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Im ruhigen Teil der Dolomiten

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Wer gemeint hat, nach der Marmolada seien die Dolomiten praktisch »aus«, hat sich gehörig getäuscht. Vom Fedajasee folgt der Weg anderntags dem rauschenden Wasser des Ru di Arei. Vereint mit dem Pettorina hat er die Sottogudaschlucht ausgeschürft. Sie bringt uns nach insgesamt 1100 Meter Abstieg nach Alleghe am gleichnamigen See. Der Wintersportort hat seine Eigentümlichkeit erhalten. Vor allem aber gibt es endlich wieder die Möglichkeit, die Vorräte aufzufüllen und in den Vorzügen der Zivilisation zu schwelgen: Stracciatella-, Tiramisù-, Bacio-Eis …

Alleghe wird der Ausgangspunkt für zwei Tage, die uns sogar noch besser gefallen als die bisherige Dolomitenetappe. Als gewaltige Felsmauer erstreckt sich südöstlich von Alleghe die Civetta mit ihren Nachbargipfeln. Ob man nun zum Rifugio Tissi mit direktem Blick auf diese Wand aufsteigt oder zum Rifugio Coldai und am nächsten Tag den »Überraschungseffekt« der Wand der Wände genießen will, ist Geschmackssache. Vom Rifugio Coldai kommt man jedenfalls nach einer kleinen Scharte zum prächtigen Coldaisee und wandert anschließend gut eine Stunde direkt unter der Civettawestwand hindurch. Eine Stunde, in der einem die eigene Bedeutung deutlich wird: Ameisen sind wir, winzig kleine und nach einem Wimpernschlag von Mutter Erde sind wir schon wieder vergessen.


Auch der südliche Teil der Civettagruppe präsentiert sich äußerst felsig.

Noch ganz benommen erreicht man um die Mittagszeit das Rifugio Vazzoler unter dem Torre Trieste. Ein rotes Dach, quietschblaue Fensterläden und viel leuchtend grüner Wald, das hat etwas so kindlich Verspieltes, dass die große Civetta nicht mehr bedrohlich wirkt. Auch nach drei Wochen gibt es noch anstrengende Wegabschnitte, obwohl die Kondition deutlich besser ist und der Muskelkater vergessen. Von der Vazzolerhütte windet sich der Weg einen Latschenhang hinauf. Nach Südwesten ausgerichtet, fängt er jeden Sonnenstrahl ein und blockt zugleich den leisesten Windhauch ab. Wie in der Sauna rinnt der Schweiß an den Schläfen herunter, tropft von der Nasenspitze, zeichnet dunkle Ränder auf T-Shirt und Shorts.


Ein farbenprächtiger Distelfalter in der Civetta

Die Hitze hat auch eine gute Seite. Als am späten Abend im Rifugio Tomè am Passo Duran das allabendliche Wettschnarchen im Lager einsetzt, packen wir eine der Matratzen und verschwinden damit in die laue Sommernacht. Fernab vom nächsten großen Ort leuchten die Sterne hier um die Wette. Immer ruhiger wird es, je weiter man nach Süden kommt. »Dolomiten« bedeutet meistens Drei Zinnen, Sella und Marmolada. Südlich davon stehen nur noch ein paar Weinberge mit Blick aufs Mittelmeer. Denkste! Die Civetta ist lediglich hundert Meter niedriger als die Marmolada und auch die Schiara erreicht nochmals 2500 Meter Höhe.

Dass die Berge weiter im Norden schöner seien, stimmt keinesfalls. Kein Wunder also, dass wir jetzt endlich den Ruhetag einschieben. Allerdings nur rein rechnerisch, indem wir die 21. Etappe auf zwei Tage aufteilen und im wunderbaren Rifugio Pramperet übernachten. Auf einer großen Almwiese steht diese sympathische Hütte. Wir lassen uns richtig verwöhnen. Überhaupt: Von dem Wegabschnitt zwischen Passo Duran und Belluno kann man nur ins Schwärmen kommen – die freundlichen Hüttenwirtinnen; das vorzügliche Essen, das sie in ihren kleinen, bescheidenen Küchen zaubern; die verschlungenen Wege durch dichte Buchenwälder und über steile Wiesenflanken; die bunten Schmetterlinge, wie sie im Aufwind flattern. Dann aber auch die Felsgipfel. Berge, die wir noch nie gesehen, Namen, die wir noch nie gehört haben. An der Forcella Moschesin treffen wir noch eine Gruppe Pfadfinder, zwischen Pramperet und Schiara begegnet uns niemand mehr. Das gewaltige Gewitter auf der Schiara-Nordseite. Schließlich die Schiara selbst. Ein mächtiger Felsstock mit großen Wandfluchten, durch die einige Klettersteige leiten. Ein paar Biwakschachteln dienen als Notunterkünfte und den Kletterern als Dach über dem Kopf. Für die Wanderer auf dem Graßlerweg liegt hier die letzte große Hürde. Es gilt nicht nur, die Klettersteigpassagen zu schaffen, sondern auch das Logistikproblem zu bewältigen. Schließlich macht es wenig Sinn, am Münchner Marienplatz mit Klettersteigset und Helm für den Tag Nr. 22 zu starten. Zwei Lösungen bieten sich an: Entweder man schickt die Ausrüstung zu den Unterkünften am Passo Duran voraus und nimmt sie dort in Empfang oder man umgeht diese schwierige Stelle durchs Val Vescova und wandert oder fährt im Tal nach Belluno. Wir entscheiden uns für die dritte Lösung, die Notlösung, nämlich die Steige ohne Ausrüstung zu begehen.

So oder so will die Schiaraüberschreitung gut geplant sein und man sollte sich darüber im Klaren sein, was einen erwartet, und wissen, was man sich selbst zutrauen darf. Lohnend ist der Weg über den Gipfel sehr wohl und schließlich ist es der letzte Tag auf dem Traumpfad, der durch eine wilde Dolomitenlandschaft führt. Am Rifugio 7°Alpini unter der Schiara-Südwand beginnt das Grün der Wiesen und der mediterranen Wälder. Die Gumpen des Baches laden zum Baden ein. Am Wegrand rascheln die Eidechsen im Laub und das Pink der Alpenveilchen leuchtet hervor. Spätestens in Belluno ist klar, dass das Ziel jetzt nicht mehr weit entfernt ist. Der Charme dieser Stadt ist ein Vorgeschmack auf das große Ziel: Venedig.


Wohl dem, der eine gute Karte hat – und sie auch lesen kann …


Der Markusplatz in Reichweite …

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