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DIE PINGELIGKEIT
ОглавлениеIch vergötterte meinen Vater, und obwohl er wie alle Väter, die ich kannte, oft streng war und selbstverständlich auch mal schlug, hatte ich immer das Gefühl, dass er mich genau so liebte, wie ich war. Ich erinnere mich gut daran, wie er roch, wenn er mich morgens weckte, damit wir zusammen zum Morgengebet gehen konnten.
Wir schlichen uns aus dem Haus, setzten uns ins Auto und fuhren schweigend durch die Stadt zur Moschee, um uns dort unter die wenigen Leute zu mischen, die so früh da waren. Nach zwei Gebetsdurchgängen, ein bisschen ruhigem Beisammensein und dem Lesen einiger Suren kehrten wir wieder zurück. Wenn wir ins Haus kamen, war meine Mutter meist dabei, die Betten fein säuberlich aufzurollen und wegzuräumen.
Wenn mein Bruder es noch nicht geschafft hatte, lief ich schnell zum Bäcker und holte frisches Brot. Ich schaute zu, wie die Männer die Teigkugeln an die Innenwände des hohen, nach oben enger werdenden Tandurofens warfen und wieder rausholten, und naschte auf dem Weg zurück oftmals ein Stück des warmen, duftenden Brotes, bevor ich mich zu meinen Geschwistern zum Frühstücken auf den Boden setzte.
Im Sommer war es tagsüber brütend heiß in unserem Haus. Der Ventilator an der Decke lief ständig, und ein Klimagerät vor dem Fenster pustete heftig in den Raum. Wir stellten uns davor und ließen unsere Haare im Wind wehen und uns das Gesicht kühlen. Im Winter war es kalt und wir hockten nahe am Ölofen, wärmten unseren Tee oder legten ein Fladenbrot darauf.
Vor den Mahlzeiten achtete meine Mutter pingelig auf unsere Sauberkeit. Wir mussten die Hände waschen und vor allen Dingen darauf achten, dass kein Dreck unter den Fingernägeln steckte. Denn wenn die Fingernägel dreckig waren, konnte Satan sich darin verstecken.
Satan nutzte jede Gelegenheit, sich anzuschleichen. Wenn ich morgens mit Speichel auf den Lippen aufwachte, hatte Satan sie nachts angepinkelt und ich musste sie schnell sauber waschen. Die Zähne waren aber offensichtlich nicht sein Revier, ich kann mich nicht daran erinnern, dass wir als kleine Kinder jemals Zähne geputzt hätten.
Aber ich weiß noch sehr genau, als uns die Familie meines Onkels aus Deutschland besuchte und meine kleine Cousine abends eine Zahnbürste und einen Zahnputzbecher rausholte. Sie befüllte ihn mit Wasser und spülte sich damit den Mund.
»Warum trinkst du nicht aus dem Hahn?«, fragte ich sie.
»Weil man Wasser sparen muss«, sagte sie. Ich lachte, weil ich sowas Komisches noch nie gehört hatte. Wenn unser Wassertank voll war, lief es aus dem Hahn, und wir mussten es nicht sparen. Und wenn Wassermangel herrschte oder das Wasser dreckig war, blieb der Hahn zu. Dann kauften wir große Container mit Wasser und sparten es zum Trinken auf und bestimmt nicht, um uns damit nur den Mund auszuspülen.
Meine Cousine trug schon als kleines Kind eine Armbanduhr. Sie sprach kein gutes Sorani, konnte aber trotzdem die Namen aller Monate und redete viel über Zeit.
Wenn wir Zeit hatten, teilten wir sie gern. Doch Zeit schien bei ihr genau wie das Wasser etwas zu sein, das man nicht verschwenden durfte.
Selbst ihre Süßigkeiten teilte sie sich ein. Sie guckte sauer, wenn man sich welche davon nahm, so als ob sie sich keine nachkaufen könnte.
Dabei redete ihr Vater ständig davon, wie reich sie in Deutschland waren, und zeigte Fotos von seinem großen schwarzen BMW. In Deutschland war alles größer, schneller und besser als im Irak, erzählte er stolz von seinem Besitz. Vielleicht bekam man mehr Angst davor, etwas zu verlieren, je mehr man davon hatte.