Читать книгу Wie ich mein Bein verlor und so zu mir selbst fand - Andreas Erb - Страница 8

Nichts als bolzen

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Nicht nur ich war fremd in Deutschland. Auch mein Vater war es noch immer, obwohl er schon einige Jahre hier lebte. Das wurde mir am ersten Schultag klar. Denn ich hatte bis dahin weder eine deutsche Staatsbürgerschaft, irgendein offizielles Dokument, noch war ich überhaupt in die Schülerlisten der Schule aufgenommen.

Am Morgen brachte mich mein Vater zur Bushaltestelle. Von da an war ich auf mich allein gestellt. Zum ersten Mal allein in der fremden Stadt. Ich versuchte mir die Busroute einzuprägen und zählte auf dem Weg in die Schule die Haltestellen. Dafür suchte ich einen Platz am Fenster. Offensichtlich eine falsche Wahl. Denn einem dicklichen deutschen Jungen, etwas älter als ich, schien meine Anwesenheit nicht zu gefallen. Er rempelte mich an. Ich blickte starr aus dem Fenster. Schließlich durfte ich die Haltestelle nicht verpassen. Drei Stationen hatte ich bereits gezählt. Wieder rempelte er mich an. Er deutete auf den Platz. Was er sagte, konnte ich nicht verstehen, also zuckte ich die Schultern. Ich blickte aus dem Fenster und zählte weiter. Die vierte Station.

Erneut rempelte er mich an. Wieder verstand ich nicht, was er sagte. Was ich aber verstand, war, dass wir uns zwar soeben erst begegnet waren, aber dennoch in diesem Leben wohl niemals Freunde werden würden. Wieder rempelte er mich an. Ich konnte ja kein Deutsch und gestikulierte dafür mit den Armen. Ich versuchte mich zu verständigen. Nochmal rempelte er – ich rempelte zurück. Sein Ellenbogen bohrte sich mit Wucht in meine Rippen. Und dann lernte ich meine ersten deutschen Wörter: »Scheiß Pole!«, schnauzte er mich an. Ich brach ihm zwei Finger. Seitdem hatte ich meinen Sitzplatz im Schulbus … und mein Vater bereits am ersten Schultag das Vergnügen, einen Anruf vom Direktor zu bekommen. Es sollte nicht der letzte sein.

Anfangs tat ich mich schwer mit der Sprache. Doch ich lernte schnell. Ich wollte dabei sein, wollte dazugehören in dieser neuen Welt. Respekt verschaffte ich mir rasch. Nicht durch Worte, denn die Grammatik beherrschte ich noch nicht so gut. Aber durch Taten. Der kleine Rabauke interessierte sich wenig für Regeln. Er war ja im Paradies. Mein Vater musste arbeiten, und ich konnte meinen Tag selbst bestimmen. Ich ernährte mich hauptsächlich von Süßigkeiten und Orangen. Wenn ich von der Schule nach Hause kam, verschwendete ich keinen Gedanken an Hausaufgaben, sondern warf den Schulranzen in die Ecke und lief auf den Fußballplatz. Hier war ich zu Hause. Hier konnte ich Freunde gewinnen. Hier konnte ich mich beweisen. Ich biss mich durch.

»Das ist nichts für dich.« Die Worte taten weh. Ich hielt mein Abschlusszeugnis der Grundschule in der Hand. Während die meisten meiner Freunde eine Empfehlung fürs Gymnasium bekamen, reichte es bei mir nur für die Hauptschule. Wegen einer Vier in Sachkunde. Auf einmal fand ich mich in einem völlig neuen Umfeld. Nur der Fußball blieb. Wie gewohnt trafen wir uns nachmittags auf dem Bolzplatz im Viertel.

In der Hauptschule wehte ein rauer Wind. Ich merkte schnell, dass man es hier als Einzelgänger schwer hat. Also suchte ich mir Bekanntschaften, und zwar gezielt. Ich verbündete mich mit den Stärkeren. Das erleichterte den Schulalltag. Die Schule war nicht der Ort, den man ohne Bauchschmerzen aufsucht. Das Wesentliche geschah nicht im Klassenraum, sondern auf dem Pausenhof. Ich lernte weniger Mathe als mich durchzusetzen, mich zu wehren. Stärker denn je zog es mich auf den Bolzplatz. Nur hier konnte ich befreit aufspielen.

