Читать книгу Literaturdidaktik Deutsch als Fremd- und Zweitsprache - Almut Hille - Страница 18
5 Fertigkeiten
Оглавление„Grundlegend für den Fremdsprachenunterricht sind […] die vier Fertigkeiten Sprechen, Hören, Schreiben und Lesen: An ihnen zeigt sich die wahre Sprachkompetenz.“ (Brinitzer et al. 2016: 9) Einer solchen Aussage, hier der Handreichung DaF unterrichten. Basiswissen Didaktik Deutsch als Fremd- und Zweitsprache entnommen, liegt ein handlungsorientiertes Verständnis von Fremdsprachenunterricht zugrunde: Lernende sollen zum ‚Sprachhandeln‘ befähigt werden (vgl. ebd.). Die Arbeit mit literarischen Texten spielt in einem solchen, auch im GER (2001) vertretenen Verständnis von Unterricht kaum eine Rolle. In kritischer Auseinandersetzung mit ihm wird jedoch in jüngeren Forschungsdiskussionen und auch im neuen Begleitband zum GER (2020) die Auffassung vertreten, dass literarische Texte durchaus einen Platz im Fremdsprachenunterricht haben.
Insgesamt ersetzt der GER nun „das traditionelle Modell der vier Fertigkeiten (Hören, Sprechen, Lesen, Schreiben), das sich als zunehmend unzureichend für die Erfassung der komplexen Wirklichkeit von Kommunikation erwiesen hat, durch kommunikative Sprachaktivitäten und Strategien“ (GER 2020: 38). Diese werden in Form von vier Modi dargestellt: Rezeption, Produktion, Interaktion und Mediation, die „die Art, wie Menschen Sprache tatsächlich benutzen, eher wider[spiegeln] als die vier Fertigkeiten“ (ebd.: 39). Gleichzeitig ergeben die Modi Rezeption und Produktion, „jeweils mündlich und schriftlich, […] die vier traditionellen Fertigkeiten“; umfasst Interaktion sowohl Rezeption als auch Produktion, umfasst Mediation sowohl Rezeption als auch Produktion und oft auch Interaktion (ebd.: 40). Die Arbeit mit literarischen Texten im weiten Sinne ist in den Modi Rezeption („Lesen als Freizeitbeschäftigung“, „Fernsehsendungen, Filme und Videos verstehen“, GER 2020: 71f., 64), Produktion („Kreatives Schreiben“, GER 2020: 81ff.) und Mediation („Persönliche Reaktion auf kreative Texte“, „Analyse und Kritik kreativer Texte“, GER 2020: 127ff.) aufgehoben. Die einzelnen Deskriptoren umfassen Aktivitäten und Strategien des Lesens, Schreibens, Hörens, Sprechens, (Hör-)Sehens und Sprachmittelns.1 Wie sie in der Forschung bislang diskutiert wurden und sicher auch weiterhin noch werden, wird im Folgenden dargestellt.
Im Fokus steht zunächst die Fertigkeit Lesen, auch im Begriff der Lesekompetenz (→ Kap. 4) aufgehoben. Sie umfasst einerseits so grundlegende Prozesse wie das Erkennen von (längeren) Wörtern oder Sätzen, andererseits aber auch die Förderung von Strategien, welche die Bedeutungskonstruktionen auf der Textebene oder die bewusste Gestaltung von Leseprozessen durch die Lernenden unterstützen.
Literarische Texte gelten als besonders geeignet zur Förderung von Lesekompetenz, da sie – anders als Sach- und Informationstexte – „eine Stärkung der emotionalen und damit auch motivationalen Lesebereitschaft“ (Burwitz-Melzer 2006: 109) bewirken können. Die emotionale Lesebereitschaft kann durch Unterhaltung und empfundene Spannung, durch Interesse an der beobachteten (neuen) Welt oder durch Identifikationen mit einzelnen Figuren und deren Wegen über das ‚Reale‘ hinaus aufgebaut werden. Die Vorstellungskraft und Phantasie der Lernenden, die Bilder zum Geschehen in ihren Köpfen entwickeln, werden angeregt; die Rede ist in diesem Zusammenhang auch vom „Lesen als Kino im Kopf“ (Spinner 2004: 199). Es sind ganz unterschiedliche Bilder, die beim Lesen in den Köpfen einzelner Menschen entstehen. Durch ihre Unbestimmtheiten und Mehrdeutigkeiten fordern literarische Texte diese heraus. Sie fördern die kreative Mitwirkung an der Bedeutungskonstruktion, die durch bestimmte Strategien bzw. Verfahren (→ Kap. 20) unterstützt werden kann.
Zur bewussten Gestaltung von Leseprozessen gehört auch die Anwendung verschiedener Lesestile durch die Lernenden – abhängig von Zielsetzungen und Aufgabenstellungen (→ Kap. 19) für das Lesen. Zu unterscheiden sind, in etwas anderer Formulierung auch im GER dargestellt, grundlegend folgende Stile des Lesens (wie auch des Hörens und des Hör-Sehens):
global (bzw. kursorisch): Die Leser*innen erkennen Thema, Zeit, Raum und Handlung des Textes, zentrale Figuren bzw. Figurenkonstellationen sowie zentrale Textverfahren (bspw. Ironie) und Textsymboliken.
selektiv (bzw. selegierend): Die Leser*innen erfassen bestimmte Informationen des Textes.
detailliert: Die Leser*innen erfassen den Text und seine ‚Machart‘, seine Strukturmerkmale und deren mögliche Funktionen wie Wirkungen möglichst vollständig (vgl. auch Schramm 2008: 160).
