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1 Was ist Literatur?
Оглавление„Die geschriebene Literatur hat, historisch gesehen, nur wenige Jahrhunderte lang eine dominierende Rolle gespielt. Die Vorherrschaft des Buches wirkt heute bereits wie eine Episode. Ein unvergleichlich längerer Zeitraum ging ihr voraus, in dem die Literatur mündlich war; nunmehr wird sie vom Zeitalter der elektronischen Medien abgelöst, die ihrer Tendenz nach wiederum einen jeden zum Sprechen bringen.“
Hans Magnus Enzensberger (1970: 125)
Angesichts dieser Einschätzung von geschriebener Literatur als einer „Episode“ der literarischen Kommunikation wäre eingangs zu fragen: Was ist eigentlich Literatur?
Abgeleitet wird der Begriff „Literatur“ von den lateinischen Termini „littera“ (Buchstabe) bzw. „litteratura“ (Buchstabenschrift). Er umfasst zunächst alles, was in geschriebener oder gedruckter Form vorliegt. Man kann dafür auch den Begriff „Text“ verwenden. Texte – auch literarische Texte – können aber nicht nur in geschriebener oder gedruckter, sondern auch in bildlicher oder in mündlicher Form vorliegen bzw. vorgetragen werden. Mit der Digitalisierung haben sich zudem neue Möglichkeiten der Speicherung von geschriebenen, bildlichen wie auch mündlich präsentierten Texten entwickelt.
Im Unterschied zu dieser sehr allgemeinen Bestimmung von „Literatur“ assoziiert man mit dem alltagssprachlichen Begriff der Literatur in der Regel eine Subkategorie von Texten, die sogenannte „schöne Literatur“ oder „Belletristik“. Wie Ralf Klausnitzer in seinem Studienbuch Literaturwissenschaft (2012) darlegt, wird sie besonders in ihrer Differenz zu anderen Texten, etwa Sach- und Informationstexten, fassbar:
Literarische Texte
wollen nicht (primär) informieren, sondern „unterhalten und faszinieren“, indem sie „intensiv und dauerhaft“ die „Einbildungskraft“ ihrer Leser*innen „mobilisieren“.
vermitteln keine „kodifizierten oder formalisierbaren Erkenntnisse“, sondern Einsichten in individuelle oder kollektive Problemlagen und -verarbeitungen.
„geben keine Handlungsanweisungen für reale Situationen“, sondern ermöglichen ihren Leser*innen ein „symbolisches Probehandeln in imaginierten Welten“; gleichzeitig gibt es auch literarische Texte, die keine fiktiven Welten imaginieren, sondern Darstellungen von ‚Wirklichkeit‘ erproben wie etwa Autobiografien, Memoiren, Reiseberichte und Reportagen.
„befreien durch eine irritierende Sprache die Wahrnehmung ihrer Leser*innen von Automatismen“ (vgl. Klausnitzer 2012: 15, Hervorh. i.O.).
In dieser Differenzierung sind Dimensionen eines möglichen Begriffs von Literatur angedeutet, die für die Literaturdidaktik fruchtbar zu machen sind. Sie beziehen sich – bei aller Schwierigkeit, diese tatsächlich klar zu bestimmen – erstens auf Charakteristika und zweitens auf Funktionen als mögliche Kriterien der Bestimmung eines Begriffs von Literatur. Einer möglichen Bestimmung dieses Begriffs kann man sich drittens auch von der Kommunikationssituation und viertens von dem umfassenderen Begriff des Erzählens aus nähern.
