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Das Abschiedsspiel

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Beim VfR Grünstadt hatten wir bis dato eine sehr gute Saison gespielt. Ich fühlte mich wohl in der Mannschaft. Doch Köln bot mir neue Chancen. Fürs Probetraining bei der Fortuna nahm ich mir in Grünstadt frei. »Und, wie war’s gestern in Köln?«, wollte Günter Christ gleich wissen, und ich erzählte ihm von meinem Erfolg. Dass einer seiner Schützlinge den Sprung ins Profigeschäft schaffte, machte meinen Trainer stolz. Dennoch ließ er mich nur schweren Herzens ziehen. Wir waren ein gutes Team. »Dann machen wir unser nächstes Rundenspiel zu deinem persönlichen Abschiedsspiel. Was hältst du davon?« Bevor ich also am Montag meinen Dienst in Köln antreten sollte, würde es am Wochenende im Rundenspiel gegen den SV Niederauerbach meinen großen Abschied geben.

Alle waren sie gekommen, um mein letztes Spiel zu feiern. Das letzte Spiel im Amateurkader des VfR Grünstadt. Die Lokalpresse bekam Wind davon, dass einer der heimischen Fußballer demnächst einen Profivertrag unterschreibt. Vom »Fußballtalent« schrieb die örtliche Tageszeitung »Rheinpfalz«. Die Sportredaktion widmete dem Abschiedsspiel eine ausführliche Vorberichterstattung. »Komm, wir fahren zum Spiel. Vielleicht ist es das letzte Mal, dass wir Wojtek spielen sehen – schließlich ist er ab Montag in Köln«, sagte Jenny, bevor sie sich mit ihrer Mutter auf den Weg nach Grünstadt machte. Sie wollte mich überraschen. Die räumliche Distanz zwischen Köln und Kaiserslautern würde unsere Beziehung sicher vor eine neue Herausforderung stellen – vielleicht war dies unsere letzte Gelegenheit, gemeinsam nach einem Fußballspiel zu feiern.

Eigentlich rechnete ich nicht damit, in der Startformation aufgestellt zu werden. Es war eine brisante Partie, der Zweite gegen den Tabellendritten. Da durfte man sich keine Schnitzer erlauben, und es brauchte Spieler, die nicht nur physisch, sondern auch mental in Top-Verfassung waren. In meiner Vorfreude auf Köln waren meine Gedanken jedoch längst nicht mehr ausschließlich auf Grünstadt fokussiert. Dennoch setzte der Trainer sein Vertrauen in mich, und ich spielte von Beginn an.

Anpfiff. Die erste Halbzeit war arm an spektakulären Situationen. Die Begegnung der beiden Mannschaften gestaltete sich als unterdurchschnittlich spannend. Ein mehr oder weniger belangloser Kick, wie er Woche für Woche tausendfach auf deutschen Sportplätzen ausgetragen wird. Ein torloses Geplänkel zweier ebenbürtiger Mannschaften, die sich gegenseitig neutralisieren. Lediglich einmal wurde es brenzlig. Wir im Sturm, Flanke, ich im Fünf-Meter-Raum hoch zum Kopfball. Gerangel mit dem Torwart. Er beschwerte sich beim Schiedsrichter. »Ei, was bist denn du für ne Pussy?«, rief ich ihm hinterher. Der Schiedsrichter pfiff zur Pause.

Zweite Halbzeit. Jetzt musste es klappen. In der Kabine hatte uns der Trainer angestachelt. Auch ich fühlte mich bei der Ehre gepackt: In meinem letzten Spiel im Grünstädter Trikot sollten wir doch als Gewinner vom Platz gehen! Die Mannschaft war heiß. Anstoß. Ich sprinte in den freien Raum. Ein langer Ball. Perfekt in meinen Lauf. Ein kurzer Haken, und ich schüttle meine Gegner ab. Frei vor dem Torwart. Der Keeper stürzt aus seinem Kasten. Der Ball zwischen mir und ihm. Wer die Kugel zuerst erreicht … Ich lege noch eine Schippe drauf. Ziele auf den Ball, gebe alles, um ihn zu erreichen. Doch zu spät. Der Torwart ist schneller. Er wirft sich mir in den Lauf, greift nach dem Leder. Situation bereinigt. Vor mir der Keeper mit der Kugel. Ich suche einen Ausweg, will ausweichen, setze zum Sprung an. Über den Torwart. Unsere Blicke treffen sich. Diesen Ausdruck vergesse ich nie: In seinen Augen ist absolute Entschlossenheit. Mit allen Konsequenzen. Ich weiß: Jetzt zahlt er mir die »Pussy« heim. Die Rache für einen blöden Spruch. Er streckt sein rechtes Bein aus. Ich bin in der Vorwärtsbewegung, sehe sein Bein auf meines zukommen, versuche mich zu drehen, die Kollision zu vermeiden. Es gelingt mir nicht. Mit voller Wucht trifft er mein linkes Knie. Mein Unterschenkel schnappt nach hinten und wieder zurück. Etwas reißt.

Das Knie schwillt an. »Warum hast du das getan?« Das Publikum wie erstarrt. Totenstille in der Arena. Schockstarre auf dem Fußballplatz. Ich schreie: »Warum hast du das gemacht?«, dann geht der Tumult los. Meine Mannschaftskameraden stürmen auf den Schiedsrichter ein. Ich sehe meinen Trainer, wie er aufs Spielfeld rennt und einen Platzverweis fordert. Der Torwart kickt den Ball ins Aus, das Spiel ist unterbrochen, und der Schiedsrichter entscheidet für Einwurf. Die Teambetreuer kommen aufs Feld. Eine Menschentraube bildet sich um mich.

Ich weine, brülle, schreie. Meine Gedanken kreisen um Köln. Wie komme ich nur zur Fortuna? Auf dem Wohnzimmertisch daheim liegt der unterschriftsreife Vertrag. Nur die sportärztliche Untersuchung steht noch aus. Ich taste mein Knie ab – die Untersuchung kann ich jetzt wohl vergessen. Verdammt, wie komme ich am Montag nach Köln? Vielleicht kann mich Jenny hinfahren. Dann kann ich wenigstens schon mal meine Bude beziehen und den Campus der Deutschen Sporthochschule erkunden. Mit leichtem Training klappt es vielleicht auch. Und Uwe Fuchs sage ich dann, dass ich in ein, zwei Wochen wieder fit bin. Das versteht er schon. Ich lasse mir mein Leben doch nicht von so einer Pussy zerstören!

Von überall reden sie auf mich ein. Der Schiedsrichter gibt die Anweisung, mich hinter die Toraus-Linie zu verfrachten, damit er das Spiel fortsetzen kann. Ersatzspieler, Betreuer, Anhänger – Dutzende stehen um mich herum. Jeder mit einer anderen Meinung. Jenny bringt meine Tasche aus der Kabine. Mein Unterschenkel schwillt an. Ein Krankenwagen fährt aufs Sportgelände. Meine Gedanken drehen sich um Köln. Mein Knie wird immer dicker. Gehen ist unmöglich. Ich fühle mich verloren. »Ich bin bei dir«, sagt Jenny. Was wird jetzt aus Köln?

Wie ich mein Bein verlor und so zu mir selbst fand

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