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1.6 Geschichten als Spielraum über die Regeln hinaus

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Schulen sind halbchaotische Institutionen. Sie lassen sich nicht mit einem wirtschaftlich geführten Betrieb vergleichen, wo die Angestellten ausgewählt, speziell trainiert sind und entlassen werden, wenn sie die Anforderungen nicht erfüllen. Schulen haben explizit die Aufgabe, Menschen aus allen sozialen Schichten, mit verschiedensten Biografien und ethnischen Hintergründen zu unterrichten. Was in der Schule abläuft, wird nur zum Teil von den Lehrpersonen erfasst oder kontrolliert. Die Schüler und Schülerinnen setzen ihre eigenen Ziele, sie verfolgen private Interessen und formieren sich zu separaten Untergruppen. Die zusätzliche, spannende Herausforderung ist, dass sich die zu Unterrichtenden in einer anderen Altersphase befinden als man selbst. Lehrpersonen haben es mit Menschen zu tun, die im Leben andere Sorgen, Anliegen und Wünsche haben als die Erwachsenen. Die Lernenden sind in Entwicklung und auf der Suche nach ihrer eigenen Identität. All dies hat zur Folge, dass man als Lehrperson nicht wie in einer Firma Regeln und Bestimmungen erlassen und zwingend einfordern kann. Wir können die Lernenden nicht nur auf Anpassung trimmen, sondern müssen zu ihnen Brücken bauen und uns in ihre Welten einfühlen. Lehrpersonen sind nicht Firmenchefs, die klare Leitlinien setzen und Bestimmungen definieren, sondern sie haben es mit Menschen zu tun, die sich zum Teil nur widerwillig führen lassen, oft verwirrt und noch nicht ganz bei der Sache sind. Die Lernenden entwickeln zudem Codes, die sich von den Regeln, die die Lehrerschaft vertritt, unterscheiden. Lernende verhalten sich deswegen immer ein bisschen renitent. Verhaltensweisen werden von Schülerinnen und Schülern geduldet oder gelten sogar als cool, bei denen die Lehrpersonen sich die Haare raufen. Wenn Lernende mobben, intrigieren, stören oder Pflichten vernachlässigen, dann können wir nicht sicher sein, ob die Mitschüler und Mitschülerinnen dieses Verhalten ebenfalls ablehnen. Zu spät zum Unterricht kommen oder die Aufgaben ignorieren gilt zum Beispiel unter vielen Lernenden als cool und hebt das eigene Prestige in der Klasse. Durch das Zuspätkommen setzt man Zeichen. Wenn wir als Lehrpersonen eine zu enge Normbrille aufsetzen und uns unbedingt mit unseren Ideen durchsetzen wollen, dann drohen wir zu scheitern. Wir entfremden uns von den Schülern und Schülerinnen.

Kinder und Jugendliche brauchen für ihre persönliche Entwicklung Spielraum. Es geht nicht nur um Anpassung, sondern auch um das Ausloten von Grenzen, um Experimente und die Auseinandersetzung mit den Wundern und Verrücktheiten des Lebens. Es muss darum auch möglich sein, Fehler zu begehen, sich schlecht zu benehmen oder frech zu sein, ohne dass gleich der Vorschlaghammer droht. In der Sprache der Psychologie: Der Schatten muss auch seinen Platz haben. Hinter schlechtem Benehmen, Unverschämtheiten und Widerspruch verbergen sich oft Themen, die die Schüler und Schülerinnen faszinieren, für die sie jedoch weder eine Sprache noch einen Raum finden. Wenn die Erziehungspersonen sich als schattenlose Wesen, makellose Vorbilder präsentieren und Nulltoleranz vertreten, dann haben die Schüler und Schülerinnen ein Problem: Die Auseinandersetzung mit den Schattenthemen des Lebens wird ihnen überlassen. Sie müssen mit ihren Ambivalenzen, ihrem Neid, Hass und ihren Aggressionen selbst fertig werden. Da sie nicht einfach »Stopp!« rufen können, wenn sich ihnen eine unangebrachte Fantasie oder eine Aggression aufdrängt, müssen sie selbst eine Antwort finden.

Hier setzt die Bedeutung von Geschichten ein. Geschichten sind ein Weg aus dem Dilemma zwischen den Anpassungsforderungen der Schule und dem Eingehenwollen auf die Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler. Durch Geschichten können Wirklichkeiten in den Unterricht eingebracht werden, die sonst keinen Platz haben. Geschichten eröffnen sowohl für die Lernenden als auch für die Lehrpersonen mentale Räume, in denen man sich mit Themen auseinandersetzen kann, die man sonst aus dem Unterricht ausschließen muss. Voraussetzung ist jedoch, dass die Lehrperson die Rolle der Geschichtenerzählerin oder des Geschichtenerzählers übernimmt. Es gibt verschiedene Gründe, wieso es sich lohnt, in der Schule mit Geschichten zu arbeiten.

Von Gangstern, Diven und Langweilern

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