Zunächst zu den möglichen Charakteristika von Literatur: Poetizität und Verfremdung, Mehrdeutigkeiten und Unbestimmtheiten, Fiktionalität sowie Diskursivität. Frühe Bestimmungen der Poetizität stammen von Viktor Šklovskij und Roman Jakobson, die ihre Überlegungen im Kontext des russischen Formalismus bzw. des Prager Strukturalismus entwickelt haben. In ihren grundlegenden Aufsätzen Die Kunst als Verfahren (Šklovskij1994/1969/russ.1916) und Linguistik und Poetik (Jakobson 2005/1971/engl. 1960) untersuchen sie die Darstellungsstrategien literarischer Texte. Die fachwissenschaftliche Diskussion zur Rolle von literarischen Texten in Deutsch als Fremd- und Zweitsprache hat von Anfang an auf diese beiden Konzepte Bezug genommen1 und lässt sich bis heute von ihnen inspirieren.2
Die besondere sprachliche Gestaltung von literarischen Texten wäre nach Roman Jakobson mit dem Begriff der „Poetizität“ zu fassen und steht in engem Zusammenhang mit der poetischen Funktion von Sprache.3 Diese realisiert sich in der besonderen und dadurch auffallenden Verwendung von sprachlichen Zeichen, durch die eine Differenz zur Alltagssprache mit ihren Gewohnheiten und Automatismen des Lesens, Hörens, Schreibens, Sprechens und Sehens entsteht.
Ein wichtiges Prinzip der Realisierung der poetischen Funktion von Sprache ist die Abweichung von sprachlichen Regeln oder Normen. So werden z. B. ungewöhnliche, überraschende Klang- oder Wortfiguren und Tropen in (literarischen) Texten verwendet: Alliterationen, Metaphern oder ironische Rede (→ Kap. 9). Durch ein sprachliches Experimentieren bei der Produktion von Texten können grammatische Regeln verletzt werden oder auch typografische Regeln beim Druck von Texten; man denke etwa an die Visuelle oder Konkrete Poesie. Mit diesen Strategien wird die Aufmerksamkeit der Lesenden auf die konkrete sprachliche Verfasstheit der Texte gelenkt; das Wie, d.h. die Form der Texte und deren Beitrag zur Bedeutungsbildung gerät so in den Fokus. Jakobson spricht davon, dass die poetische Funktion die „Einstellung auf die BOTSCHAFT als solche“ (Jakobson 2005: 92, Hervorh. i.O.) bewirkt. So stellen etwa Äquivalenzen auf der Klangebene wie Reime und Alliterationen sowie Wiederholungen Strategien dar, um Aufmerksamkeit zu erreichen (vgl. ebd.: 93). Aber auch die „grammatische Architektonik“ (Jakobson 2007: 691), die Häufigkeit und Verteilung von Satzarten und Wortarten sowie lexikalische und syntaktische Auffälligkeiten können solche Strategien sein, wie Jakobson an dem Gedicht Wir sind sie (1931) von Bertolt Brecht zeigt. So analysiert er beispielsweise, wie über die Verwendung einer „Kette identischer Diphthonge“ (Jakobson 2007: 707) verschiedene Ausdrücke in dem Gedicht „verbunden“ sind – „ei“ etwa in „Partei“, „in einem“, „geheim“ (ebd., Hervorh. i.O.) u.a. – und so über klangliche Wiederholung eine semantische Netzstruktur geschaffen wird, mit der Entfremdung und Verbindung des Einzelnen zur Partei kommentiert werden.
Mit der poetischen Funktion meint Jakobson die Möglichkeiten der Sprache, auf sich selbst hinzuweisen, bzw. die Möglichkeiten von Texten – und insbesondere literarischen Texten –, ihre eigene sprachliche Verfasstheit auszustellen. Sie fasst den Selbstbezug der Sprache, eine Dominanz der Form über den Inhalt. Mit der poetischen Gestaltung von Sprache wird die Aufmerksamkeit auf die Form, auf die Beschaffenheit der Sprache selbst gelenkt – „und zwar so weit, dass der ‚Inhalt‘ der Mitteilung selbst in den Hintergrund gedrängt wird und wir der Sprache bei der Arbeit der Erzeugung von ‚Wirklichkeit‘ (die ja stets sprachlich vermittelt ist) förmlich zusehen können“ (Klausnitzer 2012: 45f.). Der Selbstbezug der poetischen Sprache stellt eine Differenz zur situations- und zweckgebundenen, zielgerichteten Sprache von Informations- und Sachtexten (z. B. Berichte, Gebrauchsanweisungen u. ä.) her.