Neben dem hier intendierten intensiven Lesen einzelner Texte in der Regel im Unterricht ist auch das extensive Lesen, d.h. die regelmäßige freie Lektüre selbst gewählter Texte in der Fremdsprache, zu fördern (vgl. auch Surkamp 2007: 178, 183); dies nimmt auch der neue Begleitband zum GER in der Skala „Lesen als Freizeitbeschäftigung“ auf. Es kann durch das Bereitstellen einer stets verfügbaren Bücher-, Film- und Hörspielkiste (oder -liste für das digitale Lesen, Hör-Sehen und Hören) unterstützt werden. Auf diese Weise kann eine Motivation zum Mehr-Lesen, zum Noch-einmal-neu- und Wieder-Lesen entstehen, welche eine entscheidende Voraussetzung für den Aufbau und die Entwicklung von Lesekompetenz bzw. Leseverstehen ist (vgl. auch Lutjeharms 2016: 97).
In besondere Nähe zur Fertigkeit Lesen wird in einem handlungsorientierten Verständnis von Fremdsprachenunterricht in der Regel die Fertigkeit Schreiben gerückt.
Bis heute werden die sprachlichen Fertigkeiten oft in rezeptive (Lesen, Hören, auch Sehen) und produktive (Sprechen, Schreiben), mitunter auch in schriftliche (Lesen, Schreiben) und mündliche (Hören, Sprechen) Fertigkeiten unterteilt. Es ist aber deutlich geworden, dass das Lesen (wie das Hören und Sehen) kein passiver, rezeptiver Vorgang, sondern ein produktiver, aktiver Prozess ist. Gleichzeitig weisen Prozesse des Lesens und des Hörens in kognitionswissenschaftlicher Perspektive starke Ähnlichkeiten zueinander auf, obwohl sie dem ‚schriftlichen‘ bzw. ‚mündlichen‘ Bereich zugehören. In der Fremdsprachendidaktik hat sich insofern ein Konsens darüber herausgebildet, dass die einzelnen Fertigkeiten nicht separiert voneinander, sondern integriert zu fördern sind. Mitunter ist auch von ‚Fertigkeitenbündeln‘ die Rede, deren integrierte Förderung den Unterricht bestimmen sollte.
Die Arbeit mit literarischen Texten umfasst in der Regel die integrierte Förderung verschiedener Fertigkeiten. Texte werden gelesen, wobei das Lesen auch das Dekodieren von Symbolen oder (Film-)Bildern, also das Sehen umfasst (vgl. auch Burwitz-Melzer 2007b: 146); Texte werden gehört oder von den Lernenden hörbar gemacht; Texte werden gesprochen oder geschrieben, und es wird über Texte gesprochen oder geschrieben.
Mit Blick auf das Schreiben wird literarischen Texten nachgesagt, dass sie zum bedeutungsvollen, motivierenden Schreibanlass (aber auch Sprechanlass) werden und in besonderer Weise zur Ausprägung der zum Schreiben notwendigen Teilfertigkeiten beitragen können (vgl. auch Surkamp 2007: 185). Eine Motivation zum Schreiben – als Voraussetzung für Aufbau und Entwicklung einer Schreibkompetenz – entstehe wie beim Lesen besonders dadurch, dass die Lernenden beim Schreiben von oder über literarische(n) Texte(n) ihre eigenen Erfahrungen und Persönlichkeiten ins Spiel bringen (→ Kap. 8, 20) und ins Verhältnis zu literarisch beobachteten (neuen) Welten setzen oder sich mit Figuren identifizieren können; sie erleben Spannung, Faszination, Neugier und können Vorstellungskraft wie Kreativität entwickeln (vgl. auch ebd.: 185, 187). Sie experimentieren mit Wörtern, Synonymen, sprachlichen Strukturen und spezifischen Formen der Sprachverwendung (z. B. Metaphern); sie erfahren die Bedeutungsdimensionen formaler Elemente sowie deren mögliche Funktions- und Wirkungsweisen (vgl. ebd.: 188).
Der Schreibprozess – in erster Differenzierung oft als gelenkt oder frei gekennzeichnet – ist an der jeweiligen kommunikativen Funktion des Schreibens orientiert. Unterschieden werden beispielsweise das pragmatische, informative, argumentative, emotive und kreative Schreiben wie auch das Schreiben zum Aufrechterhalten persönlicher Kontakte (vgl. Königs 2017: 300). An die kommunikative Funktion ist die Wahl der Textart gebunden, wobei gerade beim kreativen Schreiben (→ Kap. 20) auch Texte verschiedener Genres entstehen können.
Das Schreiben ist ein zyklisch-rekursiver Prozess, der sich nicht linear, sondern in planerischen und korrektiven ‚Schleifen‘ vollzieht (vgl. ebd.). Unterschieden werden die ineinandergreifenden, nicht nur nacheinander ablaufenden Phasen:
Sammeln und Organisieren von Ideen und Material
Anfertigen eines Konzepts bzw. einer Gliederung
Schreiben und kontinuierliches Überarbeiten
Präsentieren bzw. Veröffentlichen des Textes (vgl. auch Surkamp 2007: 184)
Im Laufe des Schreibprozesses sollen die Lernenden Planungs-, Schreib- und Überarbeitungsstrategien wie auch Präsentationstechniken kennen lernen, sie anwenden und reflektieren. Für ein erfolgreiches Schreiben ist es wichtig, dass Lernende am Beginn eines Schreibprozesses Zweck und Adressat*innen ihres Textes festlegen und realisieren, dass Inhalt, Organisation und Sprachstil des entstehenden Textes von beiden Größen abhängen. Sie sollten das Genre ihres Textes festlegen, um beim Schreiben formale und stilistische Elemente dem jeweiligen Zweck ihres Schreibens entsprechend einsetzen zu können (vgl. auch ebd.). Dafür ist zunächst oft ein textartenspezifischer Input nötig, um Lernenden die typischen Strukturen von Texten bewusst zu machen (vgl. Krings 2016: 110).
