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3 Gibt es einen Kanon?

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Braucht man einen eigenständigen Kanon für „Deutsch als Fremdsprache“? fragte Hartmut Eggert in einem so betitelten Aufsatz 1995, um diese Frage anschließend vorrangig mit Blick auf das Fach Deutsch als Fremdsprache und die internationale Germanistik zu diskutieren und letztendlich zu verneinen. Entscheidend ist dabei das Wörtchen „einen“: Den einen, starren, über längere Zeit gültigen Kanon für ‚das‘ Fach Deutsch als Fremdsprache oder ‚die‘ internationale Germanistik kann es nicht geben. Von Lehrkräften wird immer unter regional-, institutionen- und gruppenspezifischen Aspekten sowie curriculum- und prüfungsbezogen erwogen werden, welche literarischen Texte für Lehre und Unterricht geeignet erscheinen.

In den frühen Debatten um die Auswahl literarischer Texte für den Unterricht Deutsch als Fremdsprache waren einige Diskussionsfelder der 1970er Jahre um einen Kanon für den schulischen (Deutsch-)Unterricht in der Bundesrepublik wiederzuerkennen. Sie scheinen weiterhin relevant zu sein. Es ging und geht um Fragen wie

 moderne vs. ältere Texte

 Weltliteratur vs. Nationalliteratur

 Trivialliteratur vs. hohe Literatur

 Gebrauchsliteratur vs. Dichtung

 verschüttete und unterdrückte Literatur vs. etablierte Literatur (vgl. Eggert 1995: 199f.).

Von ‚einem‘ Kanon wird dabei kaum gesprochen, haben die literaturwissenschaftlichen und -didaktischen Debatten seit den 1970er Jahren doch einerseits zu verschiedenen Erweiterungen eines traditionellen (Bildungs-)Kanons und andererseits zu einer äußerst kritischen Reflexion des Kanon-Begriffs an sich geführt. Erst in jüngerer Zeit scheinen Kanon-Debatten wieder eine Konjunktur zu erleben. In ihrem Mittelpunkt steht die Frage, was Literatur im digitalen Zeitalter eigentlich sei und welche Bedeutung sie haben könne (→ Kap. 1). Einem literarischen Kanon wird dabei eine mögliche Orientierungs-, Ordnungs- und (Be-)Wertungsfunktion in der Menge der in verschiedenen medialen Formaten edierten Texte zugeschrieben.

Was sich hier in aller Kürze zusammengefasst findet, ist das Ergebnis eines langen Prozesses (vgl. zur folgenden Skizze Ackermann 2001: 1346–1350, Ewert 2010: 1555–1560, Winko 2013: 363):

 AnfängeDer Begriff „Kanon“ selbst (griech.: Regel, Maßstab, Richtschnur; urspr. Schilfrohr, Messrute) ist bereits in der Antike bekannt, auch die damit bezeichnete Vorstellung eines Gemeinsamen und Verbindlichen. So wurde er verwendet, um eine Sammlung von Regeln eines Fachgebiets, eine Sammlung von Texten oder auch bestimmte Ziel- und Idealvorstellungen zu bezeichnen und implizierte von Anfang an die Dimension des Normativen (vgl. Ackermann 2001: 1346, Ewert 2010: 1555). Im 2. Jahrhundert vor Chr. fanden sich im griechisch-römischen Bereich auch bereits Listen mit Namen von wichtigen Autoren – Dichtern, Rednern, Philosophen, Historikern –, die als Vorbilder galten.

 Theologie als VorbildWar das Kanonkonzept später zunächst vor allem in der Theologie produktiv aufgenommen worden – als Zusammenstellung der Texte, die für den christlichen Glauben als verbindlich galten – legte in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts Pierre-Daniel Huet (1630–1721), Bischof von Avranches, eine Sammlung von Weltliteratur vor, die als der erste moderne Kanon gelten kann. Zunächst unter dem Titel Traité de l’origine des romans erschienen, wurde sie zwar ins Deutsche übersetzt, fand aber wenig Aufmerksamkeit. Eine Zusammenstellung von klassischen griechischen und lateinischen Texten, die der Göttinger Altphilologe und Pädagoge David Ruhnken (1723–1798) im 18. Jahrhundert als Schulkanon zusammenstellte, war dagegen erfolgreich.

