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Der 11. September 2001

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Schlafen konnte ich kaum. Um 5 Uhr morgens war ich längst hellwach und machte mich auf den Weg von Kaiserslautern nach Köln. Ich wollte nicht zu spät zum Training erscheinen. 10 Uhr war Treffpunkt in der Südstadt. Gegen 9 Uhr fuhr ich in Köln ein. Eigentlich war noch genügend Zeit, doch vor lauter Aufregung nahm ich die falsche Abfahrt. Total verfranzt in der Großstadt. Nicht, dass mein erstes Training am Kölner Verkehrschaos scheitert … Wo, bitte, geht’s zur Fortuna? 9.30 Uhr. Ohne Navigationssystem verloren in der fremden Metropole. Die Zeit wurde knapp. Ich durfte nicht zu spät kommen. Also hielt ich ein Taxi an und folgte ihm zum Trainingsgelände. Gerade noch rechtzeitig.

Da stand ich also und schleppte meine vollgepackte Sporttasche übers Gelände. Ich wollte nichts dem Zufall überlassen. Sicherheitshalber hatte ich alles in zweifacher Ausfertigung eingepackt. Handtücher, Stutzen, Trainingsklamotten. Die ersten Spieler waren bereits eingetroffen – deren Gepäck beschränkte sich auf einen kleinformatigen Kulturbeutel. Mit meiner monströsen Tasche fühlte ich mich wie ein Fremdkörper. Woher die wohl ihre Trainingsklamotten nehmen? Und ob die später duschen, so ganz ohne Handtücher?

Als ich den Kabinentrakt betrat, tauchte ich in eine neue Welt. Dort löste sich auch das Rätsel um die Kulturbeutel. Jeder Spieler hatte seinen Platz, und zu jedem Platz gehörte ein Paar sauber geputzter Fußballschuhe. Auf jedem Platz lag ein Trikotsatz, ordentlich zusammengelegt. Die Kölner Spieler mussten sich um all das nicht kümmern. In Grünstadt war das anders. Logisch, dass sie hier auch keine schwere Trainingstasche zu schleppen brauchten – schließlich war alles bestens vorbereitet. Von wegen Trikot-Waschdienst. So konnten sich die Profis ganz auf ihren Sport konzentrieren. Ich war fasziniert von dieser Welt. Hier drehte sich alles um den Fußball.

Training bei Fortuna Köln. Ich wollte beweisen, dass ich mithalten kann. Mehr noch: Ich wollte Uwe Fuchs beweisen, dass er gar nicht anders konnte, als mich ins Team zu nehmen. Ich wollte meinen Traum wahr machen. Ich hatte nur diese eine Chance. Das Training verlief wenig spektakulär. Es gab technische Übungen, Torschüsse wurden trainiert. Einige Male scheiterte ich am polnischen Nationaltorhüter Adam Matysek, der ebenfalls zeitweilig bei der Fortuna trainierte. Den späteren Bundesliga-Keeper Tim Wiese überraschte ich jedoch mit einem Tunnel-Schuss durch die Beine. Ich ging das Tempo mit, hängte mich rein. Doch letztendlich bot sich in der Trainingsstunde nicht die Möglichkeit, mit einer besonderen Aktion die nötige Aufmerksamkeit zu erregen. Es mangelte einfach an Spielsituationen, in denen ich meine Durchsetzungsfähigkeit hätte beweisen können.

Mir blieb nur die Möglichkeit, mit körperlicher Fitness zu punkten und meinen Ehrgeiz zu beweisen. Am Ende drehte die Mannschaft in zwei Gruppen ihre Runden um den Platz. Ausdauer war schon immer meine große Stärke. Ich startete in der zweiten Gruppe. Dabei merkte ich schnell, dass ich mehr Luft hatte als die anderen. Also schloss ich zur schnelleren Gruppe auf. Auch hier war meine Grenze nicht erreicht. Also lief ich und lief. Ich wirbelte um den Platz, als ginge es um mein Leben. Ich überrundete die Profifußballer – nur um Uwe Fuchs meinen Willen zu beweisen. Um ihm und mir zu zeigen, dass ich locker mithalten konnte bei den Kölner Kickern …

Während ich auf dem Feld um meine Zukunft rannte, unterhielt sich Uwe Fuchs aufgeregt mit einigen Zaungästen am Spielfeldrand. Sie gestikulierten hektisch. Plötzlich verließ der Trainer den Platz, aber die Mannschaft absolvierte ihr Programm nach Plan. Völlig ausgepumpt und voller Adrenalin plumpste ich schließlich auf die Bank in der Kabine. Ich hatte ein richtig gutes Gefühl. Ich war zufrieden. Nur schade, dass Uwe Fuchs meine Leistung nicht bis zum Ende hatte begutachten können.