Zu bedenken ist seitens der Lehrkraft auch, dass Lernende in der Planungsphase dem Sammeln von Ideen und Material oft größere Aufmerksamkeit als der Auswahl und dem Organisieren oder Gliedern von Material schenken bzw. mit diesem Schwierigkeiten haben. So können Konzepte oder Textgliederungen entstehen, die nicht ausreichend strukturiert sind, was zu Schwierigkeiten in der Schreibphase führen kann. In dieser konzentrieren sich L2-Schreibende zudem stark auf lexikosemantische Fragen, orientiert an der L1 (vgl. ebd.: 109), und auf sprachliche Korrektheit. In der Überarbeitungsphase setzt sich diese Fokussierung fort, inhaltliche oder strukturelle Überarbeitungen finden weniger statt (vgl. auch Abraham/Bräuer 2005: 91). Die Lernenden benötigen hier gezielte Unterstützung für die Formulierungsarbeit, z. B. auch in der Nutzung von Hilfsmitteln wie (elektronische) Wörterbücher und (grammatische) Nachschlagewerke. Die Lehrkraft kann den gesamten Schreibprozess durch die Formulierung strukturierender, differenzierender Aufgaben zum Sammeln von Ideen und Material, zum Schreiben und (gemeinsamen) Überarbeiten steuern.
In der Arbeit mit literarischen Texten sind
das emotive und kreative Schreiben (Briefe, Tagebucheinträge, eigene literarische Texte, die in der Regel anhand eines Impulses oder einer ‚Vorlage‘ entstehen),
das wertende bzw. argumentative Schreiben (Literatur- oder Filmkritik) und
das Schreiben als Lernhilfe (Lesetagebücher und -protokolle) besonders wichtig.
Dabei ist es möglich, dem Kriterium sprachlicher Korrektheit zunächst vergleichsweise geringe Bedeutung beizumessen, was die Schreibmotivation und den Schreibfluss fördern kann.
In Einführungen in die Fremdsprachendidaktik werden die Anteile von geschriebener und gesprochener Sprache in der Alltagskommunikation etwa mit 5 % und 95 % angegeben oder – verteilt auf die vier ‚wichtigsten‘ Fertigkeiten – mit 45 % Hören, 30 % Sprechen, 16 % Lesen und 9 % Schreiben (vgl. Decke-Cornill/Küster 2015: 179). Mit der wachsenden Bedeutung der digitalen Medien im Alltag verschiebt sich das Verhältnis zugunsten des Lesens, Schreibens und auch Sehens im Sinne des Dekodierens von Symbolen und Bildern. Dennoch bleibt gerade das Hören eine wichtige Fertigkeit in der Fremd- und Zweitsprache, die im Unterricht jedoch oft zu kurz kommt. Es findet grundsätzlich in zwei situativen Kontexten statt: in der interpersonalen Begegnung und in der medialen Rezeption (vgl. Decke-Cornill/Küster 2015: 179). In der Arbeit mit literarischen Texten sind beide Kontexte relevant und können einen Rahmen bilden.
Kognitionswissenschaftlich wird die Fertigkeit Hören in der Nähe der Fertigkeit Lesen gesehen, da die Prozesse des Leseverstehens und des Hörverstehens sehr ähnlich sind. Auch das Hören umfasst das Erkennen von Wörtern oder Sätzen und die Bedeutungskonstruktion auf der Ebene von (längeren) Äußerungen oder Texten. Bottom-up- und top-down-Prozesse (→ Kap. 4) greifen auch beim Hören ineinander. Die Hörer*innen sind, wie die Leser*innen, Ko-Produzent*innen von Texten, jedoch unter spezifischen auditiven Bedingungen. Diese sind durch Flüchtigkeit, durch den – bis auf einzelne Pausen oder Momente der Stille – kontinuierlichen Lautstrom und das vorgegebene Tempo des zu Hörenden charakterisiert (vgl. Müller 2004: 7). Hörer*innen können kaum bei Problemen im Text zurückgehen, Textteile überspringen und das Dekodiertempo selbst bestimmen (vgl. Lutjeharms 2016: 98). Anders als der Leseprozess kann der Hörprozess nicht verlangsamt oder durch Zurückblättern und wiederholtes Lesen individuell gestaltet werden. Insofern können Lernende – wenn sie etwa den Lautstrom nicht ‚schnell genug‘ segmentieren und lexikalische Einheiten erfassen können – rasch ‚den Faden verlieren‘ und den Eindruck gewinnen, sie könnten von einem Hörtext ‚gar nichts‘ verstehen. Ein regelmäßiges Hörtraining oder auch eine Hörerziehung (vgl. Wermke 1995) ist hier von Wichtigkeit. Im Kontext der medialen Rezeption von Texten können Lernende es trainieren,
aus Hintergrundgeräuschen (z. B. Bahnhof, Restaurant) auf die Kommunikationssituation zu schließen;
Stimmen und damit Personen/Figuren zu unterscheiden;
aus Stimmen Rückschlüsse auf Alter und Geschlecht von Personen/Figuren zu konstruieren;
prosodische Elemente wie Intonation und Rhythmus sowie die emotionale Färbung einer Stimme, Stimmhöhe, Lautstärke und Sprechgeschwindigkeit zu interpretieren und daraus Rückschlüsse auf das Gesprochene zu ziehen (vgl. Lütge 2017: 128).
Dafür muss das Hören im Unterricht – wie auch das Lesen eines Textes oder das (Hör-)Sehen eines Films – in Phasen erfolgen, die verschiedene Möglichkeiten der Begegnung mit einem Text oder verschiedenen Texten (→ Kap. 18) bieten. Die Hördauer muss angemessen gewählt und auch wiederholtes Hören möglich sein. Dies ist zwar – anders als beim Lesen, bei dem man individuell etwa rasch zurückblättern oder die Augen noch einmal auf den oberen Teil der Seite lenken kann – mit technischem Aufwand verbunden, er ist jedoch nicht zu groß. Auch die Anwendung von (metakognitiven) Strategien, welche die bewusste Gestaltung von Hörprozessen unterstützen, müssen die Lernenden trainieren.
