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Die Reiseforschung im Zeichen eines erweiterten Literaturbegriffs

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Neuer Literaturbegriff

Sommerfelds Pionierstudie ist zwar von der Mediävistik, nicht aber von der allgemeinen Literaturwissenschaft seiner Zeit rezipiert worden. Erst mit der Erweiterung des traditionellen Literaturbegriffs im Gefolge des hochschulund kulturpolitischen Aufbruchs der Studentenbewegung von 1968 erschien es möglich, sich auch mit den pragmatischen und didaktischen Prosagattungen der deutschen Literatur zu befassen. Im Zuge dieser Entwicklung wandte man sich nun auch der Reisebeschreibung zu. Der Beginn der modernen historischen Reiseforschung ist jedoch auf die Jahre um 1980 zu datieren. Zu diesem Zeitpunkt verdichteten sich verschiedene Forschungsaktivitäten zu einem neuen Impuls der interdisziplinären Untersuchung der Reisetätigkeit unterschiedlichster sozialer Gruppen in der Neuzeit. Zwei wegweisende Tagungsbände, die zu den Gründungsakten der historischen Reiseforschung zählen, zeigten die sozial-, kultur- und mentalitätsgeschichtlichen Dimensionen des Reiseverhaltens in der Frühen Neuzeit auf (Krasnobaev u.a. 1980; Ma¸czak/Teuteberg 1982). Es verwundert nicht, dass dabei vorwiegend die Reiseliteratur des 18. Jahrhunderts in den Mittelpunkt rückte, da das Genre im Zeitalter der Aufklärung einen immensen quantitativen und qualitativen Aufschwung nahm und als Medium des Kultur- und Wissenstransfers große öffentliche Wertschätzung erlangte. Der neue Forschungsansatz einer Sozialgeschichte der deutschen Literatur mit kommunikations- und mediengeschichtlichen Erkenntnisabsichten fand in der Aufklärungsepoche mannigfache Anknüpfungspunkte, nicht zuletzt in der Reiseliteratur.

Innovative Studien

Bemerkenswert ist die Vielfalt der beteiligten Fachdisziplinen, die im Zuge dieses Neuansatzes der historischen Reiseforschung mit bis dahin unbekannten Ergebnissen hervortraten. So legte der Komparatist Ralph-Rainer Wuthenow eine Überblicksdarstellung zu den Europa- und Überseereisen der Aufklärung vor (Wuthenow 1980), während der Literaturhistoriker Wolfgang Griep sich in einem bis heute lesenswerten Handbuchartikel der deutschsprachigen sozialkritischen Reisebeschreibung des späten 18. Jahrhunderts annahm (Griep 1980; siehe auch Griep/Jäger 1983). Zuvor hatte eine germanistische Dissertation aus der Rezensionspraxis zu den Reisewerken der Zeit eine Theoriegeschichte des Reiseberichts rekonstruiert (Stewart 1978), zwischenzeitlich war ein Sammelband zum Thema Reise und Utopie erschienen, der bahnbrechende Artikel zur Raumerfahrung und zur Erkenntnistheorie des Reisegenres enthielt (Pichotta 1976). Der Schweizer Historiker Urs Bitterli veröffentlichte 1976 ein Standardwerk zur europäisch-überseeischen Begegnung im Spiegel der Reiseberichte unter dem Titel Die ‚Wilden‘ und die ‚Zivilisierten‘ (Bitterli 1976). Die volkskundliche Kulturwissenschaft trug mit einer Arbeit zur Verkehrs- und Mentalitätsgeschichte der Postkutschenreise bei (Beyrer 1985), während der Kultursoziologe Justin Stagl mit seinen umfangreichen Forschungen zur frühneuzeitlichen Apodemik (Reisetheorie) als Vorläufer der sozialwissenschaftlichen Feldforschung begann (Stagl 1980). Zuvor hatte der Kulturhistoriker Wolfgang Schivelbusch in einem epochemachenden Werk, das kulturtheoretisch und methodisch neue Wege ging und zahllose bisher unbekannte Quellen erschloss, die Geschichte der Eisenbahnreise (Schivelbusch 1977) untersucht.


Abb. 2 Eisenbahn, Extrapost, Schnellpost und Dampfschiff.

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