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Problematik der Regeln

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Die Erwartung ist, dass Kinder und Jugendliche Schulhausregeln respektieren, wenn sie immer wieder daran erinnert werden. Dass die Regeln internalisiert und zur Entscheidungsgrundlage der Schüler und Schülerinnen werden. Dass sie sich selbst disziplinieren, wenn sie über die Regeln informiert sind und ihren Sinn einsehen. Diese Vorstellung ist psychologisch naiv. Viele Regeln, die in der Schule festgelegt oder ausgehandelt und kommuniziert werden, lassen einen Interpretationsspielraum zu. Die Lernenden unterschreiben zum Beispiel einen Vertrag, in dem sie sich zu einem respektvollen Umgang miteinander verpflichten. Ob sie wirklich respektvoll miteinander umgehen, ist jedoch offen. Es kann vorkommen, dass sie trotzdem gute Freunde im Stich lassen, eine Kollegin mobben oder gemein sind. Interessanterweise werden sie jedoch immer noch beteuern, dass für sie Respekt wichtig ist, sie haben das Gefühl, dass sie sich loyal verhalten, nicht mobben und freundlich sind. Wort und Handlung stimmen nicht überein, denn das Eingeständnis der Diskrepanz würde persönlichen Stress auslösen. Man müsste sich eingestehen, dass man nicht so erhaben ist, wie man es sich vorstellt. Um diese kognitive Dissonanz zu verhindern, konstruieren die Jugendlichen Entschuldigungen. Sie haben dann den Freund »aus gutem Grund« nicht zum Fest eingeladen, die Kollegin hat sich beim letzten Treffen doof verhalten oder war unehrlich, darum haben sie ihr die Meinung sagen müssen. Die Jugendlichen wollen ihr positives Selbstbild erhalten und den Konflikt mit den bewusst deklarierten Werten vermeiden. Man erfindet eine Ausrede, um nicht mit dem eigenen Schatten konfrontiert zu werden. Regeln, die einen Interpretationsspielraum zulassen, eignen sich sehr gut dazu. »Ehrlichkeit« kann heißen, dass man einer Kollegin mitteilen soll, dass sie eine doofe Kuh ist, und »Respekt«, dass man gegen einen unflätigen Schüler vorgeht. Wenn Regeln einen Interpretationsspielraum zulassen, dann verhalten sich sowohl Jugendliche als auch Erwachsene nach persönlichen Opportunitäten. Die Regel wird beachtet, wenn sie einem nützt, sonst wird sie umformuliert. Diesen Mechanismus gilt es zu beachten, wenn man Schulhaus­regeln aufstellt. »Ich bin höflich, anständig und rücksichtsvoll.« –»Ich bin einfach normal nett.« – »Ich höre sofort auf, wenn jemand ›stopp‹ sagt.«: Das steht zum Beispiel an den Wänden eines Zürcher Schulhauses. Was aber heißt »normal nett«, was ist höflich, oder wann sollte der andere aufhören? Welche Handlungen können einfach gestoppt werden? Solche Regeln oder Leitsätze lassen einen Interpretationsspielraum zu und können somit, wenn sie einem in die Quere kommen, uminterpretiert werden.

Wegen dieses Täuschungsmechanismus laufen wir Gefahr, Schattenmotive zu übersehen. Wir einigen uns mit den Schülern und Schülerinnen auf der Ebene der Ideale, vermeiden jedoch die Auseinandersetzung mit ihren effektiven Verhaltensweisen. Lernende beteuern dann zum Beispiel, die Stopp-Regel einzusetzen, wenn sie von einem Mitschüler angegriffen werden. In Wirklichkeit provozieren sie einen Kollegen bis zur Weißglut und rufen dann unschuldig »Stopp«, wenn er sich wehren will. Schöne Worte und Leitsätze können manipuliert und mit dem eigenen Fehlverhalten in Übereinstimmung gebracht werden.

Von Gangstern, Diven und Langweilern

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