Alltagssprache, aber auch eine bereits etablierte literarische Formensprache können auf diese Weise verfremdet werden. Durch die Verfremdung werden die Leser*innen irritiert und ihre Aufmerksamkeit auf gewohnte Wahrnehmungsmuster sowie deren Veränderungen gelenkt. Mit Viktor Šklovskij wäre auch von einer Deautomatisierung der Wahrnehmung zu sprechen. Die Begriffe „Verfremdung“ und „Deautomatisierung“ entwickelt Šklovskij in seinem bereits oben genannten Aufsatz Die Kunst als Verfahren. Er argumentiert, dass Automatisierung Wahrnehmung verhindere: „Automatisierung frißt die Dinge“, das können „die Kleidung, die Möbel“ sein, aber auch der „Schrecken des Krieges“ (Šklovskij 1994: 15). Aufgabe der Kunst sei es, dies zu verhindern und durch Verfremdung die Dinge wieder sichtbar zu machen – „den Stein steinern zu machen“ (Šklovskij 1994: 15). Sowohl das Wahrnehmbare als auch der Akt des Wahrnehmens sollen in den Fokus gerückt werden:
Ziel der Kunst ist es, ein Empfinden des Gegenstandes zu vermitteln, als Sehen und nicht als Wiedererkennen; das Verfahren der Kunst ist das Verfahren der ‚Verfremdung‘ der Dinge und das Verfahren der erschwerten Form, ein Verfahren, das die Schwierigkeit und Länge der Wahrnehmung steigert, denn der Wahrnehmungsprozeß ist in der Kunst Selbstzweck und muß verlängert werden; die Kunst ist ein Mittel, das Machen einer Sache zu erleben […]. (Šklovskij 1994: 15)
Zu betonen wäre, dass Elemente einer Poetizität (wie es bei Jakobson heißt) oder Literarizität (wie es in der gegenwärtigen fachwissenschaftlichen Diskussion heißt) von Sprache grundsätzlich in allen Texten und allen Formen der Rede auftreten können. Von geradezu konstitutiver Bedeutung sind sie aber für die meisten literarischen Texte.
Die Aufmerksamkeit für die Form bzw. für die Beschaffenheit von Sprache rückt auch die komplexen Wechselbeziehungen zwischen Zeichen und Bedeutungen in den Blick. In der Terminologie von Ferdinand de Saussure (1967: 76ff., 135–143) ist die materiale Gestalt eines Zeichens als Signifikant zu bezeichnen, dessen Wahrnehmung ein komplexer Prozess ist: Leser*innen (Betrachter*innen oder Hörer*innen)4 identifizieren ein Zeichen – einen Buchstaben, eine Buchstabenfolge, ein grafisches Symbol oder einen Wortklang – und ordnen ihm (mögliche) Bedeutungen zu. Diese Bedeutungen bilden den ideellen Gehalt eines Zeichens, der als Signifikat bezeichnet wird. Prozesse der Zuordnung von Signifikat(en) zu Signifikant(en) erfolgen mental, d.h. im Bewusstsein der Leser*innen und beruhen auf Zuordnungsregeln, die gesellschaftlichen oder kulturellen Konventionen, auch den Konventionen gesellschaftlicher Subsysteme wie verschiedenen Wissenskulturen oder Gruppierungen z. B. von Jugendlichen entsprechen können. Die vielfältigen möglichen Bedeutungen von Signifikanten sind als Konnotationen zu bezeichnen. Das Spiel mit möglichen Konnotationen erzeugt in (literarischen) Texten Unbestimmtheiten und Mehrdeutigkeiten (vgl. Klausnitzer 2012: 20f., 46f.), während Sach- und Informationstexte gerade Eindeutigkeit herzustellen suchen. Mehrdeutigkeiten und Unbestimmtheiten gelten neben Verfremdung und Poetizität als weitere mögliche Charakteristika von literarischen Texten. In der fachwissenschaftlichen Diskussion in Deutsch als Fremd- und Zweitsprache werden Unbestimmtheiten und Mehrdeutigkeiten auch auf der Ebene der Semantik einzelner sprachlicher Ausdrücke berücksichtigt, wie soeben mit Rückgriff auf die Saussure’sche Unterscheidung von Signifikant und Signifikat dargestellt. Darüber