Unterrichtsidee
Wie eine solche Phase des Trainings von Hörprozessen mit literarischen Texten aussehen kann, zeigen Kramsch/Huffmaster (2008) am Beispiel von Goethes Gedicht Wandrers Nachtlied.2 In dem von ihnen skizzierten Unterrichtssetting wurde es den Lernenden zunächst nur mündlich präsentiert. Der Dozent las das Gedicht mehrere Male vor, während die Lernenden versuchen sollten, es aufzuschreiben. Kramsch/Huffmaster zeigen, wie eine solche Aktivität nicht nur als Hörverstehensübung verstanden werden kann – wie von den Lernenden in der geschilderten Unterrichtssituation eingeschätzt –, sondern darüber hinaus als erster Einstieg in einen komplexen Text dienen kann, der sich zunächst als überschaubar präsentiert, im weiteren Verlauf der Auseinandersetzung jedoch als vieldeutig und in seiner Bedeutungsbildung offen erweist.
Die ästhetische Dimension des Hörens wird in didaktischen Diskussionen zunehmend hervorgehoben.3 Es war zunächst Jutta Wermke in der Fachdidaktik Deutsch, die ein Konzept zur Hörerziehung als Wahrnehmungsschulung, die sie als Teil einer ästhetischen Bildung versteht, entwickelte. Das Hören wird in dem Konzept „als Hören auf den Klang der Welt und nicht als nachgeordnete Funktion in Kommunikationsprozessen“ (Wermke 1995: 18) aufgefasst. Die Lernenden sollen zum Hören, Horchen und Lauschen als Formen auditiver Wahrnehmung bzw. Aufmerksamkeit angeregt werden, wobei gerade das Horchen und Lauschen außerhalb von Kommunikationssituationen situiert sind (vgl. Wermke 1995: 21 und 2013: 184). Die einzelnen Tätigkeiten unterscheiden sich insofern als das Hören eine „aktive […] selektive und sinnkonstituierende Wahrnehmungsleistung [ist]. Unwichtiges wird ausgeblendet“ (Wermke 2013: 183), um beispielsweise an einem Gespräch teilnehmen zu können. Das Horchen ist „ein kurzfristig aktualisiertes, konzentriertes und forciertes Hören“ (ebd.: 184), etwa auf ein leises Geräusch oder ein Gespräch hinter einer Tür. Das Lauschen ist ebenfalls „ein hochkonzentriertes, aber zugleich selbstvergessenes Hören, das sich entspannt den Eindrücken hingibt“ (ebd.: 185), etwa beim Genuss von instrumentaler Musik.
Literarische Texte forcieren die auditive Wahrnehmung in verschiedenen Formen, auch beim Hören ein und desselben Textes. So kann ein Hörspiel bzw. der erste Teil eines Hörspiels (zunächst) global gehört werden mit dem Ziel, Thema, Zeit, Raum und Handlung sowie zentrale Figuren bzw. Figurenkonstellationen zu erkennen. Beim detaillierten (nochmaligen) Hören des Hörspiels bzw. weiterer seiner Teile kann die Aufmerksamkeit auf Geräusche und leise, vielleicht heimliche Gespräche oder auf die Musik und ihre möglichen Funktionen wie Wirkungen gelenkt werden. Es kann gehorcht und gelauscht werden. So werden Vorstellungskraft und Phantasie der Lernenden angeregt, denn wie auch beim Lesen entstehen Bilder in den Köpfen. Die Lernenden sind im besten Fall emotional beteiligt, was die Motivation zum Hören steigern kann.
Unterrichtsidee
Wie ein solches Hören mit Hörspielen im Unterricht erfolgen kann, führt Ingvild Folkvord in ihrem Beitrag Gehörte Geschichten im Literaturunterricht (2011) aus. Sie zeigt exemplarisch, wie sie mit Germanistikstudierenden in Norwegen mit dem kurzen Hörspiel Die Verabredung (Zeiner/Betz 2006) arbeitet, das nur zehn Minuten dauert und montageartig kurze Telefongespräche, den inneren Monolog der Protagonistin Angelika und kürzere Musik-Sequenzen zusammensetzt. Die Protagonistin hat Michael kennengelernt und nach einigen Telefonaten zum Essen eingeladen. Nun ist sie unsicher, ob er kommt. Folkvord (2011: 119) führt dazu aus: „[B]eim Hören dieses Hörspiels versteht man eben auch über Prosodie, Tonfall, Pausen und einfache Klangrequisiten wie Tastendruck- und Klingelgeräusche. Hier geht es nicht darum, isolierte sprachliche Strukturen zu erfassen. Vielmehr ist die Fremdsprache eingebettet in einen Handlungszusammenhang.“
Neben dem Hören, Horchen und Lauschen kann auch das Zuhören, „ein aufmerksames konzentriertes Hören auf die Äußerungen eines anderen“ und damit innerhalb von Kommunikationssituationen verortet (vgl. Wermke 2013: 185), anhand literarischer Texte geschult werden. In der Kommunikation über Texte, im Austausch über deren mögliche (Be-)Deutungen und Wirkungen spielt es eine Rolle. Auch beim (künstlerischen) Erzählen im Deutsch als Fremd- und Zweitsprachunterricht (→ Kap. 12, 20) kommt dem Zuhören, auch als eine soziale Fähigkeit aufgefasst, eine starke Bedeutung zu. Es wird von den Erzähler*innen explizit als eine bei den Zuhörer*innen, die auch selbst im Unterricht zu Erzähler*innen werden, zu fördernde Fertigkeit reflektiert und gefördert (vgl. Wardetzky 2010: 45).4 Im Anschluss an Wardetzky hat Narges Roshan (2020) kürzlich einen Vorschlag zum (künstlerischen) Erzählen von Märchen im Kontext von Deutsch als Zweitsprache dargestellt (→ Kap. 12).
Alle (Zu-)Hörer*innen sind auch selbst Sprecher*innen – sei es beim Präsentieren von (eigenen) Texten oder im differenzierten Austausch über Höreindrücke (vgl. Wermke 2013: 186f.).
