Читать книгу Von Gangstern, Diven und Langweilern - Allan Guggenbühl - Страница 15
Оглавление2 — Die psychologische Bedeutung von Geschichten
2.1 Eindrücke in einen Zusammenhang stellen und Sinn kreieren
Wir alle leben in und von Geschichten. Mithilfe von Geschichten interpretieren wir Erlebnisse. Eindrücke, Fantasien und Emotionen erhalten eine Bedeutung, wenn wir sie in den Kontext einer Geschichte einordnen oder mit einer Geschichte in Verbindung bringen. Ein Beispiel: Ein Mann nimmt auf einem Barstuhl Platz. Eine schwarze Limousine fährt vor und hält abrupt auf dem gegenüberliegenden Trottoir. Drei Männer mit finsteren Gesichtern und Sonnenbrillen steigen aus dem Auto und schreiten zur Bar. Der Kellner sieht die drei Herren und lässt ein Glas fallen. Wenn wir diese Einzelereignisse hören, werden wir vermuten, dass sie etwas miteinander zu tun haben: der Barbesucher, die drei finsteren Herren und das Missgeschick des Kellners. Die drei Ereignisse könnten jedoch auch keinerlei Zusammenhang haben. Wir projizieren eine Szenerie, durch die einzelne Ereignisse zu einem sinnvollen Ganzen werden. Geschichten liefern uns die Matrix, dank der wir unsere Umgebung oder Mitmenschen verstehen. Natürlich wissen wir oft nicht, ob wir Tatsachen erkennen. Vielleicht wollten die drei Männer in der Bar lediglich Zigaretten kaufen, und dem Kellner fiel das Glas aus der Hand, weil er übermüdet war. Ob wahr oder fantasiert: Dank den Geschichten erhalten Ereignisse im Rahmen eines Zeitkontinuums ein Profil. Sie werden zu etwas Besonderem. Sie bereichern uns und machen das Leben sinnvoll. Dank Geschichten problematisieren, erhöhen oder degradieren wir unsere Umwelt und Mitmenschen.
2.2 Themen werden auf den Tisch gebracht
Geschichten erweitern unseren Horizont. Wir setzen uns mit Themen auseinander, die weit weg sind, tabuisiert werden oder über die es schwierig ist zu reden. Gibt es die wahre Liebe? Welche Werte soll man im eigenen Leben verfolgen? Geld oder Geist? Wieso fasziniert Macht? Die Ereignisse und Handlungen einer Geschichte können eine Reflexion über persönliche Leitlinien oder eigene Werte auslösen. Kindern und Jugendlichen erlauben Geschichten, sich mit Themen auseinanderzusetzen, mit denen sie in ihrem Alter noch nicht vertraut sind. Sie können sich auf Herausforderungen vorbereiten, die im Lehrplan nicht vorgesehen sind.
2.3 Sensibilisierung
Geschichten beeinflussen die Wahrnehmung. Wir sehen, was wir hören. Geschichten sensibilisieren für Probleme und Phänomene, die man übersehen könnte. Wenn wir unseren Schülern und Schülerinnen von einem Jungen berichten, der es nicht wagt, seine Selbstwertzweifel einzugestehen, und stattdessen lautstark von großartigen Leistungen prahlt, dann erkennen die Lernenden vielleicht die im Prahlverhalten von Kolleginnen und Kollegen versteckten Selbstzweifel. Die Geschichte kann also einen Perspektivenwechsel ermöglichen.
2.4 Selbstbild entwerfen
Es gibt Geschichten, die uns ansprechen. Wir verschmelzen innerlich damit und sind fast überzeugt, dass es sich um »unser« Schicksal handelt. In den Figuren der betreffenden Geschichte erkennen wir unsere Stärken, Schwächen und Persönlichkeitszüge. In den Fünfzigerjahren erkannten sich Tausende von Teenagern in den von James Dean verkörperten Filmfiguren wieder, wie etwa im rebellischen Cal in »East of Eden«, der vom Vater verkannt und zurückgestoßen wird. Oft alimentieren sich solche Geschichten aus persönlichen Erinnerungen und werden so zur Basis des Selbstverständnisses. »Bei mir war es genauso!«, rufen wir dann aus und sind überzeugt, dass die betreffende Geschichte unser Leben widerspiegelt. Wir legitimieren unser Selbstbild durch die Geschichte, die wir ausgewählt oder komponiert haben. Wir sehen uns als begabtes Kind, das von den Eltern vernachlässigt und von den Schulkollegen gemobbt wurde, oder als Rebell, der sich gegen das System auflehnt.
Mithilfe von Geschichten kann bei Kindern oder Jugendlichen Selbstreflexion gefördert werden. Geschichten helfen, sich selbst zu verstehen, die Vergangenheit zu ordnen und persönliche Eigenschaften zu identifizieren. Sie sind ein wichtiges Hilfsmittel auf dem Weg zu einer eigenen Identität und zu einem persönlichen Selbstbild.