hinaus werden sie auf der Basis rezeptions- und wirkungsästhetischer Theoriebildung (→ Kap. 8, 20) verstanden. Diese geht von der Grundannahme aus, dass das literarische Werk im jeweils individuellen Lektüreprozess als Zusammenspiel zwischen dem Text und seinen Lesenden entsteht. Dabei ist die Beobachtung von zentraler Bedeutung, dass literarische Texte – im Gegensatz zu nicht-literarischen Texten – Unbestimmtheitsstellen aufweisen. Je nach „Füllung“ oder „Normalisierung“ dieser Unbestimmtheitsstellen oder Leerstellen kommt es zu unterschiedlichen Lesarten. So sind „Leerstellen eines literarischen Textes“ nicht als „Manko“ zu verstehen, denn sie „bilden einen elementaren Ansatzpunkt für seine Wirkung“ (Iser 1974/1970: 15). Damit sind die Unbestimmtheitsstellen Beteiligungsangebote für die Lesenden und zugleich Angebote für individuelle Lesarten. Diese Bestimmung wurde und wird in der Literaturdidaktik als Grundlage für verschiedene Konzepte genutzt, etwa für das Konzept eines handlungs- und produktionsorientierten Unterrichts, das allerdings in den letzten Jahren zunehmend in die Kritik geraten ist (→ Kap. 20).
Ein weiteres mögliches Charakteristikum von Literatur ist das der Fiktionalität. In der Alltagsauffassung gelten fiktionale Texte „als solche Texte, die Erfundenes darstellen oder erzählen“ (Jannidis/Lauer/Winko 2009: 19); als eine Variante gilt die Autofiktion, die Autobiografisches und fiktionale Handlungsebenen verbindet und insbesondere in Texten der Gegenwartsliteratur eine wichtige Rolle spielt. In der Literaturwissenschaft wird der fiktionale Status literarischer Texte umfassend und heterogen diskutiert. Im Fokus der Debatten stehen die Fragen nach dem ‚Wesen‘ oder Status von Fiktionalität, nach Fiktionalitätssignalen in Texten sowie nach dem Verhältnis von Fiktionalität und Realität und/oder Wahrheit (vgl. Jannidis/Lauer/Winko 2009: 17).
Weiterhin wird Diskursivität (→ Kap. 10) als ein mögliches Charakteristikum von Literatur verstanden. In aktuellen Diskussionen in der Literaturwissenschaft und im Fach Deutsch als Fremd- und Zweitsprache wird das Verhältnis von literarischen Texten zu gesellschaftlichen Zusammenhängen und kulturellen Mustern im Modus der Diskursivität gedacht. Damit verbindet sich die Vorstellung, dass Literatur Diskurse nicht nur aufnimmt, sondern an ihnen partizipiert, sie mitgestaltet. Literatur ist gekennzeichnet durch „diskursive Mehrfachzugehörigkeiten“ (Hille 2017: 17), nimmt an verschiedenen Diskursen teil, in flexibler und dynamischer, rezeptiver und produktiver Bezogenheit auf diese. Sie nimmt in komplexer Weise Bezug auf vielfältige Diskurszusammenhänge. Aus dieser spezifischen Relation ergibt sich ein kritisches Potenzial für literarische Texte als Orte der Aushandlung und Reflexion von gesellschaftlichen Diskursen.
Als weitere Gruppe von Kriterien zur Bestimmung eines Begriffs von Literatur gelten deren mögliche Funktionen im Kontext literarischer Kommunikation: die Beobachtungsfunktion, Orientierungsfunktion, Simulationsfunktion, Utopiefunktion, Speicherfunktion, Bildungsfunktion und Unterhaltungsfunktion. Funktionen werden hier mit Jannidis/Lauer/Winko (2009: 22) als Relationen zwischen „Gegenständen (mit potenziellen Eigenschaften), ihren Wirkungen (im Falle einer Realisierung dieser Eigenschaften) und einer Bezugsgröße (Individuum, Kollektiv, u.a.)“ aufgefasst. Funktionen sind als Potenziale vorstellbar, in jeweils unterschiedlichen Bedingungszusammenhängen mögliche Wirkungen hervorzubringen (vgl. ebd.).
