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2 Literaturdidaktik – Literaturwissenschaft

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Blickt man auf die Publikationen im Bereich Deutsch als Fremd- und Zweitsprache, fällt auf, dass sich der Begriff „Literaturdidaktik“ überraschend selten findet. Meist werden andere Formulierungen gewählt. So haben die thematisch einschlägigen Bände, die seit dem Jahr 2000 erschienen sind, Titel wie Literatur im DaF-Unterricht (Koppensteiner 2001), Literatur im DaF/DaZ-Unterricht (Koppensteiner/Schwarz 2012), Deutsch als Fremdsprache und Literaturwissenschaft (Ewert/Riedner/Schiedermair 2011a), Literatur in Deutsch als Fremdsprache und internationaler Germanistik (Altmayer/Dobstadt/Riedner/Schier 2014), Ästhetisches Lernen im DaF/DaZ-Unterricht. Literatur – Theater – Bildende Kunst – Musik – Film (Bernstein/Lerchner 2014), Aktuelle deutschsprachige Literatur für die Internationale Germanistik und das Fach Deutsch als Fremdsprache (Hille/Jambon/Meyer 2015) und Literaturvermittlung (Schiedermair 2017a). Ähnliche Titel wurden für die Themenhefte der Fachzeitschriften zu diesem Schwerpunkt gewählt, etwa Literatur im Anfängerunterricht (Fremdsprache Deutsch 2/1994), Fremdsprache Literatur (Fremdsprache Deutsch 44/2011), Literatur in sprach- und kulturbezogenen Lehr- und Lernprozessen im Kontext von DaF/DaZ (Deutsch als Fremdsprache 2014/ Heft 14, 2015/ Heft 13). Auch die zentralen Artikel im internationalen Handbuch Deutsch als Fremdsprache (2001) bzw. Deutsch als Fremd- und Zweitsprache (2010) formulieren ihre Titel, ohne den Begriff „Literaturdidaktik“ zu verwenden: Literarische Texte im Deutschunterricht (Ehlers 2001), Literatur, Kultur, Leser und Fremde – Theoriebildung und Literaturvermittlung im Fach Deutsch als Fremd- und Zweitsprache (Riedner 2010a).

In den Fachdidaktiken der Germanistik – Deutsch als L1 in Schulen der D-A-CH-L-Länder – und der Fremdsprachenphilologien wie Anglistik und Romanistik ist dagegen selbstverständlich von „Literaturdidaktik“ die Rede. So scheint der Begriff den schulischen Kontext zu implizieren, was auch die Definitionen der „Literaturdidaktik“, die sich in den einschlägigen fachdidaktischen Einführungen finden, nahelegen. So heißt es etwa bei Ehlers (2016: 13): „Literaturdidaktik ist die Wissenschaft vom Lehren und Lernen von Literatur und literarischen Erzählmedien im institutionellen Rahmen von Schule, die Literatur und Erzählmedien unter dem Aspekt ihres Bildungswertes für Schüler und ihrer Lehr- und Lesbarkeit betrachtet.“ Leubner/Saupe/Richter (2016: 13) fassen den Begriff zunächst weiter als „Wissenschaft vom Lehren und Lernen der Literatur“, weisen in einem zweiten Schritt dann aber ebenfalls darauf hin, dass die „entsprechenden Prozesse […] vor allem im Literaturunterricht im Rahmen des Deutsch- und Fremdsprachenunterrichts“ stattfinden.

Diese Implikationen werden jedoch zunehmend durchbrochen und der Begriff „Literaturdidaktik“ erhält ein über den schulischen Kontext hinausgehendes Verwendungspotenzial, was sich etwa an Buchtiteln wie Öffentliche Literaturdidaktik zeigt. In der Einleitung zu diesem 2018 von ihnen herausgegebenen Band argumentieren Christine Ott und Dieter Wrobel gegen die „Engführung des Begriffs und Konzepts“ auf den schulischen Kontext und für ein Aufsuchen „applikationsfähige[r] Schnittstellen zu einer öffentlichen Literaturdidaktik“ (Ott/Wrobel 2018: 7). Ihr Ziel ist es, Literaturdidaktik als wissenschaftlichen Diskussionszusammenhang nicht auf Fragen des schulischen Lernens zu begrenzen, sondern auch auf die Arbeit mit Literatur in unterschiedlichen außerschulischen Bereichen auszuweiten.

