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Als Chase erwachte, hatte er jegliches Gefühl für Raum und Zeit verloren. Er lag mit ausgebreiteten Armen auf der feuchten Erde. Der Vampir versuchte, sich zu bewegen, musste aber feststellen, dass das unmöglich war. Er wandte den Kopf. Ringe aus weißem Licht umschlossen seine Hand- und Fußgelenke und hielten sie am Boden. Er riss daran, aber es hatte keinen Sinn. Zuckende Schmerzen durchfuhren jedes Mal seinen Körper, wenn er versuchte, sich von diesen Fesseln zu befreien, die irgendeinen schwarzmagischen Hintergrund haben mussten.

Immerhin konnte Chase den Kopf wenden. Er sah, dass er auf einem Friedhof war. Überall Grabsteine, manche umgestoßen, andere bereits wieder an ihrem Ort. Die Aufräumarbeiten waren noch nicht abgeschlossen. Chase war sofort klar, dass es sich um den Trinity Cemetery handelte. Zwei in Stein gemeißelte Namen fielen ihm auf.

ROBERT MALLOY.

MADELEINE MALLOY.

"Ich habe dich extra so hingelegt, dass du die Gräber der beiden gut sehen kannst, Chase Blood!", ertönte eine Stimme, die Chase inzwischen nur zu vertraut war.

Es war der Mann in Weiß.

Er trat an den am Boden Liegenden heran, sah auf ihn herab.

"Wer bist du?", fragte Chase. "Wer bist du wirklich?"

"Mein Name ist Gabriel."

"Ein Dämon?"

"Ein ehemaliger Diener Gottes. Aber das ist jetzt nicht mehr wichtig. Jedenfalls nicht für dich. Nicht einmal für deinen Herrn und Meister, den Fürst von Radvanyi, der sicherlich einiges über mich in den alten Büchern seiner Bibliothek finden würde..." Er lachte. "Auch seine Tage sind gezählt."

Gabriel umgab jetzt eine leuchtende Aura. Auf dem Rücken war eine Lichterscheinung, die entfernt an Flügel erinnerte.

Ein Engel, dachte Chase. Hat mir gerade noch gefehlt! Ein Engel des Todes...

Am Handgelenk trug er eine Rolex.

Gabriel warf einen Blick darauf.

"Noch genau eine Stunde bis zum Aufgang der Sonne. Die wird dich grillen wie ein Steak. Durch die magische Aura dieses Rituals wird der Vorgang etwas langsamer vor sich gehen, als es normalerweise der Fall wäre, Chase!" Gabriel verzog das Engelsgesicht zu einer zynischen Maske. "Sorry, aber das lässt sich nicht vermeiden..."

"Danke für das Mitgefühl!"

"Eine alte sentimentale Angewohnheit aus der Zeit, als ich noch im Auftrag eines anderen unterwegs war!"

"Verstehe!"

Chase nahm aus den Augenwinkeln heraus Bewegungen war. Er wandte den Kopf.

Eine Gruppe von mindestens einem Dutzend Personen stand dort. Joe Carlito und Fred Lazarre waren auch darunter.

Die Komori!, schloss Chase.

Ihre Gesichter waren leer und ausdruckslos.

"Ich habe sie hergerufen", erklärte Gabriel.

"Sie nehmen an diesem Ritual teil?"

"In gewisser Weise."

"Du hast Schwierigkeiten, sie mit schwarzmagischen Mitteln zu kontrollieren!", schloss Chase.

"Das hat jetzt bald ein Ende!", lächelte Gabriel.

Chase bemerkte außerdem die aufgespießten Ratten, die in einem Sechseck angeordnet waren. Im Zentrum dieses Sechsecks war er selbst.

Auf der anderen Seite ertönte jetzt das Geräusch schlagender Schwingen. Chase entdeckte ein groteskes Monstrum. Eine über zwei Meter fünfzig große Riesin, die mit ihren Schwingen schlug. Es war unmöglich, dass diese Kreatur damit tatsächlich zu fliegen vermochte. Dazu wirkte sie einfach zu schwerfällig.

"Ptygia! Mach nicht so viel Wind!", wies Gabriel sie zurecht. Er grinste hässlich. "Ich hätte gerne mal gesehen, wie du gegen einen Vampir kämpft, Ptygia!"

