Читать книгу Von Gangstern, Diven und Langweilern - Allan Guggenbühl - Страница 8
1.2 Parallelwelten
ОглавлениеDie Ausrichtung der Schülerinnen und Schüler nach klasseninternen Codes und Themen führt zur Entwicklung von Parallelwelten. Dort können sich Dynamiken entwickeln, von denen wir als Lehrperson wenig bis gar nichts mitbekommen. Die Lehrerin einer fünften Klasse hatte das Gefühl, dass bei ihr alles gut laufe. Das Klassenlager war ein voller Erfolg, und das Klima in der Klasse empfand sie seither als positiv. Sie fiel aus allen Wolken, als ein Brief der Schulbehörde auf ihrem Pult lag. Die Eltern eines Schülers forderten ultimativ die Versetzung ihres Sohnes! Die Situation sei für ihn in seiner jetzigen Klasse unerträglich. Er werde gemobbt, und er empfinde das Klassenklima als miserabel! Während der großen Pause spreche niemand mit ihm, seine Schulmaterialien würden mutwillig zerstört, und die Mädchen machten sich über seine Kleider lustig. Gemäß den Eltern hatte das Mobbing im Skilager begonnen. Die Lehrerin hatte indessen den Eindruck, dass die Stimmung in der Klasse ausgezeichnet sei. In Einzelgesprächen mit den Schülerinnen und Schülern war ihr nichts aufgefallen, und im Klassenrat war nie von Mobbing die Rede.
Wie kann man als Lehrperson von den klasseninternen Codes erfahren, ohne die Kohäsion der Klasse zu zerstören oder Lernende bloßzustellen? Oft wählen Lehrpersonen das Einzelgespräch mit Lernenden. Im Gespräch von Angesicht zu Angesicht sollte es, denken sie, möglich sein, die »Wahrheit« über das Klassengeschehen zu erfahren.
Vielfach gelingt dies auch, und man kann als Lehrperson einen Blick hinter die Kulissen werfen. Aber je älter die Kinder werden, desto schwieriger wird dieser Weg. Die Einzelgespräche führen nicht zum erhofften Erfolg. Vor allem sozial kompetente und empathische Schülerinnen und Schüler merken, wie sie sich zu verhalten haben und was sie sagen sollten. Sie stimmen sich auf die Lehrperson ein und übernehmen ihre Vorgaben. Sie lassen sich zudem durch das Autoritätsgefälle, die Persönlichkeit der Lehrperson und die offiziellen Leitlinien beeindrucken und beginnen zu täuschen. Eine Lehrperson kann noch so geschickt vorgehen, Ich-Botschaften einsetzen und sensibel auf das Kind eingehen, der Schüler oder die Schülerin verhält sich bedeckt. Sie oder er kann sich gar nicht über die internen Vorkommnisse in der Klasse äußern, da ein Code verletzt würde. Sie verraten dann nur so viel, wie die Situation erlaubt und sie sich selbst eingestehen können. Wenn eine Lehrperson eine Schülerin zum Beispiel fragt, ob sie von den Klassenkameraden akzeptiert werde, dann wird sie in einer solchen Situation antworten: »Ja, alle sind nett und freundlich zu mir.« Sie verschweigt, dass sie von Kolleginnen ausgeschlossen wird. Sie hat Angst, dass die negative Aussage sich zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung entwickelt, wenn die Gesamtklasse davon erfährt. Sie hätte die Klasse verraten. Wenn sie einer Autoritätsperson eingestehen würde, dass ihre Kolleginnen und Kollegen sie als komisch empfinden, dann werden die Anschuldigungen plötzlich wahr. Sie hält sich an den Klassencode, der bestimmt, dass die Auseinandersetzungen nur aus Spaß geschehen. So kann auch sie sich an die Hoffnung klammern, dass das Mobbing nur ein Spiel ist und sie bald akzeptiert sein wird.
Auch wenn die Schülerinnen und Schüler anscheinend offen über ihre Sorgen, Ängste, Hoffnungen und Träume reden, treffen sie eine Auswahl. Gewisse Themen dringen nicht bis zum Lehrerohr. Hänseleien, Grenzüberschreitungen und Mobbingdynamiken, jedoch auch Drogenkonsum, Erpressungen oder Schülerängste bleiben den Lehrpersonen oft verborgen. Die Lernenden fügen sich den Codes und Tabus ihrer Bezugsgruppe. Ähnliches kann man auch im Klassenrat beobachten. Viele Schüler und Schülerinnen verstehen es, Offenheit zu inszenieren. »Ich war sehr traurig, als meine Kollegin die Klasse verlassen musste, und mache mir Gedanken, ob ich ihr mehr hätte helfen können«, meinte eine Schülerin im Klassengespräch und verdrückte sogar eine Träne. Was sie nicht sagte, war, dass sie das gemobbte Mädchen als intrigant erlebt hatte und aktiv gegen sie vorgegangen war. Das Mädchen lügt jedoch nicht bewusst, sondern sie hat gegenüber der Lehrperson ein schlechtes Gewissen, weil sie realisiert, dass sie so nicht hätte handeln sollen.
Die Zugänglichkeit zu den Themen der Klasse reduziert sich also, wenn die Schülerinnen und Schüler in die Vorpubertät kommen – in der Regel im elften oder zwölften Lebensjahr. Ein Graben tut sich auf, auch wenn die Lernenden sich ihren Lehrpersonen gegenüber freundlich verhalten und sie sogar wirklich schätzen. Lehrpersonen haben eine Rolle zu erfüllen und stehen nicht als Privatpersonen vor der Klasse. Eine Tiefensicht auf die Schüler und Schülerinnen ist nicht einfach. Wer unterrichtet, für Disziplin sorgt und Unterrichtsziele zu erfüllen hat, muss aus psychologischer Sicht an der Oberfläche bleiben. Zu persönliche Fragen oder das Ansprechen von Tabuthemen würde den Unterricht stören. Eine Lehrerin kann einem Schüler nicht eingestehen, dass die meisten Mitschüler ihn nicht mögen, und eine Schülerin verbirgt vor ihrer Lehrerin, dass sie das Fach nur interessiert, weil ein Mitschüler es cool findet.
Die Inszenierung des Unterrichts geschieht nicht bewusst. Sowohl Lehrpersonen als auch Lernende haben die Grenze zwischen erlaubten und tabuisierten Aussagen und Handlungen internalisiert. Auch wenn alle sich Mühe geben, alles zu sagen, und versuchen ganz offen zu sein, verhindert ein innerer Hemmungsmechanismus, dass heikle Themen angesprochen werden.[9]