2.5 Geschichten stiften Identität
Geschichten sind jedoch nicht nur für einzelne Kinder oder Jugendliche wichtig, sie können auch für Gruppen eine tragende Bedeutung haben. Sie schweißen eine lose Gruppe oder Masse zusammen und bilden oft die Grundlage von Identitäten. Nationen konstituieren sich über »alte Geschichten«, denken wir an die Pilgrim Fathers in den USA, die Schlacht auf dem Amselfeld bei den Serben oder die Flucht von Bonnie Prince Charlie bei den Schotten. Was in grauer Vorzeit geschah, wirkt als Geschichte nach. Ähnlich verhält es sich bei Lernenden. Auch sie stützen ihre Identität als Klasse auf Geschichten ab. Aus gemeinsamen Erlebnissen entwickeln sich im Laufe der Schulzeit Geschichten, die man später austauscht und die den Zusammenhalt unter den Schülern und Schülerinnen stärkt. Der »Weißt du noch«-Effekt kann zur Folge haben, dass persönliche Differenzen toleriert werden und man sich als Team fühlt. »Wir sind eine Superklasse! Einmal haben wir ein grandioses Fest im Wald organisiert. Ein Sturm kam auf, doch unter dem Zeltdach hatten wir trotzdem Spaß.« Herrscht ein guter Klassengeist, dann kreieren die Schüler und Schülerinnen Geschichten, die die Gemeinschaft bestätigen. Definiert man sich als Superteam, erinnert man sich an Erlebnisse, bei denen man sich gegenseitig half und kollegial unterstützte. Ob die Ereignisse sich wirklich so zugetragen haben, ist sekundär. Hauptsache, das Image wird durch entsprechende Erzählungen und Anekdoten unterstützt.
2.6 Motivation für Einzelne und Gruppen
Geschichten können bei Lernenden einen Motivationsschub auslösen und ihnen zu einer neuen Perspektive verhelfen. Wir werden aktiv durch Geschichten und nicht durch Fakten oder Analysen. Geschichten können Kinder und Jugendliche überzeugen, dass sie ein Ziel anpeilen, wie es Fakten oder objektive Analysen kaum je vermögen. Deutlich manifestiert sich dieser Effekt bei Familiengeschichten: »Meine Großmutter hat sich gegen widrige Umstände durchsetzen müssen, sie hat als alleinerziehende Mutter ein Haus gekauft und der sozialen Diskriminierung im Dorf getrotzt«, weiß ein fünfzigjähriger Mann zu berichten. Diese Familiengeschichte gab ihm den Mut, ein Studium zu absolvieren und sich als Politiker zu engagieren. Die Geschichte vom Kampf seiner Großmutter gibt ihm Kraft, wenn Opponenten ihn angreifen oder wenn er Rückschläge erleidet.
Dank Geschichten verfolgen Kinder Interessen. Knaben dribbeln stundenlang oder üben das Toreschießen, weil sie sich als Ronaldo oder David Beckham fühlen. Sie fantasieren sich in ihre Erfolgsgeschichten hinein. Andere Schülerinnen und Schüler träumen davon, Pilotin oder Pilot zu werden oder ein eigenes Restaurant zu führen. Sie projizieren eine Lebensgeschichte in die Zukunft.
2.7 Geschichten als Ausdruck der persönlichen Matrix
Meistens ist es kein Zufall, welche Geschichte uns fasziniert oder mit welcher Figur wir uns identifizieren. In unserer Wahl widerspiegeln sich Themen, mit denen wir uns beschäftigen, und die Figuren sagen etwas über persönliche Wünsche oder Eigenschaften aus.
Vielleicht sind wir von Trickstergeschichten fasziniert, in denen ein Schlaumeier Kontrahenten durch seinen Ideenreichtum überwältigt. Als cleverer Typ brilliert er mit Finten und Täuschungen. Schelmengeschichten wie »Till Eulenspiegel« sind bei Kindern populär. In Geschichten, bei denen Mitmenschen auf die Schippe genommen werden, erkennen sie ihre eigene Situation. Sie müssen sich anpassen, den Lehrpersonen und Eltern gehorchen. Schelmengeschichten zeigen, welches die Möglichkeiten der Schlaumeier und Neunmalklugen sind, sich trotzdem durchzusetzen. Andere Kinder oder Jugendliche sind von Heldengeschichten fasziniert. Helden verfügen über ungewöhnliche Kräfte, sind mutig, selbstlos und kämpfen für eine gute Sache. Sie führen einen Kampf um eine bessere Welt. Wieder andere Kinder oder Jugendliche bevorzugen Beziehungsgeschichten. Dabei geht es um Auseinandersetzungen zwischen Männern und Frauen, Kollegen, Freunden und Cliquen. Beziehungsgeschichten drehen sich um Liebe, persönliche Enttäuschungen, komplizierte soziale Situationen, Treue und Betrug. »Verbotene Liebe« ist eine Fernsehserie, die Scharen von Kindern und Jugendlichen anzog und immer noch anzieht.
Schließlich gibt es auch noch Opfergeschichten. In solchen Geschichten leidet eine Person wegen der Mitmenschen, der Umwelt oder der Gesellschaft. Identifiziert sich jemand mit solchen Geschichten, dann wird er womöglich gemobbt oder will helfen.