"Jederzeit!", entfuhr es der Dämonin.

"Tut mir leid, dass ich dich enttäuschen muss, meine teuerste dämonische Partnerin! Schließlich habe ich für unseren Gefangenen ein anderes Schicksal vorherbestimmt. Allerdings könnte ich mir vorstellen, dass Fürst von Radvanyi vielleicht ein adäquater Gegner für dich wäre!"

Ptygia stieß ein dumpfes Knurren aus.

Gabriel merkte, dass er sie jetzt keinesfalls mit ironischen Bemerkungen weiter reizen durfte. Bemerkungen, die sie teilweise nicht verstand und die sie daher leicht rasend machen konnten. Und dann war wurde sie ungenießbar. Gabriel kannte das aus leidvoller Erfahrung. Also schwieg er.

Der Mann in Weiß blickte auf seine Rolex.

"Genau 66 Minuten vor Sonnenaufgang!", meinte er. "66 - die Zahl Satans!"

Dumpfe Knurrlaute kamen von den Komori. Sie näherten sich. Ihr Blick war auf Chase gerichtet.

Ein unruhiger Gesichtsausdruck trat in Gabriels Züge. Er war offenbar beunruhigt.

"Zurück!", rief er.

Und Ptygia ließ ein Fauchen hören, dass sie zusammenzucken ließ. Aber die Gedanken der Komori waren auf etwas ganz anderes gerichtet.

Auf mich!, durchzuckte es Chase.

Die Gier nach Lebensenergie wurde übermächtig in ihnen.

Chase fragte sich, ob sie sich lang genug zurückzuhalten vermochten, bis die ersten Strahlen der Sonne über die Ummauerung des Trinity Cemeterys krochen und Chase verbrannten. Langsam, wie Gabriel angekündigt hatte. Chase riss an seinen Fesseln. Er kniff die Zähne zusammen, als der mörderische Schmerz von den Handgelenken aus seinen gesamten Körper erfasste. Schließlich sank er ermattet zurück auf den feuchten Moderboden. Es hat keinen Sinn, durchzuckte es ihn. Diese magische Fesselung ist zu stark.

Von wem mochte sie kontrolliert werden?

Gabriel?

Das war anzunehmen.

Die Minuten dehnten sich zu kleinen Ewigkeiten.

Es gab keine Hilfe, auf die Chase hoffen konnte. Wenn der Plan des gefallenen Engels in der weißen Marine-Uniform Wirklichkeit wurde, dann war dies seine buchstäblich letzte Stunde. Die Komori näherten sich wieder. Gier leuchtete in ihren Augen. Sie können es nicht ertragen, mich hier liegen zu sehen und nicht mental entleeren zu dürfen!, ging es Chase durch den Kopf.

"Zurück!", donnerte Gabriel.

Er hob die Hände. Sie begannen zu leuchten wie geschmolzenes Eisen.

Chase stellte fest, dass die Leuchtringe, die in fesselten, zu pulsieren begannen. Ihre Helligkeit hatte etwas nachgelassen.

Offenbar musste Gabriel sich seine Kraft einteilen.

Dann begann der erste von ihnen seinen Angriff.

Es war Joe Carlito. Er machte einen Satz nach vorn, auf Chase zu. Ptygia wollte eingreifen, aber Carlito verpasste ihr mit einem plötzlich in die Länge wachsenden Tentakel einen Peitschenschlag, der sie zurückweichen ließ. Und ehe Gabriel oder Ptygia noch etwas tun konnten, hatte Carlito Chase erreicht. Eines der Tentakel war bereits zu Chase' Kopf vor gewachsen. Nur noch Augenblicke und Joe Carlito würde versuchen, die sich immer wieder teilenden Tentakelenden in seinen Schädel zu bohren.

Gabriel rief mit heiserer Stimme eine Beschwörung nach der anderen in die Nacht.

Aber nun griffen auch die anderen an. Sie wollten es ganz offenbar nicht zulassen, dass einer der ihren sich die Beute allein unter den Nagel riss. Wie Bluthunde waren sie.

Ein anderer Komori packte Joe Carlito von hinten, riss ihn weg.

Chase schrie auf, als die festgesaugten Tentakelspitzen von seinen Schläfen gerissen wurden. Die Komori begannen untereinander zu kämpfen, während Chase bemerkte, dass die Leuchtringe um seine Hand- und Fußgelenke nur noch schwach glommen.