Die Förderung der Fertigkeit Sprechen ist ein großes Bedürfnis der Lernenden und gleichzeitig eine der großen Herausforderungen im Fremd- und Zweitsprachunterricht. Viele Lernende – etwa (junge) Erwachsene in fakultativen Sprachkursen – stellen es als ihr persönliches Lernziel dar, besser sprechen zu können. Daraus ergibt sich der unterrichtliche Anspruch, einerseits die Sprechbereitschaft von Lernenden zu nutzen, auszubauen oder überhaupt erst anzuregen; angemessene individuelle Zeiten zum Sprechen einzuplanen und eventuelle Sprechhemmungen abzubauen. Andererseits muss die Sprechfähigkeit der Lernenden gefördert werden: Sie umfasst etwa die Aussprache, die Sprachflüssigkeit und die nonverbale Kommunikation (vgl. auch Elis 2015: 93). Zentral ist der Begriff der Sprechkompetenz: Er umfasst ebenfalls die Dimension der Flüssigkeit (fluency), meint darüber hinaus jedoch vor allem die Korrektheit des Gebrauchs sprachlicher Regeln (accuracy), die lexikalische und grammatische Breite (complexity) und die pragmatische Angemessenheit (appropriacy) (vgl. Schmidt 2016: 102).
In kognitionswissenschaftlicher Perspektive bestehen zwischen dem Sprechen und dem Schreiben gewisse Ähnlichkeiten. Anders als das in der Regel beim Schreiben der Fall ist, findet das freie mündliche Sprechen jedoch unter Zeitdruck statt. Es ist kein zyklischer Prozess, der Raum für längere und wiederkehrende Phasen des Planens, Verfassens und Überarbeitens eines Textes vor dessen Präsentation bietet.
In der Arbeit mit literarischen Texten kann man eine Verlangsamung und ein wiederholtes ‚Üben‘ des Sprechens erreichen. Zu unterscheiden sind das Sprechen von literarischen Texten und das Sprechen über literarische Texte. Beide gehen in der Regel jedoch Hand in Hand. Das Sprechen von literarischen Texten wird auch unter dem Begriff der Ästhetischen Kommunikation gefasst. Mit ihm wird das Textsprechen in einem dialogischen Modell, d.h. das Senden und Empfangen des gesprochenen Textes als kommunikativer Prozess aufgefasst, in dessen Verlauf auf beiden Seiten eine Vielstimmigkeit entsteht (vgl. Brunner 2006: 91). Eine solche Auffassung liegt auch dem künstlerischen Erzählen zugrunde (vgl. Roshan 2020: 43ff.).
Die sprecherische Gestaltung von Texten enthält immer performative Elemente. Sie lässt viele Freiräume, ist stets subjektiv und ‚weiß‘ im besten Falle um die vielfältigen Möglichkeiten der Bedeutung und Wahrnehmung von Texten. Geprägt wird die Textgestaltung (oder Performance, von der z. B. beim Poetry Slam die Rede ist) von hörbaren und sichtbaren Komponenten. Die hörbaren Komponenten sind u.a. Aussprache, Stimmqualität, Sprechtempo, Rhythmus, Pausen und Intonation; die sichtbaren Komponenten sind u.a. Haltung, Gestik, Mimik und Blickkontakt (vgl. Brunner 2006: 92f.). Individuell gestaltet werden können lyrische Texte, auch Slam Poetry, kleine Textformen wie Anekdoten oder Fabeln, Kurzgeschichten sowie Auszüge aus erzählenden oder dramatischen Texten. Diese enthalten oft Figurenmonologe oder bieten Gelegenheit, solche in Anlehnung an die Textvorlage zu schreiben und anschließend zu performen.
Für die sprecherische Gestaltung von Texten im Unterricht werden folgende Empfehlungen gegeben (wobei die letzten drei Punkte auch für das Schreiben und die Präsentation geschriebener bzw. audiovisueller Texte gelten):
professionelle ‚Muster‘sprechfassungen von Schauspieler*innen, Autor*innen (etwa auf lyrikline.org oder zehnseiten.de) oder Erzähler*innen einsetzen (weniger von Lehrkräften) (→ Kap. 18),
lautes Ein- und Erlesen der Texte durch die Lernenden fördern,
jede Fassung würdigen,
den Prozess, nicht das Produkt in den Vordergrund stellen,
Feedbackregeln möglichst gemeinsam festlegen und beachten (Brunner 2006: 95).
Unterrichtsidee
Ein Unterrichtvorschlag wäre z. B. die sprecherische Gestaltung des Gedichts Ein Gleiches, auch als Wanderers Nachtlied bekannt, von Johann Wolfgang von Goethe.5 Es wird zunächst mit der Aufgabe ausgegeben, es sich selbst einmal laut vorzulesen. Im nächsten Schritt können einzelne Lernende Zettel ziehen, auf denen jeweils eine bestimmte Sprechhaltung vermerkt ist: Märchenerzähler*in, Trauerredner*in, Sportreporter*in, Pfarrer*in, Nachrichtensprecher*in, Politiker*in u. ä. Sie setzen ihre ‚Regieanweisung‘ vor der Gruppe um, und die Gruppe errät bzw. ermittelt die jeweilige ‚Rolle‘. Es entstehen verschiedene Deutungen und auch Wahrnehmungen des Textes, über die sich die Gruppe im Anschluss austauschen kann (vgl. ebd.: 95f.).
Die letztgenannte Phase ist bereits ein Sprechen über den Text. Es gehört in den Bereich der in der Fremdsprachendidaktik wie auch in der Fachdidaktik Deutsch oft so bezeichneten Anschlusskommunikation. In ihr sind die Fertigkeiten des Sprechens und des (Zu-)Hörens ebenso aufgehoben wie soziale Komponenten des Aushandelns von Bedeutungen und des Tolerierens von divergierenden Wahrnehmungen oder Meinungen. In Lektüregesprächen (→ Kap. 8) als einer Form der Anschlusskommunikation etwa muss man zuhören, vergleichen, andere Meinungen und Lösungsvorschläge respektieren und die eigene Meinung anhand des Textes begründen und verteidigen (vgl. Burwitz-Melzer 2006: 110). So können auch ausgewogene Beziehungen zwischen den Lernenden und eine tragfähige Gesprächskultur entstehen (vgl. Burwitz-Melzer 2007a: 224).