 Materialer Kanon und DeutungskanonSeit dem Ende des 18. Jahrhunderts spricht man von einem literarischen Kanon, als der „gewöhnlich ein Korpus literarischer Texte bezeichnet [wird], die eine Trägergruppe, z. B. eine ganze Kultur oder eine subkulturelle Gruppierung, für wertvoll hält, autorisiert und an dessen Überlieferung sie interessiert ist“ (Winko 2013: 363). Dabei stehen ein materialer Kanon, eben dieses Korpus literarischer Texte, und ein Deutungskanon, ein Korpus von Interpretationen, in dem aufgehoben ist, welche Deutungen und Wertvorstellungen mit den kanonisierten Texten verbunden werden können, nebeneinander (ebd.). Beide sind z. B. für den Prozess der Nationenbildung im 19. Jahrhundert, für die Implikation einer Identifikation mit der Nation bzw. mit dem (neuen) Nationalstaat relevant.

 Nationale Literaturgeschichtsschreibung und bildungsbürgerliche VorstellungenIm 19. Jahrhundert entwickelten sich mit der nationalen Literaturgeschichtsschreibung und der Herausbildung des Bildungsbürgertums die Vorstellungen und Praxen des Kanonkonzepts, die dann in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in die Kritik gerieten wegen der Ausschlussmechanismen und hierarchischen Strukturen, die sie beförderten. Insbesondere die herausragende Stellung, die den Texten der Weimarer Klassik zugeschrieben wurde, führte einerseits dazu, dass andere Texte automatisch zu Vorläufern oder Nachahmern degradiert wurden, und andererseits dazu, dass Autor*innen ausgeschlossen wurden, auch solche, deren Texte heute selbstverständlich als lohnende Lektüren gelten (vgl. Ewert 2010: 1555, 1558).

 Kritik am KanonIn den 1960er Jahren werden der „Allgemeinverbindlichkeitsanspruch“ und die damit verbundenen Implikationen von „Hierarchie, Ausschließlichkeit und Nicht-Zugehörigkeit“ (Ewert 2010: 1556) des bildungsbürgerlichen und akademischen Kanons kritisiert als „Machtinstrument“, das „bloß gesellschaftliche Partialinteressen verkörpere“ statt „alle Teile der Gesellschaft demokratisch zu repräsentieren“ sowie als „eine Form von Zensur“, die „der implizierte Ausschluss von Werken aus der literarischen Tradition einer Gesellschaft“ darstelle (ebd.: 1557). Die Diskussionsfelder, die sich entwickelten – etwa die oben bereits genannten Felder: Schwerpunkt auf der Gegenwartsliteratur, Abwertung der sogenannten Nationalliteratur, Einbeziehung von Trivial- und Unterhaltungsliteratur, Berücksichtigung verschiedener Textarten und Genres, Verwendung verschiedener medialer Formen – lassen sich mit Ackermann (2001) unter dem Stichwort „Entkanonisierung ‚klassischer‘ Literatur“ (ebd.: 1349) fassen.