Bei der Wahl des Titels für diesen Einführungsband haben wir uns entschieden, den Begriff der „Literaturdidaktik“ zu verwenden. Dabei ist uns bewusst, dass wir damit eine Formulierung wählen, die man in der Fachdiskussion von Deutsch als Fremd- und Zweitsprache bisher wenig genutzt hat. Mit anderen Formulierungen (s.o.) konnte man die spezifische Situation des Faches, das sich nur zum Teil als Fachdidaktik im schulischen Kontext verortet, berücksichtigen (siehe zu DaZ in der Schule Rösch 1992, 2001, 2017 und Ehlers 2008, 2014, 2016: 56–63). Anders als in den Fachdidaktiken sind die Fachdiskussionen in Deutsch als Fremd- und Zweitsprache weniger auf vorgegebene, in den Anforderungen an Curricula und Testformate bis zu einem gewissen Grad homogene und miteinander vergleichbare institutionelle Zusammenhänge ausgerichtet und auch weniger an standardisierten Vorgaben orientiert wie etwa den Bildungsstandards, die in der Folge des sogenannten PISA-Schocks (→ Kap. 4) für die Fachdidaktiken ausgearbeitet wurden. Einen mit den Bildungsstandards vergleichbaren Rahmen stellt für den fremd- und zweitsprachlichen Deutschunterricht zwar der vom Europarat herausgegebene Gemeinsame Europäische Referenzrahmen für Sprachen (GER) dar. Dieser berücksichtigt jedoch in seiner ersten Version (2001, engl./frz. 2000) kaum die Arbeit mit literarischen Texten. Lediglich in der Globalskala (2001: 36) auf dem Niveau B2 unter der Fertigkeit „Lesen“ wird auf sie hingewiesen – „Ich kann zeitgenössische literarische Prosatexte verstehen“ –, was für das Niveau C2 auf alle „literarische[n] Werke“ ausgeweitet und für die Fertigkeit „Schreiben“ durch das Item ergänzt wird, dass Lernende „literarische Werke schriftlich zusammenfassen und besprechen können“ (→ Kap. 5).1 Im neuen Begleitband zum GER (2020, engl./frz. 2018: 6f.), dessen ‚zweiter Version‘, findet die Arbeit mit literarischen Texten weitaus stärkere Berücksichtigung (→ Kap. 5). Die Umsetzung der Empfehlungen zur Förderung des „Lesen[s] als Freizeitbeschäftigung“, der „Analyse und Kritik kreativer Texte“ und der „Persönliche[n] Reaktion auf kreative Texte“ in Curricula, Lehr- und Lernmaterialien und Unterricht wird in den nächsten Jahren fachwissenschaftlich zu begleiten und zu reflektieren sein.

Während es in den Fachdidaktiken um Lehr- und Lernprozesse in dem in hohem Maß vorstrukturierten schulischen Kontext geht, werden im Hinblick auf den Unterricht von Deutsch als Fremd- und Zweitsprache sehr unterschiedliche Lehr- und Lernkontexte apostrophiert. So ist zu differenzieren, ob die Arbeit mit literarischen Texten im Kontext von Sprachunterricht oder Literaturunterricht stattfindet; mit Kindern, Jugendlichen oder in der Erwachsenenbildung; im universitären oder nicht-universitären Zusammenhang; mit Gruppen mit einer gemeinsamen oder mehreren unterschiedlichen L1; mit Lernenden, die in unterschiedlichen Lehr- und Lerntraditionen sozialisiert sind. Dieses weite Spektrum scheint in den offeneren Formulierungen wie etwa Literatur im DaF/DaZ-Unterricht (Koppensteiner/Schwarz 2012) auf. Mit der Entscheidung für den Begriff „Literaturdidaktik“ möchten wir diesen weiten Horizont des Faches Deutsch als Fremd- und Zweitsprache beibehalten und gleichzeitig ausdrücken, dass sich dessen Grundlagen als „Didaktik“ bezeichnen lassen, als „Wissenschaft vom Lehren und Lernen von Literatur“ (vgl. nochmals Ehlers 2016: 13, Leubner/Saupe/Richter 2016: 13). Wir möchten damit auch an den Sprachgebrauch in den Nachbardisziplinen anschließen, auf deren Reflexionspotenzial wir in unserem Band an verschiedenen Stellen zurückgreifen.

