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Der Schlüssel in die Zukunft

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Ich kann mich nicht erinnern, dass ich mich mit meinem Vater jemals gestritten hätte. Bis auf dieses eine Mal. Es war eine Kleinigkeit. Die Rollen waren klar verteilt. Er arbeitete den ganzen Tag, kam spät nach Hause. Vielleicht fehlte mir manchmal eine Orientierung. Doch ich genoss diese große Freiheit und lernte von Kindheit an, mich selbst zu organisieren. Es gab keinen, der mir sagte, tu dies, tu das, erledige die Hausaufgaben, lerne für die nächste Klassenarbeit. Es lag einzig und allein an mir, in der Schule gut abzuschneiden. Oder eben nicht. Doch manche Dinge waren klar geregelt. Zum Beispiel, dass ich vor jedem Fußballspiel meine Schuhe zu putzen hatte. Grundsätzlich tat ich das auch. Dieses eine Mal aber eben nicht. Vielleicht wollte ich seine Reaktion testen. Die fiel pragmatisch und konsequent aus: »Ich fahre dich nicht!« Er gab mir noch eine Chance. Doch ich wollte die Schuhe noch immer nicht putzen. Also verpasste ich das Spiel.

Ich hatte Wut im Bauch. Dann eben nicht. Vor lauter Ärger schwänzte ich das nächste Training. Und das übernächste. Vier Monate spielte ich nicht mehr beim 1. FC Kaiserslautern. So verließ ich den Club in der B-Jugend. Aus einer Laune heraus zog ich beim 1. FC Kaiserslautern einen Schlussstrich – dabei kann ich mich heute noch daran erinnern, wie stolz ich war, als ich in der D-Jugend das erste Mal das Trikot der Roten Teufel überstreifen durfte. Nun trieb ich mich erst mal wieder auf den Bolzplätzen der Stadt herum.

Nach der achten Klasse war meine Versetzung stark gefährdet. Die Momente, in denen mich mein Vater an seinen Sorgen und Gedanken teilhaben ließ, waren selten. Doch dies war so ein Moment. Wir saßen beim Abendessen. »Wojtek«, sagte man Vater, und ich konnte schon am Tonfall erkennen, dass er es ernst meinte. »Wojtek, wenn du von der Hauptschule abgehst nach der Achten, dann musst du arbeiten.« Er machte eine Pause und sah mich direkt an. »Das mit dem Bolzen jeden Tag, das kannst du vergessen, wenn du arbeiten musst. Da läuft dann nicht mehr viel.« Ich schaute ihn fragend an. »Wenn du arbeiten musst, bleibt nachmittags keine Zeit mehr für das Fußballspielen. Sieh mich an: Habe ich etwa Zeit, jeden Mittag auf dem Sportplatz rumzuhängen?«

Bislang scherte ich mich wenig um die Schule. Doch mit einem Mal eröffnete mir mein Vater eine völlig neue Perspektive. Nicht, dass ich von einer großen Karriere träumte, als Rechtsanwalt oder Arzt oder so. Und von wegen »Du lernst nicht für die Schule, sondern fürs Leben«. Das interessierte mich alles nicht. Ich wollte einfach nur Fußball spielen. Die Schule schien plötzlich der Schlüssel zu sein, dafür überhaupt Zeit zu haben! Das notwendige Übel. Wollte ich weiter spielen, musste ich diesen Schlüssel nutzen. Mein Vater setzte noch einen drauf: »Wenn du die zehnte Klasse schaffst, dann bezahle ich dir ein Motorrad und den Führerschein.« Nach der mittleren Reife fuhr der weiße Afrikaner eine Aprilia RS 125.

Die Wette ging danach in eine neue Runde. Diesmal sollte es ein Auto sein. Und drei weitere Jahre Nachmittags-Fußball. Heinrich-Heine-Gymnasium, eine Eliteschule des Sports. Meine Begeisterung für den Sport war für mich ein Vorteil. Aber selbst das Fußballspielen konnte nicht die Lücken in Englisch und Mathe ausbügeln. Mein Ziel war es, zu bestehen. Zum ersten Mal musste ich richtig büffeln. Ich hatte in der Schule zu viel verpasst. Das galt es nun in kurzer Zeit aufzuholen. Doch am Ende fuhr ich einen Mazda MX-5 Cabrio.

Parallel dazu suchte ich wieder Anschluss an einen Verein, und zwar bei der SG Eintracht in Kaiserslautern. In meinem ersten Spiel dort erzielte ich nach fünf Minuten ein Kopfballtor und schoss ein zweites nach der Halbzeitpause. Meine afrikanischen Freunde aus der Uni jubelten mir zu, und in der Mannschaft fühlte ich mich zu Hause. Mein Kalender war jetzt voll: Schule, büffeln, Fußballspielen, Hausaufgaben. Schon als B-Jugendspieler unterstützte ich das A-Jugendteam bei seinen Ligaspielen, und mit einer Sondergenehmigung lief ich in der Landesliga für die erste Mannschaft auf. Mit den Großen mithalten – das hatte ich bei den Afrikanern gelernt. Die Wochenenden waren so stets mit bis zu drei Spielen völlig verplant: für die B-Jugend, die A-Jugend und die erste Garde. Auf dem Feld und im Team übernahm ich Verantwortung. Ich hatte mich rasch etabliert bei der SG Eintracht. Oder wie Jean es sagen würde: Mein Leben war in Balance.

Wie ich mein Bein verlor und so zu mir selbst fand

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