 Ideologiekritische AnsätzeDaneben finden sich zwei weitere Diskussionszusammenhänge, die den Kanon in Frage stellen: ab den 1970er Jahren „[i]deologiekritische Ansätze“ (ebd.) sowie ab den 1980er Jahren „[f]eministische Positionen“ (ebd.). Dabei geht es insbesondere in der US-amerikanischen Diskussion ausgehend von der Kategorientrias race, class, gender (vgl. ebd., Ewert 2010: 1559) um die Ausarbeitung und Etablierung eines Gegenkanons. Darüber hinaus steht das Konzept Kanon grundsätzlich in der Kritik im Rahmen von Positionen, die auf eine „Entkolonialisierung des Kanons“ und eine „Entkanonisierung“ überhaupt zielen (Ackermann 2001: 1349, kursiv i.O.). Der literarische Kanon wird kritisiert als „Aushängeschild kultureller Hegemonieansprüche einer europäisch geprägten weißen Bürgerschicht“, als einer eurozentrischen Perspektive verpflichtet, die eine Einschränkung auf bestimmte Autoren – zugespitzt in der Formulierung von den „DEAD WHITE MALES“ (Volkmann 2017: 214, Hervorh. i.O.) – zur Folge hat.

 Feministische AnsätzeDie feministische Literaturwissenschaft hat die Aufnahme von Autorinnen in die Literaturgeschichten, Leselisten an Universitäten und Schulcurricula eingefordert und die „Rekonstruktion weiblicher literarischer Traditionen“ (Ewert 2010: 1558). Dabei ging es nicht darum, den Kanon zu ergänzen, sondern die Prozesse, die zu Kanonisierung führen, zu hinterfragen und zu verändern, also auch um eine „Neuformulierung literaturhistorischer Prinzipien“ (ebd.). Auch die kritische Analyse von „Männlichkeits- und Weiblichkeitskonstruktionen und -entwürfen“ zielte darauf, Schreib- und Lesegewohnheiten in ihren problematischen Verstrickungen sichtbar zu machen (vgl. ebd.). Diese Diskussionen desavouierten aus verschiedenen Perspektiven den vorhandenen Kanon und zeigten die komplexen Kanonisierungsprozesse und ihre Ausschlussverfahren gesellschaftlich „nicht-dominanter Kulturen und Gruppierungen“ (ebd.).

Angesichts dieser vehementen Kritik stellt sich die eingangs zitierte Frage, die auch Ackermann an den Anfang ihres Artikels stellt „Brauchen wir noch einen Kanon?“ (2001: 1346). Die pragmatische Antwort darauf, die sich nach der grundlegenden Kritik und Abwendung von Begriff und Konzept ab den 1960er Jahren als Praxis in den verschiedenen Bildungsinstitutionen und im Literaturbetrieb entwickelt hat, ist die Arbeit mit einer Pluralität von heterogenen, offenen und dynamisierten Formen von Leselisten und Kanones. Wie Ewert (2010: 1599) schreibt, bietet sich „im Nebeneinander von Sub-, Gegen- und Alternativkanones“ ein „kreatives Potential“ für Forschung, akademische Lehre und (Schul-)Unterricht an.

Aus der Perspektive des Faches Deutsch als Fremd- und Zweitsprache konturieren sowohl Ackermann in ihrem Beitrag im Handbuch Deutsch als Fremdsprache (2001: 1351f.) als auch Ewert in seinem Beitrag in der zweiten Ausgabe des Handbuchs (2010: 1560ff.) die Rolle der sogenannte. „Gastarbeiter-“, „Ausländer-“, „Migranten-“ und „Migrationsliteratur“ bzw. der interkulturellen Literatur (→ Kap. 8, 13) für Fragen des literarischen Kanons. Denn auch die zunehmende und zunehmend selbstverständlichere Aufmerksamkeit für Texte, die lange Zeit diese Zuschreibungen erfahren haben und z.T. immer noch erfahren, führte und führt zu Textzusammenstellungen jenseits des oben skizzierten traditionellen Kanonverständnisses und stellt so das Konzept an sich in Frage. Immer wieder wird darauf verwiesen, dass die Arbeit mit entsprechenden Texten unter Rückgriff auf einen „offenen, prozessualen und dialogischen Kulturbegriff“ (Ewert 2010: 1560) die Auseinandersetzung mit zentralen Aspekten der Gegenwart wie u.a. Alterität, Hybridität, postkolonialer Kritik und Globalisierungsprozessen ermöglicht.