Wir schließen außerdem an eine Bestimmung des Begriffs „Literaturdidaktik“ an, wie sie in der fünften, aktualisierten und erweiterten Auflage des Metzler Lexikons Literatur- und Kulturtheorie (2013) gegeben wird. Hier wird der Begriff recht weit gefasst im Hinblick auf institutionalisierte Lernprozesse. In dem entsprechenden Lemma heißt es:

Literaturdidaktik bezeichnet den Komplex von Entscheidungen, Konzeptionen und Theorien über Literatur als Gegenstand institutionalisierter Lernprozesse. […] Die Bestimmung von Lernzielen bzw. -inhalten ist von gesellschaftlichen Wertregistern wie ästhetische und religiöse Bildung, National- oder Klassenbewusstsein, Emanzipation und Toleranz abhängig, die in Formen wie bildungs-, lernziel-, handlungsorientierter, erfahrungsbezogener und integrativer Unterricht umgesetzt werden. […] Literaturdidaktik umfasst die Organisation rezeptiver, produktiver, darstellender, analytischer, kommunikativer, rhetorisch-argumentativer, wissensentnehmender und -speichernder Handlungsformen und Erkenntnismöglichkeiten. (ebd.: 456)

Diese Definition umfasst einiges, was zur Vermittlung literarischer Texte auch im Fach Deutsch als Fremd- und Zweitsprache in jüngerer Zeit diskutiert wird. Entscheidend sind die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Gegenstand Literatur, die Bestimmung von Lehr- und Lernzielen und die Modellierung von Unterrichtssettings.

In dem Lemma „Literaturdidaktik“ im Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie (2013) werden weiter Literaturwissenschaft und Literaturgeschichte als Bezugswissenschaft(en) der Literaturdidaktik bezeichnet. Es wird darauf verwiesen, dass es gerade eine stärkere Orientierung an fachwissenschaftlichen Entwicklungen in der Literaturwissenschaft sei, die in jüngerer Zeit zu produktiven neuen Ansätzen und Konzepten in der Literaturdidaktik führe (vgl. ebd.). Allerdings ist das Verhältnis zwischen Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik keineswegs so unumstritten, wie es diese Formulierung vermuten lässt. Insbesondere in der Forschungsdiskussion der Fachdidaktik Deutsch finden sich zunehmend kontroverse Positionen. In ihrer erstmals 19982 und in zweiter Auflage 2006 erschienenen Einführung in die Literaturdidaktik bezeichnet Elisabeth Paefgen die Literaturdidaktik noch als „Teilgebiet der Literaturwissenschaft“ (Paefgen 2006: VIII). Während ihrer Einschätzung nach der „literaturwissenschaftliche Anteil für alle Literaturlehrenden gleichermaßen verpflichtend und grundlegend ist“ (ebd.), seien andere Aspekte wie „pädagogische, soziologische, kulturelle und politische Bezüge“ (ebd.) zwar auch von Relevanz, jedoch nicht in gleicher Weise verbindlich. Diese Position stärkt Klaus-Michael Bogdal in seinem Beitrag in dem von ihm und Hermann Korte herausgegebenen Band Grundzüge der Literaturdidaktik, erstmals 2002 erschienen und seit 2012 in sechster Auflage vorliegend: „Literaturdidaktik und Literaturwissenschaft unterscheiden sich nicht in ihren Grundlagen, Methoden und Gegenständen, Ansprüchen, Problemen und Krisen“ (Bogdal 2012: 13). Er bezeichnet die Literaturwissenschaft als grundlegende Bezugsdisziplin, deren Forschungsergebnisse es in der Literaturdidaktik zu berücksichtigen gelte, und grenzt sich deutlich von Positionen ab, die Literaturdidaktik als Erforschung von Lese- und Vermittlungsprozessen verstehen:

Die literaturwissenschaftlich fundierte Vermittlungstätigkeit bildet das Zentrum der Literaturdidaktik. Ohne den ‚Gegenstand‘ Literatur und die systematische Erforschung seiner historischen, ästhetischen, kulturellen und kommunikativen Dimensionen wird wissenschaftliches Bemühen in diesem Bereich belanglos. (ebd.: 15f.)

