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Frühformen der Forschung in der Geografie
ОглавлениеDer enge Literaturbegriff und die Geografie
Prutz’ Konzeption einer politisch-sozialen Verortung der Reiseliteratur als Medium aktueller Zeitgenossenschaft in europäischem Maßstab blieb jedoch ohne jegliche Breitenwirkung in den philologischen Wissenschaften. Hier unterband der „enge“, also der allein an der Klassik entwickelte Literaturbegriff die Wahrnehmung des Genres, das als reines „Gebrauchsschrifttum“ oder fachbezogene „Zweckform“ galt, die aus dem Kanon der „schönen“ Literatur als gänzlich „undichterisch“ heraus fiel. Die kritische Beschäftigung mit dem gesamten Spektrum der Reiseliteratur überließ man den Bibliografen und Geografen. So verzeichnete der Leipziger Verleger Wilhelm Engelmann (1808–1878) in seinem monumentalen, über 1.200 Seiten starken Katalog Bibliotheca geographica (1858) alle in Deutschland erschienenen Reiseberichte aus dem Zeitraum 1750 bis 1856 (fortgesetzt von Paul Emil Richter bis in die 1890er Jahre, 1896/97). Auf der anderen Seite schrieb der ebenfalls in Leipzig ansässige Geografieprofessor Friedrich Ratzel (1844–1904) rund 150 einprägsame und noch heute lesenswerte wissenschaftsgeschichtliche Artikel zu neuzeitlichen Geografen und Reiseautoren für die Allgemeine deutsche Biographie (1875–1912), dem biografischen Standardwerk seiner Zeit, während der Geografielehrer Friedrich Embacher (1846–1884) ein Lexikon der Reisen und Entdeckungen (1882) zu den Forschungsreisenden aller Zeiten und zur Entdeckungsgeschichte einzelner Erdteile vorlegte. Eine bis in die Gegenwart nützliche Darstellung zum Thema Deutsche Reisende des sechzehnten Jahrhunderts (1895) veröffentlichte der Ratzel-Schüler Viktor Hantzsch (1868–1910). Dass die Fachdisziplin Geografie für mehr als ein halbes Jahrhundert zur Leitwissenschaft bei der Erforschung der Reiseliteratur aufstieg, geht auf den genannten Literaturbegriff der philologischen Fächer zurück, zum anderen aber zeigt der Sachverhalt, dass die Gattung vom Beginn ihrer Erforschung an als Gegenstand verschiedener Wissenschaften angesehen wurde. Zwar arbeitete man in dieser Epoche noch nicht interdisziplinär zusammen, doch zog die Reiseliteratur u.a. das Interesse der Geografie, der Kartografie, der frühen Soziologie sowie der Geschichts- und Bibliothekswissenschaft auf sich – und nur am Rande das der Literaturgeschichte.