Nach diesem kurzen Blick auf die Entwicklung von Begriff und Konzept sowie auf die verschiedenen kritischen Positionen der intensiven Diskussionen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wäre für unseren Zusammenhang festzuhalten: Ein Kanon entsteht nicht, indem Texte aufgrund gewisser zeitloser literarischer Qualitäten in ihm positioniert werden; er ist vielmehr ein variables Ergebnis vielfältiger Deutungs-, Identifikations- und Auswahlprozesse, in denen inner- und außerliterarische Faktoren eine Rolle spielen (vgl. Winko 2013: 363). Literaturwissenschaft, Literaturgeschichtsschreibung und -kritik spielen in Prozessen der Kanonisierung ebenso eine Rolle wie verschiedene öffentliche und private Institutionen und Unternehmen: Schulen, Schulämter und Kultusministerien, Universitäten, Hoch- und Fachschulen, Archive, unter entsprechenden politischen Umständen Zensurbehörden (die von ihnen indizierten Texte können auch einen Negativ- oder Gegen-Kanon bilden), Verlage, Buchhandel und Bibliotheken, Theater, Filmproduktions- und -verleihfirmen, Presse, Rundfunk und Fernsehen sowie literarische Gesellschaften, Literaturhäuser, Literaturagent*innen, Übersetzer*innen und Mittlerorganisationen, auch der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik.

Die Kanonisierung literarischer Texte ist immer als dynamischer Prozess zu betrachten. Als solcher unterliegt er andauernden und immer neuen gesellschaftlichen Debatten um Traditionsbegriffe, Geschichtserzählungen und Gedächtnisinhalte, um Generationenverständnisse und -identifikationen, um geschlechtliche, ethnische und sprachliche Identifikationen, um Literaturbegriffe und literatur- wie kulturwissenschaftliche Innovationen. Er ist geprägt von steten Infragestellungen, Erweiterungen und Revisionen. Erst die Wirkungsgeschichte von literarischen Texten, oft bei ihrem Erscheinen nicht absehbar und auch nicht nur von ihrer literarischen Qualität abhängig, entscheidet über deren mögliche (temporäre) Kanonisierung. Auch der Kanon selbst zeigt in diesem dynamischen Prozess Wirkungen, repräsentiert er doch grundlegende Begriffe von Traditionen, Geschichte, Wissenschaft und gesellschaftlichen Identifikationen, die ggf. in Frage gestellt werden (müssen). Einen verbindlichen, feststehenden Kanon literarischer Texte gibt es also weder für den (schulischen) Unterricht von Deutsch als Erst-, Zweit- oder Fremdsprache noch für die (inter-)nationale Germanistik und die Ausbildung von Lehrkräften.

Gleichzeitig haben Kanon-Debatten immer eine Bedeutung für das Selbstverständnis und die Entwicklung von (akademischen) Fächern, für (Selbst-)Vergewisserungen und Innovationen. In der Auseinandersetzung mit Begriffen von Literatur, (nationaler) Tradition, Geschichte und Gedächtnis, Bildung, Wissen und Wissenschaft werden gesellschaftliche und ästhetische Positionen verhandelt.

Welche Auswirkungen auf den Kanon, also auf eine Zusammenstellung von Texten, unterschiedliche Fassungen von Literatur- und Genrebegriffen haben, sei hier an einem Beispiel skizziert: In ihrer Einführung Literaturdidaktik (2016) verstehen Leubner/Saupe/Richter Textarten wie Briefe, Essays, Reiseberichte oder Autobiografien als „literaturnahe Sach- und Gebrauchstexte“, die auch „als eine vierte Gattung der Literatur neben der Dramatik, Lyrik und Epik aufgefasst werden“ können (vgl. ebd.: 265). In anderen Grundlagenwerken dagegen – wie z. B. Klausnitzers Einführung Literaturwissenschaft (2012) – werden diese Textarten nicht nur als ‚literaturnah‘ bezeichnet, sondern der Literatur zugerechnet (→ Kap. 1), eine Position, die auch in weiten Teilen der Diskussion in Deutsch als Fremd- und Zweitsprache (vgl. Ewert/Riedner/Schiedermair 2011b: 8, Grimstein/Hille 2018: 209) und in diesem Band vertreten wird (→ Kap. 10, 20).