Als literaturdidaktisch bedeutsam wären die folgenden möglichen Funktionen literarischer Texte zu betrachten:
BeobachtungsfunktionSasha Marianna Salzmann verweist darauf, dass in der Literatur, in der Kunst allgemein „sehr wichtige Beobachtungen gemacht werden für eine Welt, die nach uns kommt“.5 Literarische Texte, die seit jeher als „ausgezeichnete Form der Selbstbeobachtung von Gesellschaften“ (Böhme 1998: 482) gelten, speichern Beobachtungen von gesellschaftlicher Komplexität sowie von kollektiven und individuellen Problemlagen und -verarbeitungen. Dabei eröffnen sie auch „abweichende Beobachtungen vertrauter und eingespielter Sachverhalte“, erzeugen auf diese Weise „Dissidenz“ (Hörisch/Klinkert 2006: 10).
OrientierungsfunktionDurch die poetische Gestaltung können literarische Texte das (gesellschaftlich) Beobachtete in fassbare Symbole, Bilder und Narrationen überführen und es in diesen verdichten. Gerade in unseren heutigen Gesellschaften scheint das Verdeutlichen bzw. das kommentierende und differenzierende Reflektieren von Komplexität, Pluralität und Mehrdeutigkeit zunehmend eine Funktion von Literatur, von Kunst überhaupt zu sein. Sie kann Orientierung bieten und das gerade nicht, indem sie – wie einige Formen der Alltags- und Mediensprache – einfache, die Komplexität der Welt reduzierende ‚Wahrheiten‘ zu propagieren versucht.
SimulationsfunktionGerade in der Abweichung und Dissidenz ermöglichen literarische Texte ihren Leser*innen Simulationen anderer möglicher Welten und des Handelns in ihnen. Bei der Lektüre literarischer Texte sind Leser*innen von den pragmatischen Regeln der Wirklichkeit und den Grenzen ihrer eigenen Existenz befreit. Sie können das Mögliche über das Reale hinaus denken und es von literarischen Figuren erproben lassen. Man spricht auch von einem für die Leser*innen möglichen „symbolische[n] Probehandeln in imaginierten Welten“ (Klausnitzer 2012: 15, Hervorh. i.O.).
UtopiefunktionZukünftige andere Welten können literarische Texte als Utopien (und natürlich auch Dystopien) inszenieren. Sie können Zukunftsnarrative und -bilder entwerfen, die neben der Zukunft auch die Gegenwart und die Vergangenheit erfahrbar, verständlich und gestaltbar oder auch verstörend und zerstörerisch erscheinen lassen.
SpeicherfunktionLiterarische Texte entstehen in gesellschaftlichen Zusammenhängen und beziehen sich in je spezifischen Bedingungsgefügen auf das kollektive Wissen ihrer Zeit, das individuelle Wissen der Autor*innen und der Leser*innen. Sie speichern gesellschaftliche Positionen, verdichten sie und spitzen sie zu. Dieses Wissen findet sich – wenn auch nicht in Form von Abbildung, sondern von „Verhandlungen“ (Heitmann 1999: 10) bzw. „negotiations“ (Greenblatt 1988) – in Texten. Im literaturdidaktischen Kontext ermöglicht es die Perspektive der Speicherfunktion, „sozusagen das Mikroskop auf das aus Diskursfäden gesponnene dichte Gewebe der Kultur bzw. Geschichte zu richten und einzelne Fäden daraus zu verfolgen, um jeweils ein Stück Komplexität, Unordnung, Polyphonie, Alogik und Vitalität der Geschichte zu rekonstruieren“ (Baßler 1995: 15). Jochen Hörisch (2007: 13f.) vertraut darauf, „daß sich das im Medium der schönen Literatur angesiedelte Wissen mit argumentativem Gewinn rekonstruieren lässt.“ Astrid Erll (2011: 2) verweist im Kontext einer kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung u.a. auf literarische Texte als Orte „kultureller Erinnerung“. Auch in dieser Hinsicht ist ihre Speicher- bzw. Archivierungsfunktion von Relevanz.