Die Atmosphäre in der Kabine war angespannt, denn der plötzliche Aufbruch des Trainers sorgte in der Mannschaft für Gesprächsstoff. Einige Spieler fragten bei den Betreuern nach, andere sprachen mit den Fans am Spielfeldrand. Irgendwas musste geschehen sein. Auf einem Bildschirm in der Kabine flimmerte eine Nachrichtensendung. Irgendein Flugzeug stürzte da in irgendein Gebäude. Wieder so eine Katastrophe. Aber worüber sich die Mannschaft unterhielt, spielte für mich keine Rolle. Auch dieses Flugzeugding interessierte mich nicht. Ich hatte Leistung gebracht. Nun lag es an Uwe Fuchs, ob sich mein Traum erfüllen sollte. Ich ging duschen.

Die anderen Spieler hatten schon längst die Kabine verlassen, einige waren sehr rasch aufgebrochen, als ich noch immer auf der Bank in der Umkleide saß und wartete. »Nach dem Training unterhalten wir uns, warte auf mich«, hatte Uwe Fuchs am Morgen noch gesagt. Doch er kam einfach nicht. Vielleicht hatte er mich vergessen? Oder lag es an meiner Leistung? Dabei hatte ich doch ein Top-Pensum abgeliefert. Also blieb ich sitzen und wartete weiter. Eine halbe Stunde verging. Dann kramte ich meine schwere Sporttasche zusammen und verließ den Kabinentrakt.

Auf dem Weg nach draußen kam mir Uwe Fuchs entgegen. »Ah, da bist du ja«, sagte er. »Ja«, meinte ich und heuchelte ein Lächeln, »ich dachte schon, Sie hätten mich vergessen.« Uwe Fuchs winkte ab. »Nein, nein, es ist nur die Sache mit den Flugzeugen. Ich habe Freunde in New York und wollte sicher sein, dass ihnen nichts passiert ist.« Ich verstand nicht, was es mit diesen Flugzeugen auf sich hatte, New York war mir fern. »Aha«, sagte ich und nickte nur.

Uwe Fuchs kam zur Sache. »Du hast sehr gut trainiert«, setzte er an. »Du hast die Erwartungen übertroffen. Was ich von dir gesehen habe, hat mir sehr gut gefallen.« Dabei hatte er ja längst nicht alles gesehen auf dem Feld … Er machte eine Pause, dann: »Nur … das Problem ist das Geld …« Und bevor er mir deswegen eine Absage erteilen konnte, fiel ich ihm ins Wort: »Alles, was ich will, ist ein Ball, was zu essen und hier Fußball spielen!« Mein Traum sollte doch nicht am Geld zerplatzen. Schließlich stand mein Plan mit dem Rettungsdienst und der Sporthochschule. Ich würde schon über die Runden kommen. Die sollen mich einfach nur Fußball spielen lassen!

Uwe Fuchs sah mich irritiert an. »Alles, was ich will, ist ein Ball, was zu essen und hier Fußball spielen«, wiederholte ich, etwas weniger forsch. Ich sah Fuchs zum ersten Mal grinsen. »Das sollte machbar sein«, meinte er. Die Zusage stand. Handschlag. Ich hatte meinen ersten Profivertrag in der Tasche. Das war Dienstag. Auch eine Bleibe in Köln hatte ich schon in Aussicht: »Der Verein regelt das«, sagte Uwe Fuchs. »Ab Montag bist du Teammitglied beim SC Fortuna Köln. Herzlichen Glückwunsch.« Mein Traum war erfüllt. Dazu die Zusage der Deutschen Sporthochschule. Alles fügte sich zusammen. Alles ergab einen Sinn. Mein Leben war perfekt.

Ich stieg ins Auto. Zurück nach Kaiserslautern. Ich flog über die Autobahn. Die Welt gehörte mir. Der 11. September 2001 war mein Glückstag. Als ich zu Hause ankam, saß meine Freundin Jenny heulend vor dem Fernseher. Immer wieder flimmerten die Bilder zweier Flugzeuge über den Schirm, die ins World Trade Center krachten.

Wie ich mein Bein verlor und so zu mir selbst fand

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