Gegen die benannten Positionen gibt es Vorbehalte. In kritischer Bezogenheit auf die Überlegungen von Bogdal (2012) formuliert Volker Frederking (2014), dass die „Deutschdidaktik kein Appendix der Fachwissenschaft, keine Germanistik ‚light‘“ (ebd.: 110) sei. Vielmehr habe die Deutschdidaktik ihre eigenen Forschungsinteressen und müsse dafür auch eigene Methoden entwickeln. Insbesondere muss die Perspektive auf den Lerngegenstand „Literatur“ durch die Perspektive auf die „Lernenden“ ergänzt werden. Er formuliert als grundlegende These:

Deutschdidaktische Forschung setzt die stetige Oszillation zwischen fachlichem Lerngegenstand und fachspezifischen Lehr-Lern-Prozessen voraus. Deutschdidaktik ist in diesem Sinne die Wissenschaft vom fachspezifischen Lehren und Lernen im Zusammenhang mit deutscher Sprache, Literatur und anderen Medien. (ebd.)

Nach Frederking wäre die Deutschdidaktik als transdisziplinäre Wissenschaft zu verstehen, die zwischen der Germanistik und anderen Fachwissenschaften angesiedelt ist. Sie fokussiert fachliche Lerninhalte, fachspezifische Lehr-Lern-Prozesse, Lehrende und Lernende (ebd.: 111). Dabei ist vor allem der empirische Zugang zur Erforschung von Lehr- und Lernprozessen entscheidend:

Eine Deutschdidaktik, die sich als Wissenschaft versteht und als Wissenschaft ernst genommen werden will, muss überprüfte Theorien und abgesichertes Wissen generieren. Als Wissenschaftler müssen wir schlicht wissen, ob das, was wir theoretisch modellieren und als praxistauglich empfehlen, tatsächlich die erhofften Wirkungen zeitigt. Diesem Erfordernis kann nur auf empirischer Basis entsprochen werden. (ebd.: 115)

Von einer anderen Seite als Frederking kritisieren auch Ulf Abraham und Matthis Kepser in ihrer 2005 erstmals erschienenen und seit 2016 in vierter Auflage vorliegenden Einführung Literaturdidaktik Deutsch die Gegenstandsorientierung von Paefgen (2006) und Bogdal (2012). Sie nehmen Literatur als „Handlungsfeld“ (Abraham/Kepser 2016: 20) zum Ausgangspunkt ihrer Argumentation für eine sinnvolle Perspektive einer Literaturdidaktik: „Ihr kann es nicht in erster Linie darum gehen, wie Literatur beschaffen ist. Sie muss sich vor allem dafür interessieren, was Menschen damit machen und warum.“ (ebd.) Explizit setzen sie sich von den Positionen von Paefgen (2006) und Bogdal (2002)3 ab: Sie verstehen „Literaturdidaktik als eigenständige kulturwissenschaftliche Disziplin […]. Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik sind einander benachbarte, aber nicht auseinander ableitbare Disziplinen.“ (Abraham/Kepser 2009: 47f.)4

In der fremdsprachendidaktischen Forschung, besonders in der Fachdidaktik Englisch und auch Romanistik werden in jüngerer Zeit gerade die Transdisziplinarität und die kulturwissenschaftliche Orientierung einer Literaturdidaktik betont. Die Literaturwissenschaft wird als enge Bezugswissenschaft einer Literaturdidaktik angenommen, die sich in steter Auseinandersetzung mit neuen literatur- und kulturwissenschaftlichen Positionen und vielfältigen Lehr- und Lernprozessen dynamisch weiterentwickelt (siehe etwa Bredella/Delanoy/Surkamp 2004: 8, Freitag-Hild 2010: 9ff., Küster 2003). In dem von ihnen herausgegebenen Band Literaturdidaktik im Dialog bezeichnen Lothar Bredella, Werner Delanoy und Carola Surkamp (2004: 9) als wichtige Entwicklungsfelder der Literaturdidaktik beispielhaft eine gender-bezogene Fundierung der Vermittlung von Literatur, einen weiten Literaturbegriff und eine Aufgabenorientierung.