Neue Kanonisierungstendenzen sind in der gegenwärtigen Informations- und Wissensgesellschaft vielfach zu beobachten, wird von Leser*innen angesichts der großen Menge der in verschiedenen medialen Formaten ständig edierten Texte doch oft ein Kanon gewünscht – als ein Kompass zur Orientierung. Sie stellen (sich) Fragen wie diese:

 Welche Texte lohnt es sich zu lesen?

 Welche Autor*innen haben (mir) etwas zu sagen?

 Welche Texte werden gelesen und diskutiert? Wo und wie werden sie rezipiert?

Möglichkeiten zur Orientierung, auch für Lehrkräfte, bieten beispielsweise Nominierungen für Literaturpreise, etwa die Long- und Shortlist für den Deutschen Buchpreis, mit dem jeweils der deutschsprachige „Roman des Jahres“ ausgezeichnet wird, oder die Nominierungsliste für den Deutschen Jugendliteraturpreis, mit dem jährlich in den Sparten Bilderbuch, Kinderbuch, Jugendbuch und Sachbuch deutschsprachige oder aus einer Fremdsprache ins Deutsche übersetzte Titel geehrt werden. Auch die Nominierungen für den Ingeborg-Bachmann-Preis und die Schweizer Literaturpreise können als Anregung dienen. Leicht zugänglich sind die Informationen auf den jeweiligen Webseiten der Preise (http://www.deutscher-buchpreis.de, https://www.jugendliteratur.de, https://bachmannpreis.orf.at, https://www.schweizerkulturpreise.ch).

Auch Publikationsprojekte sollen Auswahl und Orientierung für Leser*innen bieten: etwa die Berlin-Bibliothek der Berliner Zeitung (2007), in der 25 der ‚besten‘ Berlin-Romane des 20. Jahrhunderts herausgegeben wurden, auch in Übersetzungen; die Bibliothek der Süddeutschen Zeitung, in der ‚große‘ Romane des 20. Jahrhunderts erschienen sind, nicht nur aus dem deutschsprachigen Raum; oder das Publikationsprojekt des Literaturkritikers Marcel Reich-Ranicki Der Kanon. Die deutsche Literatur, in dem in verschiedenen Bänden (2002–2006) ausgewählte Romane, Erzählungen, Dramen, Gedichte und Essays erschienen. Herausgaben wie die von Marcel Reich-Ranicki sind, schon im Titel erkennbar, explizite Kanonisierungsversuche. Sie entstehen auch mit dem Anliegen, Studierenden, Bibliothekar*innen, Lehrer*innen und anderen Personen, die sich professionell mit Literatur beschäftigen, Orientierung und einen schnellen und unkomplizierten Zugang zu den Texten zu bieten. Entsprechend ist auch der Filmkanon zu bewerten, der 2003 von der Bundeszentrale für politische Bildung mit dem Ziel erstellt wurde, die schulische Förderung von Filmkompetenz zu intensivieren. In ihm sind 33 Spielfilme und zwei Dokumentarfilme verzeichnet, die einen repräsentativen Einblick in die internationale Filmgeschichte des 20. Jahrhunderts ermöglichen sollen (http://www.bpb.de/lernen/projekte/filmkanon). Nicht mit dem gleichen Anspruch auf Kompetenzentwicklung, aber auch mit einem Bildungsanspruch versammelt die Cinemathek der Süddeutschen Zeitung die ‚Klassiker‘ der Filmgeschichte. Der Berliner Tagesspiegel gab zum 30-jährigen Jubiläum der Deutschen Einheit eine Liste der zwölf wichtigsten Filme über die DDR, den Mauerfall und die Einheit heraus.

