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Der »weiße Afrikaner«

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In der Schule lief’s nicht so rund. Wenn ich mit meinen neuesten Trikot-Trophäen auftrumpfte, schüttelten meine Lehrer nur den Kopf. »Der Junge hat bloß Fußball im Kopf«, beklagten sie sich einmal bei meinem Vater. Doch mein Vater zuckte nur die Schultern. Was hätte er auch sagen sollen? Er musste arbeiten. Sein Sohn musste allein zurechtkommen. Und wenn er sich da eben mit Fußball beschäftigte – was sollte daran so falsch sein?

Unsere Wohnung befand sich im Wohnviertel rund um die Universität. Die wenigen Bolzplätze, die es in der Nachbarschaft gab, waren nachmittags von Studenten belegt. »Du bist viel zu klein.« Die meisten schickten mich weg, wenn ich nach Mitspielern suchte. Einmal kickte ich allein auf dem Platz, als die Afrikaner aufkreuzten. Ich stellte mich schon darauf ein, wieder weggeschickt zu werden, als mir einer der Studenten einen Ball zuspielte. So begegnete ich Jean Morell.

Mit den afrikanischen Studenten lernte ich erst wirklich, wie man Fußball spielt. Nicht taktisch nach System, auch nicht mit feinster, filigraner Technik. Sondern mit Herz und Kampf, mit Leidenschaft und Spielfreude. Körperlich waren mir die Studenten natürlich alle überlegen. Halte mit oder geh’ woanders spielen – das war der Deal. Aber ich hielt mit, ich biss mich fest, ich kämpfte um jeden Ball. Meine Knie bluteten, weil ich mich von meinen überlegenen Gegnern nicht abschütteln lassen wollte, aber dann doch den Kürzeren zog. Meist blieb ich der Unterlegene. Doch ich wollte dabei sein, darum blieb mir gar nichts anderes übrig, als mich von den Älteren, Größeren und Stärkeren vermöbeln zu lassen. Und ich kam immer besser ins Spiel.

Während ich nachmittags in den Zweikämpfen mit den afrikanischen Studenten gefühlte Weltmeistertitel errang, sackte ich in der Schule ab. Auf dem Pausenhof waren Rangeleien an der Tagesordnung. Die schriftlichen Tadel fischte ich aus dem Briefkasten, bevor mein Vater davon Wind bekam. Mit einer krakeligen Unterschrift an der Stelle, an der mein Vater hätte unterschreiben sollen, sandte ich sie einfach wieder zurück an die Schule. Und am Nachsitzen störte mich eigentlich nur, dass ich mich in dieser Zeit nicht auf dem Sportplatz herumtreiben konnte. Meine Verhaltensnote in der Hauptschule stand von Anfang an fest: die schlechteste, die es gab.

Mein Vater machte sich große Sorgen um mich, in schulischen Belangen konnte er am Ende aber wenig helfen. Derweil hatte ich in dem lebenslustigen Jean Morell, der mir schließlich auch in Mathe und Englisch Nachhilfestunden gab, ein Vorbild gefunden. Jean hatte bereits gefühlte 30 Semester studiert. Nur nichts überstürzen, war sein Motto. Mit sich und seinem Leben war er im Einklang. »Wieso später? Egal wann, es geht um die richtige Balance«, philosophierte er, wenn ich ihn fragte, was er denn später mit seinem Leben anstellen wolle. Zu ihm entwickelte sich eine Freundschaft, die über den nachmittäglichen Kick hinausging. In einem Alter, in dem wir in der Schul-Clique begannen, uns für Zigaretten, Alkohol und Drogen zu interessieren, gaben mir die Afrikaner einen gewissen Halt.

Obwohl ich eigentlich keinen Zugang zu den universitären Sportstätten hatte, schmuggelte Jean mich immer wieder auf das Uni-Gelände. Der Grünschnabel, der da bei den Afrikanern regelmäßig mittrainierte, wurde anfangs argwöhnisch beäugt. Dem Leiter des Hochschulsports war ich ein ständiger Dorn im Auge, doch irgendwann war er es leid, mich immer wieder erfolglos vom Gelände zu verscheuchen. Thomas Woll war ein ehemaliger Handballer, ein großer Kerl, gutmütig und nachsichtig. Als er mich zum fünften Mal auf dem Gelände erwischte und sah, dass ich längst Teil der afrikanischen Studentenmannschaft war, kam er auf mich zu: »Ach, Junge, spiel doch einfach mit, was soll’s schon. Übrigens: Ich bin der Buddy«, sagte er. Damit wurde ich endgültig Teil der afrikanischen Löwen-Truppe. Ich erhielt den Ehrentitel »Der weiße Afrikaner«.

Selbst bei einer Uni-Meisterschaft lief ich im Trikot der »Lions« auf. Die Atmosphäre war aufgeheizt: Auf der einen Seite der deutsche Favorit, die »Tornados«, auf der anderen Seite die afrikanischen Underdogs mit ihrem jugendlichen Stürmer, dem »weißen Afrikaner«. Mittlerweile hatte ich längst gelernt, mich gegen die älteren Spieler zu behaupten. Ich wurde zum Aktivposten im »Lions«-Spiel. Was auch die »Tornados« erkannten. Darum machten sie mich zum Zankapfel, als beide Mannschaften ins Finale einzogen. Sie warfen unserer Mannschaft Wettbewerbsverzerrung vor, da ich ja eigentlich nicht zur Uni gehörte. Die »Tornados« wollten also das Finale am grünen Tisch für sich entscheiden. Die Turnierleitung jedoch setzte sich darüber hinweg und bestand auf der Austragung des Endspiels. Die Situation entspannte sich dadurch natürlich nicht, erst recht nicht, als ausgerechnet ich die »Lions« in Führung schoss. Und als ich auch noch vor dem Top-Scorer der »Tornados« die Torschützenkrone gewann, waren Sieg und Genugtuung perfekt. Ich war endlich angekommen in diesem fremden Deutschland. In einer afrikanischen Fußball-Mannschaft.

Wie ich mein Bein verlor und so zu mir selbst fand

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