Eine Literaturdidaktik des Faches Deutsch als Fremd- und Zweitsprache wie sie diesem Band zugrunde gelegt wird, knüpft an die dargestellten Forschungsdiskussionen an. Sie

 betrachtet Literatur als Gegenstand institutionalisierter Lehr- und Lernprozesse, auf den mit den Grundlagen und Methoden einer (kulturwissenschaftlich orientierten) Literaturwissenschaft zugegriffen wird;

 modelliert und erforscht (empirisch) fachspezifische Lehr- und Lernprozesse in ihren vielfältigen Komponenten wie Lernziele, Handlungsformen, Lehrende und Lernende.

Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik werden so als zwei eng miteinander verbundene Wissenschaften verstanden, die Fragestellungen und Analysekategorien zum Gegenstand Literatur teilen.

Diese Einführung verfolgt nicht das Anliegen, eine ‚eigenständige‘ Literaturwissenschaft für Deutsch als Fremd- und Zweitsprache, wohl aber eine fachspezifische Literaturdidaktik zu etablieren.

Die Formung einer ‚eigenständigen‘ Literaturwissenschaft für das Fach Deutsch als Fremd- und Zweitsprache wurde in Forschungsbeiträgen immer wieder gefordert (vgl. Dobstadt 2009: 21ff., Altmayer 2014: 34). Aber worin soll sie bestehen? Unserem Verständnis nach ist es – wie in den oben dargestellten Positionen einer Fachdidaktik Deutsch wie Fachdidaktik Englisch ebenfalls deutlich wird – die Literaturwissenschaft an sich, deren Grundlagen und Methoden für einen didaktischen Umgang mit Literatur auch im Fach Deutsch als Fremd- und Zweitsprache relevant sind.

Literatur müsse als Literatur ernst genommen und vermittelt werden – diese Forderung wird in der fachwissenschaftlichen Diskussion seit 2010 immer deutlicher formuliert. Verschiedene (neue) Konzepte nehmen die literarischen Texte als solche verstärkt in den Blick. Sie legen den Fokus auf

 die Rolle der Form für deren (Be-)Deutung (form as meaning),

 Medialität,

 Deautomatisierung,

 diskursive Vernetzung und

 die Partizipation an fremdsprachigen Diskursen als übergreifender Zielsetzung des Fremd- und Zweitsprachenunterrichts.

Im Fach Deutsch als Fremd- und Zweitsprache wird dieser Entwicklung in hohem Maße Rechnung getragen; sie ist forschungsleitend in den letzten Jahren. Das betont aus anglistischer Sicht auch Laurenz Volkmann (2015) und hebt die jüngeren Beiträge der fachwissenschaftlichen Diskussion in Deutsch als Fremd- und Zweitsprache diesbezüglich als vorbildlich hervor:

Sie drehen ein oft vernommenes Hauptargument gegen den Einsatz von Literatur im Fremdsprachenunterricht bzw. für eine Reduktion von literarisch-ästhetischen Elementen gewissermaßen um. Nicht allein als fiktionaler Steinbruch für landeskundliche Phänomene oder interkulturelle Fremderfahrung habe Literatur zu wirken, sondern – im Gegenteil – Literatur solle im Mittelpunkt eines […] Unterrichts stehen. (Volkmann 2015: 367)5

Mit dieser Betrachtung rücken andere, im Fach Deutsch als Fremd- und Zweitsprache ebenfalls vertretene Positionen in den Hintergrund, die literarische Texte zunächst als Medien für sprachliches und kulturelles Lernen auffassen. In dieser Perspektive werden literarische Texte hauptsächlich in entsprechenden Bedingungsgefügen gesehen. Für das sprachliche Lernen (→ Kap. 6) wird etwa hervorgehoben, dass literarische Texte für die Präsentation und Übung eines grammatischen Phänomens von Bedeutung sein können; eine Position, die sich auch in vielen Lehrwerken findet. Auch die Beschäftigung mit einem Aspekt wie der Literarizität von Texten generell, den literarische Texte jedoch in besonders auffälliger Weise ausstellen, kann in dieser Perspektive sprachliches Lernen fördern.

Mit dem Fokus auf dem kulturellen (bzw. landeskundlichen) Lernen werden die Lektüren literarischer Texte mitunter den Kulturstudien, der Kulturvermittlung bzw. Landeskunde im Fach subsumiert (→ Kap. 7), in besonderem Maße werden literarische Texte im Fokus des interkulturellen Lernens betrachtet (→ Kap. 8).