An die Namen meiner Lehrer in der Hauptschule erinnere ich mich nicht mehr. Dafür an das Wappen meines ersten Vereins. Turn- und Sportgemeinde 1861 Kaiserslautern. E-Jugend. Ein stolzer Club. Doch irgendwann zog es mich zum 1. FC Kaiserslautern. D-Jugend. Nur wer in Kaiserslautern lebt, weiß um die Bedeutung dieses Traditionsvereins für die Identität der Menschen. Im Fußball finden sie in der Pfalz zueinander. Wenn die Roten Teufel samstags in der Ersten Bundesliga aufliefen, stand eine ganze Stadt still. Sie alle zog es zum Betzenberg, vereint in den rot-weißen Vereinsfarben. Zumindest war das früher so. Zwar spielte ich nur in der Jugend, doch ich fühlte mich diesem stolzen Verein zugehörig. Das rot-weiße Trikot war mein ein und alles.

An jedem Wochenende verfolgten wir Kinder mit Feuereifer die Spiele der Profis. Und wenn wir gerade selbst auf einem der Bolzplätze der Stadt kickten und unseren Idolen nacheiferten, hörten wir manches Mal vom Betzenberg die Chöre der Fans. An klaren Tagen legten sich die Gesänge wie ein Teppich über die Stadt Kaiserslautern. Bei lautem, spontanem Jubel wussten wir: Der FCK hat ein Tor geschossen. Fiel die Geräuschkulisse verhaltener aus, stand’s meist unentschieden, oder die Roten Teufel lagen gar im Rückstand. Während Pavel Kuka & Co. im Fritz-Walter-Stadion stürmten, in Bundesligapartien um Punkte rangen und im UEFA-Pokal den Namen Kaiserslautern in die Welt trugen, bolzten wir auf den Plätzen der Stadt.

Dabei brachte meine Mitgliedschaft im Verein einen nicht unerheblichen Vorteil mit sich: Als Vereinsmitglied konnte man damals mit seinem Aktivenausweis kostenlos zu den Heimspielen des 1. FC Kaiserslautern. So war ich Dauergast in Block 11, ab und an in Block 8. Dort sahen wir sie alle auf dem Rasen in unseren Farben: Pavel Kuka, Stefan Kuntz, Olaf Marschall, Ciriaco Sforza, Andreas Brehme, Miroslav Kadlec oder Gerald Ehrmann. Nur wer einmal bei einem Flutlichtspiel in der Westkurve gestanden hat und nach einem 0:2-Rückstand einen 3:2-Sieg feiern durfte, weiß, wie sich der Betzenberg anfühlt. Manche sagen, es sei ja nur Fußball. Klar, es ist Fußball. Aber nicht nur. Es ist Gemeinschaft. Es ist Erfolg. Es ist Niederlage. Es ist ein Spiel. Es ist das Leben.

Während meiner regelmäßigen Stadionbesuche fand ich schnell heraus, dass die Stadionordner zwischen der West- und Nordtribüne nach der Halbzeitpause abgezogen wurden. Das bedeutete, dass ich vom Fanblock aus einen unbehelligten Zugang zu den Sitzplätzen in der Nordtribüne hatte. Und dort war meistens etwas frei. Damals grenzten die Sitze unmittelbar an die Trainerbank. Von hier aus konntest du die Wucht spüren, mit der der Fuß gegen das Leder prallte, wenn sie auf dem Feld eine Flanke schlugen. Du konntest riechen, wenn sie beim Sprint den Rasen aufwirbelten. Und du konntest hören, wenn sie sich bei einem Zweikampf an den Trikots rissen oder was der Trainer seiner Mannschaft von der Seitenlinie zubrüllte. Und nach dem Abpfiff liefen sie hier alle an dir vorbei, die Athleten, die Helden, die Stars.

