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Der Morgen danach

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Für die Bewohner des Cap gab es, als der Morgen anbrach, keinen anderen Ort: Sie gingen nicht zur morgendlichen Hunderunde an den Strand, die Austernzüchter ließen ihre Säcke erst mal im Wasser liegen, die Pendler nach Bordeaux riefen in der Fabrik oder im Büro an, um zu sagen, dass sie später kommen würden.

Das ganze Dorf traf sich, an genau der Stelle der Straße, an der Albert Peronne in tiefer Nacht sein Auto geparkt und zum ersten Mal die Überschwemmung gesehen hatte.

Das Wasser war nicht völlig zurückgegangen, es war noch mehr Wasser geworden, das in den Stunden danach in die Senke gelaufen war. Doch die dicken Rohre und die acht großen Pumpen, die die Feuerwehr vom Cap und die beiden Wehren aus Lacanau und Lège herangeschafft hatten, beförderten jede Stunde Tausende Liter wieder zurück ins Meer und in das Bassin. Es war Ebbe, das Wasser dort war also zurückgegangen. Die Vorgärten der Häuser, die am Rande des Tals lagen, tauchten wieder auf, die ersten Bewohner konnten in ihre Häuser zurück. Vom Himmel brannte die Sonne, als habe es das Unwetter in der Nacht nie gegeben.

So standen sie am Rande der Rue de Paradis und beobachteten, was sich tat. Die Nachricht von Olive Morels Tod hatte sich verbreitet wie ein Lauffeuer, lange bevor der Tag angebrochen war. Die sturmerprobten Cap-Bewohner hielten sich in den Armen. Eben kam Albert wieder mit dem Boot zurück, er hatte ein letztes Mal die Häuser nach weiteren Opfern durchsucht, er war die ganze Nacht im Einsatz gewesen. Erst vor einer halben Stunde hatte er die eigene Tür aufgeschlossen und aufgedrückt, noch immer hatte ein halber Meter Wasser im Haus gestanden. Als er anlegte, kamen Dominique und Charlotte schon auf ihn zu. Er stieg aus dem Boot, die Wathose völlig nass, dennoch nahmen sie ihn in die Arme.

»Und, wie sieht es bei uns aus?«

»Es ist alles voller Schlamm, es ist ganz furchtbar. Die Möbel, alle Geräte, wir können alles wegwerfen …«

»Entschuldigen Sie, Monsieur Peronne?«

Er drehte sich um, vor ihm stand ein kleiner Mann mit dickem Bauch, der die Uniform der Police Municipale trug. Der Mann musste ihm nicht vorgestellt werden, jeder in der Region kannte ihn. Und jeder nannte ihn nur Lou, den Leiter der städtischen Polizei von Lacanau, der bei allen Ordnungsdingen in den Gemeinden ringsum hinzugezogen wurde.

»Oui?«

»Wie geht es Ihnen? Es muss eine schreckliche Nacht gewesen sein.«

»Das kann ich Ihnen aber sagen«, sagte Albert.

»Andere Gemeinden sind auch betroffen, in Lacanau sind uns ein Dutzend Häuser abgesoffen, auch in Pyla gab es viele Schäden. Aber Sie haben ein Todesopfer zu beklagen.«

»Ja, eine ältere Dame, die …«

»Die Sie gut kannten, richtig?«

»Wir waren Nachbarn«, sagte Albert mit hängendem Kopf.

»Und Sie haben sie gefunden? Möchten Sie psychologische Hilfe in Anspruch nehmen?«

»Es geht schon.«

»Der Arzt sagt, sie ist mit absoluter Sicherheit ertrunken. Wenn das so ist, dann vermerke ich das so in meinem Bericht. Wenn Sie aber mögen, dass ich die Kriminalpolizei hinzuziehe – einer meiner besten Freunde ist der Leiter der Brigade Criminelle in Bordeaux, Luc Verlain, Sie kennen ihn sicher. Ich kann ihn anrufen.«

»Nein, lassen Sie nur«, sagte Albert und winkte ab. »Es ist ja klar, was passiert ist.«

»Gut«, sagte Lou, »dann setze ich meine Befragungen fort.«

Albert hörte den starken Motor, bevor er ihn sah. Der Range Rover hielt genau an der Wasserkante, der Bürgermeister stieg aus, auf der Beifahrerseite Brigitte, wortlos.

Alle Augen richteten sich auf Philippe Deschamps, der sich vor seinen Bürgern aufbaute, der Rücken gerade, der Kopf hochgereckt, die Stimme fest:

»Mitbürger von Cap Ferret. Es ist eine schlimme Zeit für unsere Gemeinde – und eine schlimme Zeit besonders für die Bewohner der Rue de Paradis. Viele von euch haben in einer Nacht, in nur wenigen Minuten, all ihr Hab und Gut verloren, ihre Häuser, ihre Heimat. Eine von uns hat sogar ihr Leben gelassen – ich bitte euch, mit mir an Olive Morel zu denken.«

Die Anwesenden verstummten und senkten die Köpfe, nichts war mehr zu hören außer dem Geräusch der Pumpen und dem Grollen des Meeres in der Ferne.

»Ich danke euch. Ich kann euch sagen: Die Gemeinde von Cap Ferret wird euch in eurer Not unterstützen. Ich habe eben mit dem Präfekten des Département Gironde gesprochen, es wird finanzielle Hilfen geben für die Bewohner der betroffenen Häuser. Wir werden alle Schäden beseitigen. Niemand wird auf den Kosten sitzen bleiben. Das verspreche ich.«

Applaus brandete auf. Fanny, Serge, Yves, sie alle standen da, mit roten Köpfen und klatschten in die Hände. Nur Albert machte nicht mit.

»Ich bin mir sicher: Wir werden im Angesicht dieser Krise zusammenstehen – und wir werden stärker aus dieser Krise hervorgehen. Denn das ist nun mal, wofür wir Franzosen geboren wurden.«

Nach seiner Rede kamen die Menschen zu ihm und klopften Philippe auf die Schulter. Er war ein Macher, ein Mann der Tat, das spürten sie hier.

Als alle sich verstreut hatten, ging Albert zu ihm und blieb ganz nah vor ihm stehen. Leise sagte er:

»Die Häuser in der Rue de Paradis hätten nie gebaut werden dürfen. Olive, ihr Tod … Der geht auf dein Konto.«

Rue de Paradis

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