Das Sprechen über literarische Texte kann besonders anregend sein, da Lernende bestenfalls ‚involviert‘ sind, aus einem emotionalen Bedürfnis und Interesse heraus zu bedeutungsvollen und sie interessierenden Themen bzw. Problemlagen sprechen. Die (sprecherisch gestaltete) Textvorlage kann dabei besonders zum Austausch motivieren. Sie kann die Lernenden durch ein Lektüregespräch leiten und ihnen sprachliche Unterstützung etwa durch das Bereitstellen von (gesprochenen) Phrasen oder Chunks bieten, die sie auch in außerunterrichtlichen Kommunikationssituationen nutzen können (vgl. auch Elis 2015: 95).
Mit Blick auf junge Sprecher*innen von Fremd- und Zweitsprachen, etwa in der Primarstufe, kann anhand erster empirischer Studien festgehalten werden, dass sie in der Arbeit mit literarischen Texten zunächst Erfolge im Hören und Sprechen, erst später im Lesen und Schreiben erzielen (vgl. Burwitz-Melzer 2007a: 220). Angestrebt werden sollten allmähliche Übergänge vom Zuhören zum Selbstlesen sowie vom Nachsprechen ausgewählter Textteile und Formulieren erster Meinungen zu Texten hin zum Erzählen selbst erfundener Texte und zu ersten kurzen Lektüregesprächen (vgl. ebd.).
Überlegungen zur Förderung der Motivation zum Sprechen waren es, die Inge C. Schwerdtfeger – bereits 1989, als Filme noch nicht so leicht zugänglich waren wie heute – für den Einbezug von Filmen in den Unterricht Deutsch als Fremdsprache plädieren ließen. Das Sprechen über Filme sollte Lernende unterstützen, ihre „Redescheu“ und ihre „Langeweile“ im üblicherweise lehrbuchgeprägten Sprachunterricht zu überwinden (vgl. Schwerdtfeger 1989: 19). Schwerdtfeger etablierte das Sehen als bislang ‚übersehene‘ fünfte Fertigkeit im Fremdsprachenunterricht (vgl. ebd.: 24).
Zu unterscheiden sind das Sehen von unbewegten Bildern (Fotografien, Zeichnungen, Gemälde) und bewegten Bildern (Filme, Videos), auch als ‚Bilder-Lesen‘ und ‚Film-Lesen‘ bezeichnet. Unbewegte Bilder werden mit ungeteilter Aufmerksamkeit als Ganzes wahrgenommen; die Wahrnehmung kann ausgedehnt und wiederholt werden. Die Schulung des ‚Bilder-Lesens‘ gilt Fragen von Ikonografie und Symbolik wie:
Wofür steht eine Fotografie von Menschen auf der Berliner Mauer im November 1989?
Was symbolisieren hochgereckte Arme von Menschen?
Was symbolisieren bestimmte Farben wie schwarz oder rot?
Wie wirken die Bilder auf uns – was empfinden wir als schön oder hässlich und warum ist dies so?
Bewegte Bilder hingegen sind flüchtig. Sie müssen schnell, mit geteilter Aufmerksamkeit und in der Regel über verschiedene Kanäle (Sehen und Hören/Augen und Ohren) wahrgenommen werden. Insofern sprechen wir auch vom Hör-Sehen bzw. Hör-Seh-Verstehen (vgl. ebd.: 143) und auch hier von den oben genannten verschiedenen Stilen (des Hörens) wie global, selektiv und detailliert. Das Hör-Sehen ist ein bild- und zeichengestütztes Hören, das nicht nur im Kontext des Film-Sehens bzw. ‚Film-Lesens‘ von Bedeutung ist, sondern auch in der alltäglichen Kommunikation. Denn das Hören ist häufig visuell unterstützt – durch Symbole und Piktogramme, durch non-verbale Zeichen wie Gestik und Mimik von Kommunikationspartner*innen (vgl. ebd.: 60) und durch die bildlich-räumliche Umgebung einer Kommunikationssituation. Hinsichtlich der räumlichen Umgebung und Wahrnehmung muss aber auch zwischen Hören und Sehen unterschieden werden, denn „die akustische Wahrnehmung [vermittelt uns] ein anderes Raumgefühl als die visuelle: Der Raum, den wir hören, umgibt uns; der Raum, den wir sehen, ist uns gegenüber.“ (Wermke 1995: 20)
Die Förderung einer visual literacy bzw. audiovisual literacy (→ Kap. 11) umfasst die Sensibilisierung für vielfältige Kontexte und Bedingungen des Hörens und Sehens bzw. Hör-Sehens. Sie finden auch im Konzept einer multiliteracy (→ Kap. 11) Berücksichtigung.6
Die genannten Fertigkeiten gelten als Ziel wie als Mittel des Fremdsprachenunterrichts (vgl. Faistauer 2001: 869). Entsprechend wird ihre Förderung als Mittel und als Effekt auch des literarisch-ästhetischen Lernens betrachtet (vgl. etwa Kräling/Martín Fraile/Caspari 2015: 96, Šlibar 2011: 57). Die handlungsorientierten sprachdidaktischen Lernziele, die Förderung der Fertigkeiten, überschneiden sich mit (Teil-)Zielsetzungen einer multiliteracy und eines fremdsprachlichen literarisch-ästhetischen Lernens (vgl. Burwitz-Melzer 2007a: 222).