Gabriels Gesicht zeigte Verzweiflung.

Schweiß stand ihm auf der Stirn, während er den Komori seine Beschwörungen entgegenschleuderte. Aber offenbar hatte er die geistige Kontrolle über sie jetzt vollkommen verloren. Einzelne konnte er in Schach halten, aber unmöglich alle auf einmal.

Und offenbar hatten die ersten unter ihnen inzwischen entdeckt, dass auch ein ehemaliger Engel ein erhebliches Maß an Lebensenergie besaß. So versuchten sie auch Gabriel anzugreifen. Er wich ihnen aus, hielt sie mit einer Beschwörung auf Distanz.

Ptygia griff ein, zermalmte einen von ihnen unter ihren Füßen. Blut und grüne Flüssigkeit spritzten in einer Fontäne auf.

Chase startete unterdessen einen neuen Versuch, sich von den Fesseln zu befreien.

Vergiss alle Schmerzen!, versuchte er sich einzureden. Ein einziger Moment nur und...

Er schaffte es. Offenbar hatte Gabriel nicht mehr genug Kraft, um auch diese Fesseln zu kontrollieren. Der Schmerz, der Chase durchzuckte war höllisch, aber er war frei. Er rollte auf dem Boden herum, während er im nächsten Moment bereits den Tentakel eines Komori um den Hals spürte. Der Komori riss ihn herum. Er hatte das Gesicht von Fed Lazarre, aber sein Körper wies kaum noch Ähnlichkeiten mit dem eines Menschen aus. Überall wucherten Tentakel aus seiner Kleidung heraus, die nur noch in Fetzen von einem nichtmenschlichen Körper hing.

Chase trat um sich, wehrte sich.

Dabei in das Gesicht eines Freundes zu schlagen, war nicht leicht.

Es irritierte ihn für einen Augenblick.

Dann spürte er plötzlich, wie sich der eiserne Griff um seinen Hals lockerte. Der Komori, der Fred Lazarres Gestalt angenommen hatte, wirkte auf einmal seltsam blass. Wie eine schwache Dia-Projektion. Er erstarrte mitten in der Bewegung. Chase schlug nach ihm, aber seine Schläge gingen durch ihn hindurch.

Gabriel stand mit ausgebreiteten Armen da, murmelte immer wieder eine Folge dunkel klingender Silben, die aus einer uralten Sprache zu kommen schienen, deren Bedeutungsgehalt seit Äonen vergessen war. Wie einen Singsang wiederholte er diese Beschwörung, sank auf die Knie dabei, umringt von mehreren Komori, die ebenfalls verblassten.

Ptygia ließ ihre gewaltigen, prankenartigen Arme kreisen.

Aber auch ihre furchtbaren Schläge, mit denen sie die Wesen aus dem Limbus bislang einigermaßen auf Distanz hatte halten können, gingen jetzt ins Leere. Sie durchdrangen die Körper der Komori wie Nebel.

Gabriel schickt sie zurück in den Limbus!, ging es Chase durch den Kopf. Er atmete tief durch, während er mit ansah, wie die Schreckensgestalten eine nach der anderen entmaterialisierten. Zurück in jenes Reich der Kälte, aus dem sie geholt worden waren.

Gabriel war völlig erschöpft.

Sein blondes Haar hatte jetzt einen weißen Schimmer. Er sah elend aus. Leichenblass. Schweiß rann ihm über das Gesicht.

Chase erhob sich.

"Scheint so, als hättest du dir ziemlich unzuverlässige Verbündete ausgesucht!", meinte Chase.

Gabriel blickte auf. Er zitterte. Er musste unglaublich viel Kraft verloren haben, anders war sein Zustand nicht zu erklären.

Vielleicht eine gute Gelegenheit, diesen gefallenen Engel umzubringen!, dachte Chase. Falls das so einfach möglich war.

Gabriel sah Chase an.

"Dieser Kampf ist noch lange nicht zu Ende!"

"Ach, wirklich?"

"Ptygia! Bring ihn um!", stieß Gabriel dann hervor. Sein Gesicht war eine Maske des blanken Hasses. "Zerquetsch ihn wie eine unnütze Motte!"

Ein Grinsen ging über Ptygias Gesicht.

"Mit Vergnügen!", meinte sie.


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