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1.4 Die Lehrperson als Gegenfigur

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In vielen Oberstufenklassen bestimmt der Code, dass man sich gegenüber Lehrpersonen cool und unnahbar gibt. Distanz ist vorgeschrieben. Für Lehrpersonen ist dieser Code ärgerlich. Wenn sich Lernende zynisch, scheinbar demotiviert und herabwürdigend verhalten, dann fühlt man sich nicht geschätzt und reagiert unter Umständen unwirsch. »Ich strenge mich für dich an, ich will, dass du etwas lernst, und deine Antwort ist Kritik oder Desinteresse!« Der äußere Eindruck kann jedoch täuschen. Viele Jugendliche setzen eine Maske auf, weil sie sich nach einem Peer-Code ausrichten. Das Skript ihrer Entwicklungsphase verbietet ihnen, sich gegenüber Lehrpersonen zu öffnen. Selbstständigkeit ist angesagt, und dazu gehört, dass zur Lehrperson Distanz markiert wird und man gewisse Themen nur untereinander diskutiert. Erwachsene verstehen sowieso nichts. Auch wenn die Jugend sich während der Pubertät abgrenzen will, die Beziehung zur Lehrperson bleibt wichtig. Sie folgt jedoch einem anderen Muster. Die Lernenden suchen in den Lehrpersonen nicht primär Gleichgesinnte, und sie suchen nicht den harmonischen Kontakt, sondern Gegenfiguren, an denen man sich reiben kann. Sie suchen Kontakt zu einem Erwachsenen, mit dem man sich streiten, über den man sich aufregen und bei dem man Abgrenzung inszenieren kann. Der kreative Dissens wird gesucht und nicht Harmonie. Jugendliche suchen Bezugspersonen, die wagen, sich ihnen zu widersetzen, ohne den Kontakt abzubrechen. Sie sind auf der Suche nach einem eigenen Profil, und dazu brauchen sie Erwachsene, über die sie sich ärgern und die sie als altmodisch empfinden können. Meistens helfen sie nach: Eine extreme Kleidung, ein flapsiger Stil oder unanständige Wörter dienen dazu, Gegenreaktionen zu provozieren. Wenn die Erwachsenen sich ärgern, dann hat man sein Ziel erreicht.

Als Lehrperson bleibt uns oft keine andere Wahl, als die entsprechende Rolle in diesem archetypischen Drama zu spielen.[10] Wir müssen uns als Projektionsfigur für den Jugendprotest hergeben, auch wenn uns ihr Bild von uns nicht entspricht, wir uns nicht als alt, hinterwäldlerisch und engstirnig erleben. Die Erwachsenen leben aus der Sicht der Jugendlichen in einer eigenen Welt. In ihrer Subkultur proben die Jugendlichen ihre Selbstständigkeit und bauen ihre eigene Identität auf. Wenn sie Erwachsenen begegnen, dann sehen sie in ihnen Repräsentantinnen und Repräsentanten eines anderen Lebensbereichs. Auch wenn der Alters­unterschied klein ist und man sich bei vielen Themen versteht, überwiegt bei den meisten Jugendlichen das Gefühl, dass die Alten ihren Groove, ihre Probleme und Interessen nicht wirklich nachvollziehen können. Wenn deshalb eine Lehrperson behauptet, dass sie die Schüler und Schülerinnen bestens versteht und gleicher Meinung ist, dann widerspricht dies dem typischen Verhältnis zwischen Alten und Jugendlichen während der Adoleszenz. Jugendliche brauchen Gegenfiguren, damit sie ihr unabhängiges Denken und Handeln erproben können. Erwachsene, welche die Trends und den Jargon der Jugend übernehmen, irritieren. Ein Lehrer, der Rapper-Hosen mit tiefem Schnitt trägt und von »voll geil« spricht, wird als komisch empfunden. Die meisten Jugendlichen pochen unbewusst auf das Recht, nicht verstanden zu werden. Die Erwachsenen haben die Pflicht, mit Kopfschütteln, Stirnrunzeln, jedoch auch mit Bewunderung zu reagieren, wenn Jugendliche einen speziellen Rap vorführen oder die Hose sehr tief tragen.

Durch die Reaktionen der Erwachsenen werden den Jugendlichen Leitplanken gesetzt. An der Sorge oder am Ärger der Lehrpersonen merken sie, wenn sie zu weit gegangen sind und welche Grenzen es zu respektieren gilt. Sie schränken ihren persönlichen Experimentierraum ein. Es gilt, den Wunsch der Jugendlichen nach Gegenfiguren zu respektieren. Erfolgreich unterrichten heißt darum, die Spannungen und Auseinandersetzungen zu ertragen und durchzuarbeiten, wenn sich die Lernenden einem entgegenstellen oder mit einem nicht einverstanden sind. Wenn Jugendliche frech sind, sich doof und unflätig benehmen, dann geschieht dies nicht immer aus bösem Willen oder aus Unachtsamkeit. Sie wollen die Lehrperson testen und sie an ihre Aufgabe als Gegenfigur erinnern. Die Aufregung, die ausgelöst wird, vermittelt den Jugendlichen das Gefühl, dass sie keine Bubis oder brave Mädchen mehr sind.

Aus ethnologischer Sicht betrachtet, werden in Schulklassen Trennungsrituale vollzogen.[11] Die Gruppensituation weckt das Bedürfnis, die Abgrenzung von den Erwachsenen durchzuspielen und sie zu Gegenfiguren zu deklarieren, damit man sich leichter von der Kindheit verabschieden und der Erwachsenenwelt annähern kann. Wenn eine Schulklasse sich gemeinsam über eine Lehrperson aufregt und sie in der kollektiven Aufregung zur Fremden oder zum Fremden erklärt, dann heißt dies nicht, dass die persönliche Beziehung zur Lehrperson schlecht ist. Oft gibt es eine Diskrepanz zwischen dem Verhalten in der Klasse und in der individuellen Beziehung zwischen Lehrperson und Lernenden. Gegenüber den Kolleginnen und Kollegen grenzt sich ein Jugendlicher lärmig von einer Lehrperson ab, obwohl er sie im Grunde sehr schätzt.

Von Gangstern, Diven und Langweilern

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