Eine andere Position betrifft das philologische Handlungswissen von Lernenden. Argumentiert wird, dass von DaF-Lernenden wenig literaturwissenschaftliche Kenntnisse bzw. philologisches Handlungswissen erwartet und gefordert werden können, die für einen adäquaten Umgang mit literarischen Texten erforderlich wären (vgl. Dobstadt 2009: 27). Das ist in Teilen sicher richtig, wobei – wie nachfolgend noch gezeigt wird – unterschiedliche Lehr- und Lernkontexte zu berücksichtigen wären. Auch richtig sind aber Positionen wie beispielsweise von Andrea Leskovec (2011b) und mit Blick auf die Arbeit mit Spielfilmen Renate Bürner-Kotzam (2011a), dass entsprechendes deklaratives Wissen im Unterricht etwa in Form von Glossaren oder kurzen Erklärungen bereitgestellt und von den Lernenden verwendet, günstigenfalls also zu prozeduralem Wissen werden kann. Eine solche Vorgehensweise setzt allerdings voraus, dass die Lehrenden über entsprechende Kenntnisse verfügen und sie schon in der Unterrichtsvorbereitung einsetzen können. Eine Fallstudie von Almut Hille (2017) in Anknüpfung an Überlegungen von Claire Kramsch (2011) zeigt, dass Studierende als künftige Lehrkräfte nicht in ausreichendem Maße über literaturwissenschaftliche Kenntnisse bzw. philologisches Handlungswissen verfügen. In der Aus- und Fortbildung von Lehrkräften müssten sie also stärker vermittelt werden.

Fallstudien, wie die genannte, oder größere empirische Studien werden auch in der Literaturdidaktik des Faches Deutsch als Fremd- und Zweitsprache in den nächsten Jahren eine größere Rolle spielen (müssen). Bislang werden empirische Forschungen insbesondere im Hinblick auf sprachliche Lehr- und Lernprozesse durchgeführt (siehe etwa Riemer/Settinieri 2010, Settinieri et al. 2014 und Riemer 2019). Im Bereich der Literatur- und Kulturvermittlung sind sie noch selten.6 In einem Überblicksartikel zu literaturwissenschaftlich orientierten Lehr- und Forschungsperspektiven im Fach Deutsch als Fremd- und Zweitsprache entwickeln Dobstadt/Riedner (2014a: 157f.) erste Überlegungen dazu; außerdem stellen sie in einem Beitrag von 2016 eine Pilotstudie zur Arbeit mit einer Lehrbuchlektion vor, die im Hinblick auf eine Literarizitätsdidaktik modifiziert und mit einer Gruppe von Lernenden evaluiert wurde. Potenzial für empirische Forschungen sehen sie vor allem in rezeptions- und leserbezogenen sowie methodisch-didaktischen Fragen, bei denen es um die Evaluierung von Aufgabenstellungen und Unterrichtskonzepten für das Erreichen von literaturbezogenen Lehr- und Lernzielen geht. Neben diesen generellen Überlegungen finden sich erste empirische Forschungen zu Unterrichtskonzepten, die auf der Basis literaturtheoretischer Diskussionen zur diskursiven Verfasstheit literarischer Texte (→ Kap. 10) modelliert wurden. In zwei Beiträgen zur Arbeit mit Texten der Gegenwartsliteratur im Rahmen von internationalen Masterstudiengängen für Deutsch als Fremdsprache bzw. von Fortbildungen für Deutschlehrer*innen in der internationalen Germanistik wurden Daten zu den Lektüren von Studierenden und Lehrenden erhoben und ausgewertet (Hille/Schiedermair 2018, Schiedermair 2020). Wie diese (ersten) Überlegungen und Publikationen zeigen, steht die Forschung hier noch am Anfang. Es gilt, weiter auszuarbeiten, welche Fragestellungen sich mit empirischen Forschungsmethoden bearbeiten lassen und welche Forschungsdesigns geeignet sind. Dabei sind insbesondere die (sehr) heterogenen Kontexte von Lehr- und Lernprozessen in Deutsch als Fremd- und Zweitsprache zu berücksichtigen. Anders als in den philologischen Fachdidaktiken, die auf erstsprachliche oder fremdsprachliche Literaturvermittlung in der Schule ausgerichtet sind und die institutionellen Gegebenheiten wie Schulformen, Jahrgangsstufen, Curricula, Prüfungsordnungen und Bildungsstandards teilen, unterscheiden sich diese erheblich. Wie oben bereits skizziert, stellt Literaturdidaktik im Bereich Deutsch als Fremd- und Zweitsprache einen komplexen Zusammenhang dar, bei dem es auch gilt, zwischen unterschiedlichen

 Lernsozialisierungen,

 Ausgangssprachen,

 Sprachniveaus

 und Kursformaten

zu differenzieren (vgl. Rösler 2012: 227–237, Schiedermair 2020: 95).