BildungsfunktionLiterarische Texte beobachten – das ist bereits ausgeführt worden – gesellschaftliche Komplexität sowie kollektive und individuelle Problemlagen, sie speichern und verdichten gesellschaftliche und individuelle Positionen, sie inszenieren Werte und Normen von Gesellschaften bzw. Gruppen und deren Wirkungen auf Individuen. Die Lektüren literarischer Texte initiieren „Prozesse des Verstehens von Selbst und Welt“, sie gelten als „Sinn-/Bildungsprozesse“ (Decke-Cornill/Gebhard 2007: 10). In den „bildende[n] Begegnungen mit der Welt“ (ebd.: 11) können Lesende Impulse für die eigene Persönlichkeits- und Identitäts- bzw. Zugehörigkeitsentwicklung finden.
UnterhaltungsfunktionNicht zu vergessen: Literarische Texte wollen nicht (primär) orientieren oder bilden, sondern unterhalten und unsere Einbildungskraft mobilisieren. Gerade deshalb werden sie – egal in welcher medialen Form – von vielen gelesen, gesehen oder gehört. Literarische Texte können dabei emotionale Wirkungen, spontane Reaktionen, (ästhetische) Urteile und weite Imaginationen der Leser*innen hervorrufen.
Zu betonen wäre hier aber noch einmal, dass Literatur wie auch Kunst an sich keine Funktion(en) hat. Das Konzept der Autonomie der Literatur bzw. Kunst, ihrer Selbstbedeutsamkeit und Selbstwirksamkeit, spricht gegen diese Annahme. Mögliche Funktionen gewinnen Literatur und Kunst erst in der literarischen bzw. ästhetischen Kommunikation.
Rückt man die Pragmatik bzw. Kommunikationssituation in den Fokus, wird eine weitere Annäherung an eine Bestimmung des Begriffs „Literatur“ möglich. So wird auch das Verhältnis von Text und Kontext bedeutsam. Jannidis/Lauer/Winko verweisen in ihrem Band Grenzen der Literatur. Zu Begriff und Phänomen des Literarischen (2009) darauf, dass gerade in der Diskussion um moderne Kunst der Kontext hohe Relevanz erlangt, „wenn etwa beim ready-made Alltagsobjekte in einen Kontext gestellt werden, der diese – ohne Veränderung an den Gegenständen selbst – zu Kunstobjekten macht“ (ebd.: 30, Herv. i. O.). Hier wird deutlich, dass der Begriff der Kunst bzw. der Literatur nicht aus den materialen Eigenschaften von Objekten abgeleitet werden kann. Texte können nur in Kontexten ‚verstanden‘ werden, wobei der Text einerseits als Zeichenkörper, andererseits als das Verstandene – „das mentale Gebilde, das das Ergebnis eines komplexen Verstehensvorgangs ist“ – gefasst wird:
Der Vorgang des Verstehens ist nicht nur von material vorgegebenen Zeichen und etwaigen generellen Codes abhängig […], sondern ebenso vom […] Kontext, zu dem allgemein Weltwissen und […] Wissen über die Textsorte, das Vorwissen über die spezifischen Gebrauchsregeln in diesem Zeichensystem, denen alle an der Kommunikation Beteiligten unterliegen, und allgemeinere Annahmen über die Funktion eines Textes in dem jeweiligen Kontext gehören. (Jannidis/Lauer/Winko 2009: 30)
Textbeispiel
Ein oft zitiertes Beispiel ist das 1969 in dem Band Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt erschienene Gedicht von Peter Handke:
Die Aufstellung des 1. FC Nürnberg
vom 27.1.1968
WABRA
LEUPOLD POPP
LUDWIG MÜLLER WENAUER BLANKENBURG
STAREK STREHL BRUNGS HEINZ MÜLLER VOLKERT
Spielbeginn:
15 Uhr
Handke arbeitet hier mit einem ready-made. Er übernimmt die Namen der Fußballspieler in der Form, wie sie in Sportzeitschriften abgedruckt werden, in seinen Band, kontextualisiert sie damit neu und weist in dieser Weise darauf hin, dass Texte auch durch Kommunikationszusammenhänge, in denen sie erscheinen, zu literarischen Texten werden.6 Ähnlich funktionieren die Kassenbongedichte von Susann Körner (→ Kap. 6), bei denen ebenfalls die alltagspragmatische Form unverändert in einen Band mit literarischen Texten – hier in einen Gedichtband – aufgenommen wird.