Die Förderung der verschiedenen Fertigkeiten bzw. einer multiliteracy in medialen Kontexten des Fremdsprachenunterrichts ist in den letzten Jahren nicht nur von Printmedien, auditiven und audiovisuellen Medien, sondern zunehmend von digitalen Medien (→ Kap. 11) geprägt. Dies führt zu einer wachsenden Bedeutung des Lesens und Schreibens, aber auch des Hör-Sehens.
Die ‚alten‘ Kulturtechniken des Lesens und Schreibens sind damit weiterhin unabdingbare Voraussetzungen für die Teilhabe an Diskursen, an Wissen und Kommunikation, am gesellschaftlichen und beruflichen Leben sowie für die persönliche Entwicklung. Sie sind in den ‚neuen‘ Kulturtechniken des digitalen Kommunizierens, Lernens, Arbeitens, Sich-Unterhaltens und Sich-selbst-Ausdrückens aufgehoben. Für den Umgang mit Abruf- und Kommunikationsmedien wie Computer und Internet (→ Kap. 11) sind sie zentral, allerdings unter neuen Vorzeichen. Gelesen wird nicht nur im Buch oder in der Zeitschrift, sondern auch am Tablet, E-Book-Reader oder Smartphone; neben das Schreiben mit der Hand tritt das Tippen auf einer Tastatur (vgl. auch Beste/Plien/Anselm 2018: 219). Das persönliche Gespräch kann durch den Austausch von Sprachnachrichten ersetzt werden (vgl. ebd.); Audio-Podcasts forcieren eine Renaissance des Hörens; Video-Podcasts, Games und Serien eine Verstärkung des Sehens bzw. Hör-Sehens. Das Internet ist zu einem Informations-, Kommunikations-, Produktions- und Publikationsmedium geworden, das auch aus dem Fremdsprachenunterricht kaum noch wegzudenken ist (vgl. auch Rösler/Würffel 2017: 129).
Im Internet publizierte Texte sind häufig multikodal verfasst und werden multimodal rezipiert, also in Schrift-, Bild-/Symbol-/Grafik- und Tonkombinationen (vgl. auch Kepser 2018: 259). Sie sprechen verschiedene Wahrnehmungs- bzw. Erkenntnisdimensionen an: „das Lesen von Texten, das Sehen von Bildern, das Hören von auditiven Texten, das Hören, Sehen und Lesen von audiovisuellen Filmtexten etc.“ (Frederking/Kromer/Maiwald 2018: 241). Die Mehrfachkodierung digitaler Texte sowie die Aktivierung verschiedener Wahrnehmungskanäle in Prozessen ihrer Rezeption werden auch als Synästhetik bezeichnet (vgl. ebd.: 239). Das Einhergehen der Rezeption digitaler Texte mit ihrer möglichen Modifikation oder Neugestaltung, also eigener Produktion, ist im Begriff der Interaktivität aufgehoben (→ Kap. 11). Zu den grundlegenden Veränderungen, besonders von Lese- und Schreibprozessen, gehören somit ihr (neuer) synästhetischer und interaktiver Charakter (vgl. ebd.: 238) sowie ihre Gebundenheit an Bildschirme.
Betrachtet man das digitale Lesen mit Blick auf literarische Texte näher, ist zunächst zwischen dem Lesen digitalisierter Literatur und digitaler Literatur (→ Kap. 1) zu unterscheiden. Digitalisierte Literatur steht in kostenpflichtigen Exemplaren (z. B. E-Books) oder zum kostenlosen Herunterladen von Plattformen wie z. B. Deutsches Textarchiv und Projekt Gutenberg zur Verfügung. Als Vorteile der digitalisierten Literatur benennt Ruth Klüger in ihrem Aufsatz Anders lesen (2016) deren am Lesegerät flexibel handhabbares Schriftbild (Schriftgröße, -type und -stärke sowie der Zeilenabstand sind veränderbar), das geringe Gewicht und die einfache Transportmöglichkeit des Lesegeräts sowie die so ermöglichte Ortsungebundenheit des Lesens, verbunden mit der steten Verfügbarkeit einer Vielzahl von Texten (vgl. Klüger 2016: 82f.). Hinzu kommen am Lesegerät Funktionen wie beispielsweise das Markieren im Text, das Erstellen von Notizen und das Konvertieren von Daten (vgl. Radvan 2016: 73). Einige digitale Editionen stellen über Hyperlinks (→ Kap. 11) auch Paratexte wie Wort- und Sacherläuterungen, Wörterbücher und Nachschlagewerke oder Autor*inneninformationen zur Verfügung. Diese Funktionen und Angebote verändern Leseprozesse – und das nicht nur zum Vorteil. Empirische Studien zeigen, dass gedruckte Texte in größeren Ausschnitten wahrgenommen und dreidimensional in einem Buch oder einer Zeitschrift verortet werden; dieser Überblick fehlt bei digitalisiert zur Verfügung stehenden bzw. digitalen Texten, „welche sich zwar an Seiten orientieren, aber durch ihre Zoombarkeit und Zweidimensionalität Orientierungsmerkmale für ein globales Verständnis ausblenden“ (Wampfler 2017a: 64).
Als Grundlagen des digitalen Lesens im Unterricht gelten:
Methoden zur Lesestrukturierung digitalisiert zur Verfügung stehender bzw. digitaler Texte kennen und anwenden lernen,
aktiv zwischen analogem und digitalem Arbeiten switchen, da so Metakognition gefördert wird,
Aufmerksamkeitskontrolle einüben und Ablenkungen bewusst wahrnehmen,
Angebote des scaffoldings (des Bereitstellens von Orientierungshilfen und Denkanstößen durch die Lehrkraft) nutzen,
eigene Ziele beim Lesen setzen und deren Erreichen überprüfen (vgl. ebd.: 65).