Kommen wir auf das Lemma „Literaturdidaktik“ im Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie (2013) zurück. In ihm wird neben oder als Teil der Literaturwissenschaft auch die Literaturgeschichte als Bezugswissenschaft der Literaturdidaktik genannt. Wir möchten ihr einen Stellenwert einräumen, obwohl oder gerade weil im Fach Deutsch als Fremd- und Zweitsprache so oft, wenn (überhaupt) von der Arbeit mit Literatur im Unterricht die Rede ist, die Gegenwartsliteratur im Vordergrund steht.7 Unberücksichtigt bleiben dann die Bezüge zum Vergangenen im Gegenwärtigen, „the echoes of past narratives“ in der Gegenwart wie Piera Carroli (2008: 186) sie in ihrer Studie Literature in Second Language Education nennt. Vor diesem Hintergrund plädiert auch Neva Šlibar (2011) für die Beachtung literaturhistorischer Dimensionen im Unterricht Deutsch als Fremdsprache. Sie schlägt ‚Spaziergänge‘ durch die Literaturgeschichte vor, die Lernende z. B. in eigenständigen Recherchen und nachfolgenden Präsentationen oder Inszenierungen unternehmen können – in Gruppenarbeit und ohne Schwellenängste gegenüber Nachschlagewerken. Literaturgeschichte(n) würde(n) so erlebbar und Text-Kontext-Dimensionen ohne Reduktion auf einen ‚Biografismus‘ der Autor*innen nachvollziehbar (vgl. Šlibar 2011: 85).

Ein Nachschlagewerk, prädestiniert für ein solches Vorgehen, wäre z. B. die von David E. Wellbery u.a. herausgegebene Neue Geschichte der deutschen Literatur (2007). Sie steht für methodische Neuausrichtungen auch der Literaturgeschichtsschreibung. Ziel der gewählten Art der Darstellung von Literaturgeschichte ist es, einzelne Texte als „einzigartige Ereignisse“ (ebd.: 15) wahrzunehmen. Sie sollen nicht als „Veranschaulichungen einer Macht, einer Neigung oder Norm – als Geist eines Zeitalters oder einer Nation, als Klassenvorliebe oder ästhetisches Ideal“, als „typisch für etwas“ betrachtet werden (ebd.). Vielmehr sollen „wirkliche Begegnungen“ mit Texten ermöglicht werden, da es diese Begegnungen sind, die letztendlich das „Erregende der Leseerfahrung“ ausmachen (ebd.). Literaturgeschichte wird als Netz von Ereignissen erzählt, in dem Lesende sich nach Belieben bewegen können. So verweist das Inhaltsverzeichnis nicht auf einzelne Epochen, Dekaden oder Autor*innen sondern formuliert (im besten Fall Neugier erzeugende) Stichworte wie 1647. Dramaturgie des Reisens, 1804. Die Nacht der Phantasie oder Januar 1931. Irmgard Keun und die ‚Neue Frau‘. Jeder Eintrag beginnt mit einem Datum und einer historischen Schlagzeile; er endet mit Vorschlägen, welche weiteren Einträge im Kontext gelesen werden könnten.