Es war das Spiel gegen Bayern. Natürlich ein Klassiker, vor allem auf dem Betzenberg. Kein Ordner weit und breit. Ich nahm mir ein Herz und kletterte über die Absperrung. Der Schiedsrichter hatte gerade abgepfiffen, die Mannschaften bewegten sich auf die Fantribüne zu. Ich war dabei. Einige der Athleten streichelten dem Jungen, der da plötzlich unter ihnen war, schmunzelnd über den Kopf, andere rempelten mich achtlos an. Und ich ergatterte mein erstes Trikot. Wahllos sprach ich den nächstbesten Spieler an. Andreas »ZickZack« Zickler. Zwar ein Bayern-Spieler, aber wenn man die Chance auf ein echtes Profi-Trikot hat, fragt man nicht nach den Vereinsfarben. Er gab er mir seinen Dress.

So ging das immer wieder. Manchmal wurde ich von einem Ordner erwischt, der mich an den Ohren zog und wieder in den Zuschauerraum zurückschickte. Aber meistens gelang es mir, nach dem Schlusspfiff unbemerkt aufs Feld zu huschen. Montags in der Schule war ich der Held, wenn ich dann mit dem ungewaschenen, verschwitzten Original-Trikot stinkend über den Pausenhof fegte. Woher ich die Trikots hatte, verriet ich selbstverständlich nicht. Schließlich sollte der Trick mit der Nordtribüne mein Geheimnis bleiben. Auch wenn ich mal mit meinen Freunden auf den Betzenberg ging, verließ ich spätestens in der zweiten Halbzeit stets heimlich die Gruppe, um meine Trikotjagd fortzusetzen.

Und ich hatte sie alle in der Sammlung: Pavel Kuka, Miroslav Kadlec, Andreas Zickler, Olaf Marschall. Sogar ein Trikot der Nationalmannschaft konnte ich ergattern. Am 18. Dezember 1994 spielte die deutsche Elf in der Qualifikationsrunde zur Europameisterschaft gegen Albanien in Kaiserslautern. Das deutsche Team ging früh durch einen Foulelfmeter von Lothar Matthäus in Führung, Jürgen Klinsmann sorgte fürs 2:0. Am Ende stand’s 2:1.

Wieder kletterte ich über den Zaun. Stefan Kuntz kannte ich bereits, dem Kaiserslauterer Stürmer war ich bei meiner Trikotjagd schon öfter begegnet. Also wandte ich mich an Thomas Helmer, zog an seinem Trikot, doch er schob mich beim Gang in die Kabine nur achtlos zur Seite. Stefan Reuter war der nächste, der an mir vorbei musste – wohl meine letzte Chance auf ein Trikot. »Herr Reuter, Herr Reuter!«, rief ich, und Stefan Reuter blieb stehen, »Herr Reuter, darf ich Ihr Trikot haben?« Stefan Reuter lachte. »Kleiner, nein, das geht nicht. Tut mir leid, ich möchte es selbst behalten.« Meine Träume vom echten Trikot der Nationalmannschaft zerplatzten. »Aber Herr Reuter … Es ist doch für meinen Bruder«, sagte ich weinerlich, »und mein Bruder ist behindert …« Stefan Reuter schüttelte den Kopf. Dann nahm er mich bei der Hand – »Komm mal mit« – und zerrte mich durch den Gang, in den Kabinentrakt, vorbei an Bundestrainer Berti Vogts, dem offensichtlich nicht ganz klar war, warum sein Mittelfeldspieler einen fremden Jungen mit in die Kabinen brachte. Aber er musste zur Pressekonferenz und verkniff sich die Frage.

»Warte kurz«, sagte Stefan Reuter und verschwand hinter einer Tür. Wenige Sekunden später öffnete er sie einen Spalt und lugte heraus. »Tut mir leid, keiner hat mehr ein Trikot.« Er drehte sich noch einmal um, und ich sah Lothar Matthäus neben ihm stehen. »Jungs, was ist jetzt, hat noch jemand eins?«, rief er in den Raum, doch außer Murren kam keine Antwort. »Sorry, Kleiner, du siehst es selbst, keine Chance«, sagte Stefan Reuter und wollte die Tür zur Mannschaftskabine schließen. »Aber … es ist doch für meinen behinderten Bruder«, setzte ich nach, und Reuter zog die Tür auf. »Ach, was soll’s, nimm es einfach mit.« Und ich hatte ein weiteres Trikot. Von Stefan Reuter. Meine Mitschüler beneideten mich.

Wie ich mein Bein verlor und so zu mir selbst fand

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