Einer möglichen Bestimmung des Literaturbegriffs kann man sich auch von dem umfassenderen Begriff des Erzählens her nähern. Die Narratologie, die sich mit dem (literarischen) Erzählen beschäftigt, hat in der literaturwissenschaftlichen Diskussion der letzten Jahre sehr an Bedeutung gewonnen. Albrecht Koschorke spricht in seinem Band Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer allgemeinen Erzähltheorie (2012) vom Menschen als „homo narrans“ und damit vom Erzählen als anthropologischer Grundausstattung (ebd.: 10, Hervorh. i.O.). Was er damit meint, verdeutlicht er mit einem Zitat aus Roland Barthes’ Einführung in die strukturale Analyse von Erzählungen (1988/frz. 1966):
Die Menge der Erzählungen ist unüberschaubar. Da ist zunächst eine erstaunliche Vielfalt von Gattungen, die wieder auf verschiedene Substanzen verteilt sind, als ob dem Menschen jedes Material geeignet erschiene, ihm seine Erzählungen anzuvertrauen: Träger der Erzählung kann die gegliederte, mündliche oder geschriebene Sprache sein, das stehende oder bewegte Bild, die Geste oder das geordnete Zusammenspiel all dieser Substanzen; man findet sie im Mythos, in der Legende, der Fabel, dem Märchen, der Novelle, dem Epos, der Geschichte, der Tragödie, dem Drama, der Komödie, der Pantomime, dem gemalten Bild (man denke an die Heilige Ursula von Carpaccio), der Glasmalerei, dem Film, den Comics, im Lokalteil der Zeitungen und im Gespräch. Außerdem findet man die Erzählung in diesen nahezu unendlichen Formen zu allen Zeiten, an allen Orten und in allen Gesellschaften; die Erzählung beginnt mit der Geschichte der Menschheit; nirgends gibt und gab es jemals ein Volk ohne Erzählung; alle Klassen, alle menschlichen Gruppen besitzen ihre Erzählungen, und häufig werden diese Erzählungen von Menschen unterschiedlicher, ja sogar entgegengesetzter Kultur gemeinsam geschätzt: Die Erzählung schert sich nicht um gute oder schlechte Literatur: sie ist international, transhistorisch, transkulturell, und damit einfach da, so wie das Leben. (Barthes 1988: 102, Hervorh. i.O.)
Hier wird die anthropologische Bedeutung des Erzählens deutlich: Es dient als Medium individueller wie kollektiver Selbstverständigungsprozesse. Vorstellungen von individuellem Leben und sozialem Zusammenleben, Problemlagen und Problembehandlungen, Denkmodelle und Konzeptualisierungen von Welt finden im Erzählen ihre sprachliche Form, werden damit zugänglich und verhandelbar. Auf dieser erzähltheoretischen bzw. narratologischen Basis kann man den literarischen Text als prominentes Medium des Erzählens verstehen. Literarische Texte erhalten einen spezifischen Stellenwert und sind nicht eine Textart unter vielen.