Textbeispiel

Unter dem Eintrag Januar 1931 zum Beispiel begegnen Lesende nach der Schlagzeile Reichskanzler Brüning beruft eine Expertenkommission ein, um über die sich verschärfende Wirtschaftskrise zu beraten der Hauptfigur Gilgi aus Irmgard Keuns gleichnamigem, in jenem Jahr veröffentlichten Erfolgsroman Gilgi – eine von uns. Der Eintrag stellt ihr Verlangen nach Emanzipation und Geborgenheit, ihre alltäglichen (Überlebens-)Kämpfe in der Großstadt in den sogenannten Goldenen Zwanzigern, aber auch die desaströse wirtschaftliche Situation sowie den Medien- und Kulturbetrieb der Zeit vor; gleichzeitig werden Merkmale eines neusachlichen Schreibens expliziert. Vom Januar 1931 aus können Lesende zurückblättern zu 1670 Hermaphroditismus und Geschlechterkampf, 8. Februar 1765 „Papierene Mädchen erziehen“ und das private Leben meistern, Februar 1848 Die Neuerfindung eines Genres und Oktober 1924 Modernismus und Hysterie, aber auch nach vorn zu 30. Juni 1937 Schauspiel der Verunglimpfung und 1963 Liebe als Faschismus. So können abhängig von den individuellen Lektüren verschiedene Literaturgeschichtserzählungen entstehen, deren Grundlagen auch Zufälle, Anekdotisches und exemplarische Bezugnahmen bilden.

Ein solches Umgehen mit literarischen Texten möchten wir mit dem Konzept des Arbeitens mit Textnetzen auch für das Fach Deutsch als Fremd- und Zweitsprache empfehlen (→ Kap. 10, 18).

Einen anderen Zugang zu literarischen Texten über neuere Konzeptionen von Literaturgeschichte bietet die 2017 von Sandra Richter publizierte Weltgeschichte der deutschsprachigen Literatur. Ihr Ziel sind Aufschlüsse darüber, „wie deutschsprachige Literatur in der Welt wahrgenommen wird“ (Richter 2017: 18). Anhand von „Fallbeispielen und ausgewählten Erzählungen“ mustert die Autorin „Verbreitungsformen und Verbreitungswege“ von Literatur sowie ästhetische und ethische Wertungen als Momente der Wahrnehmung und Deutung (ebd.).

Textbeispiel

Rainer Maria Rilke zum Beispiel erscheint in dieser Perspektive als „Vierländerdichter“ und „poeta touristicus“, der durch die Alpen und Italien, nach Ägypten, Schweden und mehrmals nach Russland reiste (vgl. ebd.: 275). Er schrieb auf Deutsch und Französisch, äußerte sich auch auf Russisch (vgl. ebd.). Weltweit rezipiert wurde besonders sein Spätwerk: Die Duineser Elegien (1923) zum Beispiel wurden ab 1927 zunächst ins Japanische, Polnische, Tschechische und Englische übersetzt; heute sind sie in allen Ländern Nord- und Südamerikas, Europas sowie in vielen asiatischen Ländern in entsprechenden Übersetzungen verbreitet (vgl. ebd.: 277ff.). Zu Intertexten wurden die Elegien etwa für das literarische Bekenntnis Einsiedler [Otšelnik] (1929) des bulgarischen Symbolisten Teodor Trajanov und für die Erzählung The Hungry Tide (2004) von Amitav Ghosh aus Indien. Mit einer solchen Betrachtungsweise wird deutschsprachige Literatur als Hybrid gekennzeichnet, das sich (inter-)regional, europäisch und global entfaltet und mehrsprachig ist (vgl. Richter 2017: 19f.). Gleichzeitig rücken die Lesenden in den Fokus. Denn es liegt weniger an einem „Text selbst, wie er wahrgenommen und gedeutet wird, als an seinen Lesern, ihren Interessen und Deutungsgewohnheiten“ (ebd.: 21).

Ein solches Konzept ist einerseits in seiner Fokussierung auf die Lesenden anschlussfähig an Diskussionen im Fach Deutsch als Fremd- und Zweitsprache (→ Kap. 20), andererseits eröffnet es neue Dimensionen einer Literaturbetrachtung, die für das Fach von Bedeutung sind. In den Fokus rücken Phänomene wie die Vernetzung von Texten (→ Kap. 10), Intertextualität und Intermedialität (→ Kap. 11), Mehrsprachigkeit (→ Kap. 13), aber auch Übersetzungen als Aneignungen, verschiedene Kultur- und Wissenschaftsbetriebe, Zeitenwenden, zivilisatorische (Auf-)Brüche sowie globale Literaturentwicklungen und ein Global Mainstream oder Western Canon (vgl. ebd.: 467–480).

Literaturdidaktik Deutsch als Fremd- und Zweitsprache

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