Für die eigene Lektüre wie für die Arbeit mit literarischen Texten kann man sich auch im Internet auf Seiten wie lyrikline.org und zehnseiten.de inspirieren lassen oder beim Blick auf die Spielpläne der Theater und die Programmübersichten der Literaturhäuser; etwa in Leipzig (www.literaturhaus-leipzig.de), Hamburg (www.literaturhaus-hamburg.de), Wien (www.literaturhaus.at) oder Zürich (www.literaturhaus.ch). Orientierung bieten auch die Feuilletons der großen Zeitungen mit ihren literarischen Rezensionen, Theater- und Filmkritiken, die man z.T. auch digital im Netz finden kann.

Neben den verschiedenen Akteuren des Literaturbetriebs bieten auch die philologischen Wissenschaften Orientierung mit ihren Nachschlagewerken, Fachzeitschriften und anderen Publikationen: Zu nennen wären etwa das Kritische Lexikon der Gegenwartsliteratur (KLG) und der fremdsprachigen Gegenwartsliteratur (KLfG), die als lose Blattsammlungen kontinuierlich erweitert und aktualisiert werden und auch online einsehbar sind. Lektürevorschläge bietet auch die Rubrik Lektürespuren in der Zeitschrift Zielsprache Deutsch, die damit als einzige der Fachzeitschriften für Deutsch als Fremd- und Zweitsprache Gegenwartsliteratur explizit als einen ihrer Gegenstandsbereiche wählt. Seit Heft 1/2011 wird in jeder Ausgabe eine literarische Neuerscheinung auf zwei bis drei Seiten kommentiert; so ist inzwischen ein Fundus von über dreißig Texten entstanden. Auch in Publikationen im Bereich Deutsch als Fremd- und Zweitsprache, in den Fernstudieneinheiten sowie in Lehrwerken und Materialsammlungen finden sich literarische Texte und Hinweise auf literarische Texte. Es fragt sich, ob solche Sammlungen in ihrer Heterogenität kanonisierende Funktion haben. Hier sollen sie allenfalls als unverbindliche Lektüreempfehlungen verstanden werden, keinesfalls als Literatur- oder Lektürekanon, die Ackermann (2001) wie folgt bestimmt:

Zu unterscheiden ist […] einerseits der Typ des Literaturkanons als ‚heimlicher Kanon‘, der, obwohl nicht greifbar vorliegend, das wissenschaftliche und gesellschaftliche Bewusstsein von Literarizität bestimmt und kulturelle Identität prägt, andererseits der Typ des Lektürekanons, in dem für die jeweiligen Adressaten und für bestimmte Ziele (Studiengänge und Lehrpläne, Prüfungsanforderungen, Bildungsansprüche) Literaturlisten als verbindliche Lektürelisten oder Lektüreempfehlungen (z. B. ‚Die hundert besten Bücher‘) aufgestellt werden. (ebd.: 1347, Hervorh. i.O.)

Auch Ralf Klausnitzer präsentiert in seiner Einführung Literaturwissenschaft (2012), die sich vorrangig an Studierende richtet, auf zwölf Seiten Lektüreempfehlungen für das Studium der germanistischen Literaturwissenschaft; die Liste „impliziert“ jedoch „keinen Kanon, sondern soll Anhaltspunkte für die Auswahl eigener Lektüren bieten“ (ebd.: 438). Chronologisch und nach Jahrhunderten geordnet bietet er eine Liste mit Titeln zur älteren deutschen und zur neueren deutschen Literatur, die für das 21. Jahrhundert u.a. Lutz Seilers Gedichtband Pech und Blende (2000) und Terézia Moras Roman Alle Tage (2004) enthält und mit den Romanen Die Vermessung der Welt (2006) von Daniel Kehlmann (→ Kap. 6) und Der Turm (2008)1 von Uwe Tellkamp endet.2