Für das Fach Deutsch als Fremd- und Zweitsprache ermöglicht die Arbeit mit literarischen Texten aus der Perspektive des Erzählens eine Auseinandersetzung mit individuellen wie kollektiven Reflexionsprozessen (vgl. Schiedermair 2014b, Riedner 2017). Wie sich in dem obigen Zitat schon andeutet, wird dabei ein weiter Textbegriff zugrunde gelegt, der z. B. auch Hörspiele, Filme, Video- und Werbeclips umfasst (→ Kap. 11). Der so entwickelte Begriff von Literatur ermöglicht es, eine große Vielfalt an medialen Formaten zu berücksichtigen.
In der Gegenwart sind es weitere, neue Textformate, die unsere Vorstellungen von Literatur herausfordern. Diese besteht schon lange nicht (mehr) nur aus gedruckten und gebundenen Werken einzelner Autor*innen, die von einzelnen Leser*innen still rezipiert werden.
Poetry Slams etwa können an einem Abend ein großes Publikum erreichen; die Texte werden nicht nur von Einzelnen, sondern auch von Teams verfasst und performt. Mit dem Erfolg von Poetry Slams sind die Mündlichkeit der Literatur, ihr Ereignischarakter und ihre Offenheit für alle Akteur*innen (wieder) in das Blickfeld gerückt.
Die digitale Literatur steht dafür, dass die Grenzen zwischen Autor- und Leserschaft wie auch zwischen „Fiktion und inszenierter Wirklichkeit“ verschwimmen (Winko 2016: 6). Der Begriff der digitalen Literatur bzw. Netzliteratur, Internetliteratur, New Media Literature oder Hyperfiction ist jedoch zu schärfen. Sie ist zunächst von einer digitalisierten Literatur (E-Books, Bibliotheken wie das Projekt Gutenberg) zu unterscheiden. Deren Lektüre erfolgt am Computer oder einem anderen (mobilen) Endgerät; verändert ist so vor allen Dingen die Rezeption von Texten (→ Kap. 4, 5). Als digitale Literatur hingegen werden Texte bezeichnet, deren Produktion und Rezeption am Computer erfolgt und die im digitalen Format, als zweifacher Text entstehen: dem auf dem Bildschirm sicht- und lesbaren Text und dem ihn bedingenden digitalen Code hinter der Oberfläche (vgl. Winko 2016: 4). Diese Texte sind oder erscheinen in einem weiten Sinn interaktiv: Die Lesenden wählen individuelle Lektürepfade, können z. B. Hyperlinks folgen oder eigene Texte eingeben (vgl. ebd.: 4). Insofern werden z. B. Texte im Hypertextformat (→ Kap. 11) auch als nichtlinear bezeichnet. Auch Netzliteratur ist digitale Literatur, spezifisch aber noch einmal dadurch charakterisiert, dass sie „des Internets bedarf, um produziert und rezipiert zu werden“ (ebd.: 5). Sie wird im Internet publiziert und kann, etwa in Form von Schreibforen, Mitschreibprojekten oder literarischen Blogs konzipiert, nicht nur zur Rezeption, sondern auch zur Produktion von Texten durch die Leser*innen anregen (→ Kap. 5). So entstehen beispielsweise Blogromane, aber auch Texte einer sogenannten Fanfiction.
Fragt man also, was Literatur heute – bei aller Schwierigkeit der Definition – sein kann, so stellt sie sich als „ein extrem vielfältiges, dynamisches Ensemble unterschiedlicher medialer Formate und Kommunikationsformen, eine lebendige Praktik, die weit über gedruckte Einzelwerke und vom Feuilleton wahrgenommene Autoren hinausgeht“, und als Teil wie auch Instrument gesellschaftlicher und kultureller Partizipation (ebd.: 2) dar.
Diese Überlegungen führen zu dem zurück, was schon Friedrich Schlegel 1798 in der Zeitschrift Athenäum über Literatur formulierte:
Eine Definition der Poesie kann nur bestimmen, was sie seyn soll, nicht was sie in der Wirklichkeit war und ist; sonst würde sie am kürzesten so lauten: Poesie ist, was man zu irgend einer Zeit, an irgend einem Orte so genannt hat. (Schlegel 1983: 204)