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Auf zur Marmolada

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»Ah, la Marmolada!« – der fesche italienische Herr, mit dem wir am Würzjoch ins Gespräch kommen, hat auf einmal ein Leuchten in den Augen, wie es nur durch große, bedingungslose Liebe entstehen kann. »La Marmolada«, wiederholt er nochmals. Erst wollte er uns gar nicht glauben, dass wir nach Venedig wandern, und meinte, es handele sich um einen Hörfehler oder eigentlich um einen Aussprachefehler. Aber dann zählen wir ihm Etappenziele auf: Monaco, Innsbruck, Gran Pilastro, Val di Rienz, Passo Gardena, Marmolada. Zu Civetta, Belluno, Venezia kommen wir nicht mehr, die Tatsache, dass wir Richtung Marmolada gehen, nimmt ihn ganz gefangen. Zum schönsten Dolomitenberg. Mit seinem Gletscher und der herrlichen Aussicht. Er war auch mal oben, erzählt er uns und reckt den Brustkorb heraus, der heutzutage als Unterbau ein kleines Pastabäuchlein bekommen hat. Mit einem »Bellissima!« schickt er uns auf den Weg und macht noch eine großzügige Handbewegung wie der Patriarch, der dem Sohn das spätere Erbe zeigt.


Keineswegs bleich präsentiert sich die Sella im Abendlicht.

Seit zwei Tagen sind wir jetzt in den Dolomiten unterwegs. Doch die Strecke zwischen Pustertal und Würzjoch entspricht nicht dem klassischen Dolomitenbild. Viel eher hat man den Eindruck, man würde irgendwo im Mittelgebirge wandern. Viel Wald und liebliches Almgelände. Die großartigen Fernblicke stehen noch aus und die sagenhaften »bleichen Berge« sind viel zu grün.

Aber hier am Würzjoch tauchen wir erstmals in die »Faszination Dolomiten« ein. Zwischen dem felsigen Peitlerkofel und den Geislerspitzen führt der Weg hoch in die Peitlerscharte und quert in wunderschöner Landschaft zur altehrwürdigen Schlüterhütte. Groß ist die Versuchung, von der Scharte auf den Gipfel dieses aussichtsreichen Felskolosses weiterzusteigen. In immer stärker werdendem Wind kommen wir aber nur bis zum Beginn der Drahtseilversicherungen, dann beginnt es zu graupeln. Schade, zu Recht gilt der Peitlerkofel als einer der besten Aussichtsberge. Auch wenn nach fast zwei Wochen Wandern das Zeitgefühl anders geworden ist, wissen wir doch, dass wir einen Reservetag zur Verfügung haben. Mit diesem Wissen kann man einen Regennachmittag in den gemütlichen Lagern der Schlüterhütte gut überstehen. Nach dem Abendessen ziehen die Nebelfetzen an den Felswänden der Geislerspitzen hinauf – ein gutes Wetterzeichen und Grund zur Hoffnung.

»Ah, la Marmolada!«, denke ich am nächsten Morgen, als wir doch noch den Peitlergipfel erreicht haben. Dichte Wolken hängen am Südtirolhimmel. Immerhin ist von hier aus der wichtigste Gipfel zu sehen: la M … Doch bevor wir unter ihrer vergletscherten Nordflanke stehen, sind noch drei Wandertage zu bewältigen. Schwer vorstellbar ist, dass menschliche Füße in nur drei Tagen tatsächlich so weit wandern können. Dabei liegt der komplette Puez-Geisler-Stock vor uns und auch die Sellagruppe wird vom Graßlerweg gequert. Soll man jetzt demütig sein angesichts der gewaltigen Berge oder stolz auf die eigene Leistung? Eine gehörige Portion Glücksgefühl und die Vorfreude aufs zweite Frühstück in der Schlüterhütte überlagern diese Frage.


Die gewaltige Civetta spiegelt sich im Alleghesee.


Das darf nicht fehlen: Edelweiß am Wegesrand.

Auf und ab, immer wieder. Sieben Jöcher und Scharten gestalten den Weg durch den Naturpark Puez-Geisler zu einem menschlichen Jojospiel. Hier blitzen silberne Edelweißsterne aus dem Grün, ein paar Minuten später knirscht Geröll unter den Sohlen. Dort beäugen uns die weidenden Haflinger, als hätten sie seit Tagen keinen Wanderer mehr gesehen, drüben an der Puezhütte muss man 20 Minuten fürs Klo anstehen. Zumindest die Frauen. Sieben Stunden vergehen bei so vielfältigen Eindrücken wie im Flug. Außerdem sind alle gut drauf. Die italienischen Wanderer haben immer einen Scherz auf den Lippen, das Pärchen aus den Niederlanden kocht in der Scharte gerade seinen Mittags-Nescafé, und in der Forcella Nivea ertönt Beethovens Neunte als Klingelton. Und keinen stört’s. Das ist Urlaub pur.

Mit nur vier Stunden Tagesleistung ist der Aufstieg vom Grödner Joch zur Boéhütte eine der kürzesten Tagesetappen. Dafür ist der Steig recht anspruchsvoll, und vor allem die gute Stunde durchs Val Setus zur Pisciadùhütte kommt uns viel, viel länger vor. Bedrohlich rücken die Felstürme zusammen, sie lassen nur einen schmalen Durchschlupf, mit dem blauen Himmel als dünnem Band hoch oben.

Dann die Pisciadùhütte! Auf einem großen Plateau, mitten unter den senkrechten Wänden und den steilen Abbrüchen, an deren hinterem Ende der grüne Pisciadùsee liegt. Eine traumhafte Lage. Das ist der optimale Platz für einen Ruhetag. Dass die sechzehnte Etappe trotzdem erst an der Boéhütte endet, liegt vielleicht daran, dass es hier ebenso schön ist wie bei der Pisciadùhütte und zusätzlich der Piz Boé als Gipfel am Wegesrand bestiegen werden kann. Am Abend ein süffiger Rotwein zu einem wohlklingenden Altherrenchor am Nachbartisch, draußen Alpenglühen am Piz Boé, ein voller Nudelbauch und schwere Füße. Kann das Leben schöner sein?

Der Aufstieg zum Dreitausender Piz Boé ist nicht schwerer als der Hüttenaufstieg und der Ausblick fast so fantastisch wie vom Peitlerkofel. Ob man die 300 Höhenmeter am Abend oder am nächsten Morgen anpackt, bleibt jedem selbst überlassen. Ein weiterer Grund, den Boé nicht auszulassen, ist die Tatsache, dass am nächsten Tag nach der Querung der Felswüste am Sellaplateau nur noch der Abstieg zum Pordoijoch und der eben verlaufende Bindelweg anstehen. Eine gemütliche Etappe voller landschaftlicher Highlights. Das Wichtigste ist natürlich der Blick auf – richtig: la Marmolada.


Abendstimmung nahe der Coldaihütte mit Blick auf den schönsten Dolomitengipfel

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