Will man Fragen des Kanons und der Kanonisierung mit Lernenden reflektieren, kann man auch auf literarische Texte zurückgreifen, die selbst – explizit oder implizit – Kanonisierungsprozesse beobachten. So schlägt Wolfgang Hallet (2004: 227) für den fremdsprachlichen Englischunterricht die Arbeit mit Nick Hornbys Roman High Fidelity (1995) vor, dessen Protagonist Rob Fleming fortlaufend ‚bedeutsame‘ Texte, d.h. Popsongs für seine top five lists zusammenstellt. Damit tritt er auch „in einen Diskurs darüber ein, ob und warum ein bestimmter Text in einer bestimmten Weise kanonisiert werden, also Aufnahme in das kulturelle Archiv einer Gesellschaft finden soll“ (Hallet 2004: 226f.).3

Textbeispiel

Der Protagonist Christian Hoffmann in Uwe Tellkamps Bildungsroman Der Turm (2008) dagegen erspart sich den Umweg der Reflexion und des selbstbestimmten Auswählens. Auf dem Bildungsweg bzw. dem ‚Weg des Paukens‘, den er sich selbst als 17-jähriger Gymnasiast im Internat Waldbrunn im Erzgebirge verordnet hat, zählt er eine ganze Reihe an literarischen Texten von Mark Twain und Jules Verne über Goethe und Thomas Mann zu Tolstoi und Dostojewski auf, die es zu lesen gelte für das Ziel, ein „großer Mensch“ zu werden (Tellkamp 2008: 152ff.), vor allem aber fokussiert er auf die Quantität, nimmt sich die tägliche „Lektüre von mindestens einem Kapitel Weltliteratur“ (ebd.: 153) vor, „500 Seiten mußten es an freien Tagen sein“ (ebd.: 155). Selbstverständlich und unhinterfragt erscheint ihm, welche Bücher man gelesen haben müsse, sein Lesen ist eine unreflektierte Fortführung des Kanonisierungsprozesses, kein selbstbestimmtes Reflektieren über die persönliche Lektüre bereits kanonisierter oder nicht-kanonisierter Texte.

Weit entfernt von solchen quantitativen Eskapaden ist der Internatsschüler in Rosenheim im Alpenvorland, der 16-jährige Benjamin, der in dem Roman Crazy (1999) von Benjamin Lebert mit seinen Freunden eines Abends unerlaubt das Internat verlässt. Auf der gemeinsamen Zugfahrt nach München liest er ihnen aus Ernest Hemingways Der alte Mann und das Meer (1952) vor. Die Schüler sind begeistert, räsonieren über ihr eigenes Leseerlebnis und darüber, was gute Literatur ausmache. Dabei wird klar, dass sie selbst bisher überhaupt nur ein oder zwei Bücher gelesen haben.

Beide – Christian und Benjamin – sind nicht innovativ, sie orientieren sich am Kanon und schreiben ihn fort, ohne sich der Prozesse bewusst zu werden, in die sie mit ihrem Lesen involviert sind. Und – so könnte man fortfahren – indem wir diese Texte lesen, werden auch wir als Lesende in die weitere Kanonisierung der in den Romanen genannten Texte involviert.

Ein solcher Prozess lässt sich als invisible hand-Phänomen verstehen, wie es von Simone Winko für die Bildung eines Literatur-Kanons beschrieben wird (Winko 2002: 11):

Niemand hat ihn absichtlich so und nicht anders zusammengesetzt, dennoch haben viele ‚intentional‘ an ihm mitgewirkt. […] Er resultiert aus zahlreichen einzelnen Handlungen (Mikroebene), die jede für sich einen anderen Zweck haben als den, einen Kanon zu bilden, und die unter Ausnutzung allgemeiner Prämissen einen Prozess in Gang gesetzt haben, der ihn (auf der Makroebene) dennoch entstehen lässt.4

