer an der Garonne zu bleiben. Der Minister hatte sehr schnell Ersatz finden müssen und sich für einen jungen Karrierebeamten aus seinem Ministerium entschieden – der zumindest erst mal als kommissarischer Leiter eingesetzt wurde: Laurent Aubry. Ein Typ, der gerade mal Anfang dreißig war, nicht einen Tag in seinem Leben als Polizist gearbeitet hatte – und der auf dem neuen Posten nun jedem beweisen wollte, was für ein ausgebuffter und fähiger Mann er war. Das gipfelte in Lucs Augen leider in Hyperaktivität bei gleichzeitiger Ahnungslosigkeit – worin Aubry zu allem Überfluss dem Präfekten ähnelte. Zwei direkte Vorgesetzte, die beide aus demselben Holz geschnitzt waren, das machte die Arbeit zur Qual. Auch deshalb hatte sich Luc den Sommer über weitgehend zurückgezogen.

Nun aber rief Aubry – und Anouk empfahl ihm, diesem Ruf zu folgen. Herrje.

Gedankenverloren trank Luc das kalte Bier, das so herrlich als Start in einen langen Abend zwischen Bar, Restaurant und Altstadt gepasst hätte – doch musste er seine Pläne ändern.

»Okay, dann fahre ich jetzt ins Commissariat«, sagte er.

»Sehr gut. Und wir sehen uns nachher zu Hause«, antwortete Anouk zufrieden.

Sie küssten sich, für einen Augenblick ruhte seine Hand auf ihrem Bauch, dann stand er auf und winkte nach dem ersten Taxi, das ihm auf dem Quai in den Blick kam.

Rue de Paradis

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