Lernende müssen (neue) Lesestile und -strategien wie z. B. Hypertext-Strategien entwickeln und ihre Leseprozesse möglichst genau reflektieren, auch in der Arbeit mit digitalen literarischen Texten. In diesen sind Interaktivität und Nichtlinearität bzw. Hypertextualität von vornherein als Textprinzipien angelegt. Die Textstrukturen sind gegenüber analog verfassten und gedruckten Texten verändert, was besonders bei der sogenannten Netzliteratur deutlich wird (→ Kap. 1, 11). Sie fordert nicht-lineare Lektüren und legt unterschiedliche Pfade der Lektüren wie Bedeutungskonstruktionen nahe. Sie wird häufig in interaktiven Tools publiziert, die als Schreibforen, Mitschreibeprojekte oder literarische Blogs konzipiert sind und die Leser*innen zur Mitwirkung anregen. Sogenannte Blogromane wie z. B. Wrangelstraße. Ein Blogroman aus Berlin Kreuzberg von Sebastian Kraus sind seriell angelegt und können von den Leser*innen mitgestaltet werden.
Die Lektüren digitaler Texte im Unterricht können je nach Unterrichtsphase individuell und gemeinschaftlich erfolgen. Adaptiert werden können Praktiken des social reading – ein Begriff, in dem das öffentliche Lesen, Bewerten, Kommentieren und Diskutieren von Texten im Internet gefasst wird (vgl. Pleimling 2012: 1). Das Bewerten und Kommentieren findet in deutscher Sprache auf Plattformen wie z. B. LovelyBooks statt. Für den Unterricht ist es aber oft günstiger, (zunächst) nur lerngruppenintern zugängliche Plattformen oder Foren zu nutzen. Auf ihnen kann auch das Lesen als solches öffentlich werden: Markierungen, Anmerkungen und Notizen von (individuell) Lesenden werden in der Lerngruppe sichtbar und können kommentiert werden. Auf diese Weise verschmelzen (individuelle) Lesevorgänge und Diskussionen über Texte miteinander. Ebenso verschmelzen das Lesen und das Schreiben: Durch das Schreiben und Veröffentlichen etwa von Anmerkungen und Kommentaren entsteht ein zum jeweiligen Text gehörender und diesen erweiternder Text-Content als kollaboratives Produkt (vgl. Brendel-Perpina 2016: 159). Man spricht insofern auch von „Lese-Schreib-Prozessen“ (vgl. Abraham 2016: 275).
Das digitale Schreiben unterscheidet sich in kognitionswissenschaftlicher Perspektive wesentlich vom handschriftlichen Schreiben. Es ist kein grafomotorischer Prozess, bei dem Buchstaben mit Hilfe eines Schreibgeräts auf einer physischen Oberfläche wie z. B. Papier fixiert werden, sondern ein Auswahlprozess, bei dem Buchstaben am Computer auf einer Tastatur oder einem Display ausgewählt und durch Tippen (vorläufig) auf dem Bildschirm fixiert werden (vgl. Krelle 2016: 51). Die entstehenden Wörter, Sätze und Texte können durch Textverarbeitungsprogramme permanent korrigiert, revidiert und umgestellt werden, wobei auch mit – nicht unproblematischen – Autokorrekturangeboten der Programme (Rechtschreibkorrektur, Syntaxprüfung, Wortvervollständigung) sinnvoll umzugehen ist.
Digitales Schreiben ist immaterielles Schreiben (vgl. ebd.: 51). Es bietet vielfältige neue Möglichkeiten der (eigenen) Produktion und Gestaltung von Texten. Wichtig ist es für das private wie berufliche und gesellschaftliche Leben, digitale Schreibumgebungen sinnvoll nutzen zu können (vgl. Kepser 2018: 258).
Schreibprozesse können auch im Fremdsprachenunterricht digital viel einfacher und stärker als bisher gemeinsam, d.h. kooperativ bzw. kollaborativ gestaltet werden.7 Dabei bietet es sich an, einige Phasen von Schreibprozessen kollaborativ, andere individuell zu gestalten. So kann das Sammeln und Organisieren von Ideen und Material sowie das Anfertigen eines Konzepts bzw. einer Gliederung kollaborativ, das eigentliche Schreiben eines Textes oder Textteils individuell, das Überarbeiten des Textes und seine Präsentation wiederum kollaborativ erfolgen.
Lernende werden so von Allein-Autor*innen zu vernetzten (Mit-)Schreiber*innen bzw. (Mit-)Verfasser*innen (vgl. Abraham 2016: 273, 277; Krelle 2016: 53). Zu berücksichtigen ist, dass gemeinsame Schreib-(und Lese-)prozesse äußerst anspruchsvoll sind, in deren Verlauf vielfältige Aushandlungsprozesse und (technische) Erprobungen stattfinden. Das Ziel der Textproduktion, die Regeln der gemeinsamen Arbeit, die gemeinsame Verantwortung für das Produkt und die Kriterien der Textqualität, die auch Korrekturen und Überarbeitungen leiten, müssen klar festgelegt sein und von allen Verfasser*innen (immer wieder) reflektiert werden.
Entstehende Texte können analog, d.h. linear, und digital, d.h. multikodal, hypertextuell und interaktiv strukturiert sein. Sie können offline (z. B. PowerPoint) und online in interaktiven Tools, öffentlich oder nur lerngruppenintern zugänglichen Plattformen, Foren oder Blogs präsentiert werden.
Digitale Schreibumgebungen, als die z. B. Wikis genutzt werden können, unterstützen alle ineinandergreifenden Phasen kollaborativer Schreibprozesse bis hin zur Präsentation. Sie können auf Lernplattformen angelegt und bei Bedarf durch ein Passwort geschützt werden. Lernende können in ihnen sowohl schreiben als auch kommentieren, korrigieren, verändern und erweitern. Textfassungen sind sofort sichtbar, es kann also synchron gearbeitet werden. Wikis eignen sich insofern auch für gemeinsame Schreibprojekte und virtuelle Schreibkonferenzen von Lernenden bzw. Lerngruppen an verschiedenen Einrichtungen und Orten (vgl. auch Rösler/Würffel 2017: 131).