Man könnte das auch kritisch (oder affirmativ) auf den vorliegenden Band beziehen – auch er kann sich diesem Prozess nicht ganz entziehen. Bei einer ‚kanonsensiblen‘ Lektüre wird außerdem sichtbar, dass sich im Kontext Deutsch als Fremd- und Zweitsprache in der fachwissenschaftlichen Diskussion wie in der unterrichtlichen Praxis eine Art ‚heimlicher Kanon‘ gebildet hat. So werden in den verschiedenen Kapiteln dieser Einführung einige Texte immer wieder auftauchen, weil sie im Fach häufig für konzeptionelle Überlegungen sowie didaktische und methodische Vorschläge herangezogen werden. Das ist zunächst Goethes Wandrers Nachtlied (→ Kap. 6),5 ebenso Franz Kafkas Gibs auf! (→ Kap. 6, 8, 20),6 und Yoko Tawadas Von der Muttersprache zur Sprachmutter (→ Kap. 18).7 Ähnliche Texte sind Günter Eichs Inventur (→ Kap. 6)8 und Erich Kästners Als ich ein kleiner Junge war (→ Kap. 10).9 Zunehmende Aufmerksamkeit erhält auch Wolfgang Herrndorfs Tschick (→ Kap. 18, 13).10 Peter Bichsels Die Tochter11 gehört ebenso wie Texte der Konkreten Poesie seit über dreißig Jahren zum Repertoire von Lehrwerken für Deutsch als Fremdsprache, ebenso häufig sind Texte wie Erich Kästners Sachliche Romanze, Wolfgang Borcherts Das Brot, Bertolt Brechts Die unwürdige Greisin, Heinrich Bölls Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral, Federica de Cescos Spaghetti für zwei oder Märchen wie Rotkäppchen zu finden. Insbesondere in den Kapiteln 6, 7 und 8 unserer Einführung, die eine auch historische Perspektive auf das Fach werfen, und in Kapitel 20 wird deutlich, wie in verschiedenen Materialsammlungen, Lehrwerken und Fernstudieneinheiten immer wieder ähnliche Texte verwendet werden. Wie Irena Samide (2020) zugespitzt formuliert, „werden über Jahrzehnte meist die gleichen Texte herangezogen, so scheint sich in der Praxis ein Kanon für den DaF-Unterricht herausgebildet zu haben“ (ebd.: 167). Samide weist insbesondere auf lyrische Texte hin, allen voran Gedichte der Konkreten Poesie wie von Ernst Jandl (→ Kap. 6, 7), aber auch Liebesgedichte von Erich Fried und „Unterrichtsklassiker wie Goethes Erlkönig oder Heinrich Heines Lorelei“ (ebd., Hervorh. i.O.). Auch Gedichte von Robert Gernhardt sind häufig zu finden. In ähnlicher Weise wird ein ‚Filmkanon‘ sichtbar – zu ihm gehören Filme wie Schwarzfahrer (1992, R: Pepe Danquart), Sonnenallee (1999, R: Leander Haußmann), Good Bye, Lenin! (2003, R: Wolfgang Becker) und Das Leben der Anderen (2006, R: Florian Henckel von Donnersmarck).

Wichtig bleibt an dieser Stelle sicher noch festzuhalten, was Hartmut Eggert unter der Fragestellung Braucht man einen eigenständigen Kanon für „Deutsch als Fremdsprache“? schon 1995 formulierte:

„Was wir brauchen für den Literaturunterricht im Bereich ‚Deutsch als Fremdsprache‘, sind Kenner der deutschen Literatur und ihrer Geschichte, auch ihrer kanonischen Werke, damit sie gesprächsfähig und kooperationsbereit sind für Partner“ in aller Welt – „Was wir brauchen, sind aber auch Literaturvermittler, die über ein Bewußtsein von Kanonisierungsprozessen und der Wirkung von Kanones verfügen. Durch einen Kanon ist kein Bildungserlebnis dekretierbar […]. Ein Kanon ist ein Angebot zur kulturellen Auseinandersetzung […].“ (Eggert 1995: 207)

Literaturdidaktik Deutsch als Fremd- und Zweitsprache

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