Читать книгу Wie ich mein Bein verlor und so zu mir selbst fand - Andreas Erb - Страница 6
KAPITEL 1
Durchboxen im Schlaraffenland Schöne, neue Welt
ОглавлениеFußball war mein Leben. Das Spiel, die Gier, die Energie, der Wettkampf, Sieg oder Niederlage – das pralle Leben auf grünem Rasen. Das bloße Kicken. Das Bolzen bis in die Abendstunden, dem nur die Dunkelheit ein Ende setzen kann. Das Zusammenspiel mit Freunden. Der verbissene Zweikampf, das instinktive Lernen technischer Finessen beim gnadenlosen Schlagabtausch mit dem Gegner. Das Überwinden körperlicher Grenzen. Der ungewisse Ausgang. Jene besonderen Momente, die eine Partie in Sekundenbruchteilen drehen. Jene Momente, die Helden hervorbringen – und Verlierer. Die Chancenlosen, die plötzlich zu Siegern werden. Der Wahnsinn, ein ganzes Spiel allein zu entscheiden. Die Magie, gemeinsam zu gewinnen. Und die Magie, gemeinsam zu verlieren. Alles ist möglich.
Fußball war mein Leben. Eigentlich schon immer. Schon damals, in der Plattenbau-Siedlung im polnischen Wodzisław Śląski. Alles drehte sich nur um den Ball. Nicht weit von unserer Wohnung gab es einen Bolzplatz. Vom Küchenfenster aus hatte man die rostigen Torgestelle immer im Blick. Dort verbrachte ich meine Kindheit. Und wenn sich in der Nachbarschaft niemand fand, der mit mir gegen einen Ball treten wollte, dann tat ich das eben allein. Eine Wand fand sich immer. »Ruhe da unten!«, hörte ich manchmal einen älteren Mann rufen, wenn der Fußball allzu heftig gegen das Tor schepperte. Ich ließ ihn rufen.
Wenn ich nicht zu Hause bei meiner Mutter war, besuchte ich meine Großeltern, die Eltern meines Vaters. Bereits vor meiner Geburt hatten sich meine Eltern getrennt. Mein Vater war ausgewandert. Weg aus Polen. Nach Deutschland. Ab in den Goldenen Westen. Sein Glück versuchen. Wenn ich an meinen Vater denke, denke ich zuerst an all die Päckchen und Pakete, die er uns aus der Ferne nach Polen schickte. Päckchen, die von einer besseren Welt kündeten. Von Reichtum und Wohlergehen. Von einem geheimnisvollen Paradies, jenseits unserer ärmlichen Plattenbau-Siedlung. Wie er wohl so war, mein Vater? Was tat er, wenn er nicht Päckchen für uns packte?
Das sollte ich schließlich erfahren. 1988, ich war acht Jahre, verabredete meine Mutter mit ihm, dass meine Schwester Asia und ich ihn kennenlernen sollten. In Polen ging ich gerade in die erste Klasse. In meinen ersten Ferien sollte ich nun also meinen Vater besuchen. Irgendwo in Deutschland. Die längste Reise meines Lebens. Schon Tage zuvor konnte ich kaum schlafen vor Aufregung. Die Koffer waren längst gepackt. Deutschland? Der Westen? Darüber sprach man oft in Polen. Eine andere Welt. Die Welt meines Vaters, den ich noch niemals gesehen hatte.
Früh am Morgen brachen wir auf. Meine Reise begann. Die Fahrt zur Grenze erschien wie eine Ewigkeit. Dort sah ich ihn zum ersten Mal: An der Grenze wartete er auf Asia und mich. Wir stiegen aus. Da stand er also, mein Vater. Ich hatte ihn mir irgendwie größer vorgestellt. Wie ich ihn begrüßen sollte, wusste ich nicht. Hätte ich ihn auf der Straße getroffen, mir wäre nie in den Sinn gekommen, dass dieser fremde Mann mein Vater sein könnte. Ich huschte schnell um das Auto herum. Während mein Onkel die Taschen im Kofferraum verstaute, saß ich längst auf der Rückbank.
Auf dem Weg reden wir nicht viel. Ein wenig übers Wetter – dass es in Deutschland gerade sehr warm ist, ungewöhnlich warm. Und ob wir denn auch einen Pullover dabei haben, falls es doch mal etwas kälter werden sollte in den Abendstunden. Auch wenn dies nicht abzusehen sei. Nur sicherheitshalber, damit wir nicht frieren, Kinder sind ja doch recht schnell erkältet. Was hat man sich auch sonst zu sagen, wenn man zum ersten Mal aufeinandertrifft und plötzlich einen fremden Mann nun Vater nennt? Man fährt einfach. Über die deutsche Autobahn. Immer weiter. Bis Kaiserslautern. Schöne neue Welt.
Ich staunte nicht schlecht, als mein Vater die Wohnungstür aufschloss. In Polen gab es nicht viel. Zu besonderen Anlässen wie Weihnachten vielleicht mal eine Orange. Mein Vater hatte einen ganzen Obstkorb auf dem Tisch in der Küche. Äpfel, Bananen, Birnen, Orangen, Zitronen. Und das einfach so, ohne Weihnachten. Im Kühlschrank vier Tafeln Schokolade. »Greift zu«, sagte mein Vater. Und das tat ich. Als gäbe es kein Morgen mehr. Weihnachten ist jetzt. Alles auf einmal und noch mal von vorne – nur immer rein damit. Als müsste ich einer Hungersnot zuvorkommen. Durcheinander, querbeet, hier gab’s ja alles in Hülle und Fülle. Der Westen – ein Schlaraffenland. Irgendwann war mir schlecht, und ich musste kotzen. Meine Schwester schüttelte den Kopf. Mein Vater lachte.
Ich war angekommen. In Deutschland. Bei meinem Vater. Schon am ersten Abend wusste ich: Hier wollte ich nicht mehr weg. Der Sommer verging viel zu schnell. Als sich die Ferien dem Ende zuneigten, nahm ich all meinen Mut zusammen. Ich fragte meinen Vater, ob ich denn vielleicht auch bleiben dürfe. Ich war ja erst wenige Wochen hier. Aber mein Vater war LKW-Fahrer, er arbeitete von morgens um 6 bis abends um 18 Uhr. Wie sollte das funktionieren? Für die Sommerferien hatte sich mein Vater extra Urlaub genommen, um Zeit mit uns verbringen zu können. Aber wer sollte auf den Jungen aufpassen, wenn er seiner täglichen Arbeit nachging? Wie sollte sich der Junge zurechtfinden in der neuen Welt, ohne ein Wort Deutsch zu sprechen? Mein Vater lachte nicht mehr. Er grübelte. Seine Freundin war sowieso dagegen.
Die Chemie zwischen ihr und mir stimmte von Beginn an nicht. Einen Kuchen hatte sie gebacken. Ich zog meinen Finger durch die Glasur. Ihr verdammtes Kuchenkunstwerk war zerstört. Volltreffer. Doch mein Vater fand das gar nicht witzig. Sie auch nicht. Es wurde laut. Das hatte ich nicht gewollt. Er traf eine Entscheidung: »Wojtek, du musst zurück nach Polen«, sagte er. Meine Welt brach zusammen. Meine schöne, neue Welt.