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Kapitel Sechs

Freitag, 16. September 2016

Früher Nachmittag

Die kleine nordbrandenburgische Stadt Templin empfängt die beiden mit einem historisch gepflasterten, von Linden eingefassten Marktplatz und zahlreichen Geschäften rundherum. Im Mittelpunkt thront das altrosa getünchte Rathaus mit der Friedenseiche davor. Tom schiebt Meli in ihrem Rollstuhl über den Platz auf der Suche nach einem behindertengerechten Café.

»Gemütlich hier!« Sie dreht sich mit ihrem Oberkörper und ihrem Kopf nach hinten und lächelt. »Tom, ich möchte gern telefonieren …«

Er nickt und steuert augenblicklich eine leere Parkbank am Rande des Platzes an, dreht Meli dann in die milchige Sonne und stellt ihre Bremsen fest. Dann beugt er sich zu ihr: »Ich mach schnell ein paar Besorgungen, bis gleich und schöne Grüße an deine Eltern.« Mit einem Kuss auf ihre Hand verlässt er sie in Richtung eines Einkaufszentrums.

Melis großes, vergoldetes Handy – das inoffizielle Geschenk eines zufriedenen Immobilienkäufers, den sie kurz vor ihrem Unfall betreut hat – glitzert mit ihrer teuren Sonnenbrille in der Sonne um die Wette, während sie mit ihren Eltern spricht, und erregt damit die Aufmerksamkeit einer Gruppe Jugendlicher.

»Ja, Mama, uns geht’s gut, es ist traumhaft hier, na, ihr werdet das alles bald sehen. Unsere Möbel kommen nächste Woche und auch mein geliebter Balu, ich vermisse ihn so, den kleinen Teufelsbraten … Ja, klar, euch natürlich auch. Und? Wie geht es Papa?«

»Ey, Schlampe, das ist unsere Bank!« Die glatzköpfigen Jungs stellen sich demonstrativ um Meli. Einer stößt sie an. »Hast du keine Ohren? Oder sind die auch behindert?« Die finsteren Gestalten grölen los.

Meli unterbricht ihr Gespräch und lächelt freundlich.

»Ja? Was kann ich für euch tun?«

»Du Tussi kannst uns dein Geld und dein Handy geben und dich dann von unserer Bank verpissen …« Der Wortführer greift im nächsten Moment nach dem Telefon.

»Hey, lass das!« Meli zieht es sofort zurück und verbirgt es in ihrem Schoß. Sie will sich nicht einschüchtern lassen. Dann steckt sie das Mobiltelefon in ihre Jacke und zieht demonstrativ den Reißverschluss hoch.

Der Anführer versucht, die Jacke wieder zu öffnen. Ein anderer hält ihre Arme fest. Meli schaut sich erregt um, doch Tom ist nicht in Sicht und auch sonst ist gerade niemand in der Nähe, der ihr zu Hilfe eilen könnte.

»Haut ab!« Mit dem verzweifelten und lauten Schrei schüchtert sie die Halbstarken kurz ein. Dann löst sie zittrig die Feststellbremsen am Rollstuhl und will losfahren, doch einer stellt seinen Fuß gegen eines der Räder. Wütend schubst Meli das Bein weg.

»Ey, schaut mal, was für ein edler Rolli. Den will ich haben! Los, lasst uns die Alte rausschmeißen!«

Augenblicklich greifen zwei aus der Gruppe Meli unter die Arme und versuchen sie hochzuheben, doch sie hält sich erbittert an ihrem Rollstuhl, ihrer teuren Spezialanfertigung, fest. Dabei dreht sie geschickt den Kopf zur Seite und beißt einem der Angreifer in den tätowierten Unterarm, sodass dieser aufschreit, loslässt und ihr sodann mit voller Wucht mit der Faust ins Gesicht schlägt. Seine Kumpels schauen einigermaßen erschrocken über diese Eskalation.

»HILFE!« Meli schreit so laut sie kann und hat das Gefühl, dass diese beschissene Kleinstadt für einen Moment stillhält, bevor der trostlose Alltag weitergeht. »HIIILFE!«

Ein paar ältere Passanten in einiger Entfernung werden aufmerksam. Die Bande ist verunsichert, sie tauschen hektische Blicke aus, verständigen sich so über einen Rückzug. Wie auf ein geheimes Zeichen hin rennen sie los, jeder in eine andere Richtung. Der Wortführer dreht sich noch einmal mit einer bösen Miene um und zischt: »Wir kommen wieder, wir finden dich, wart’s nur ab!« Dann sind alle verschwunden.

Meli atmet schwer, sie zittert am ganzen Körper. Dann bemerkt sie, wie ihr Blut von der Lippe tropft. Diese verdammten Dreckskerle. So allein und ausgeliefert hat sie sich noch nie gefühlt. Mitten im Osten, mitten in einer fremden Stadt, mitten auf dem Marktplatz, so verdammt allein. In dem Moment kommt Tom mit ein paar Einkaufstüten angelaufen, winkt und lacht sie aus der Entfernung an, bis er bemerkt, dass Meli weint, dass ihr der Schock in den Gliedern steckt. Er lässt die Einkaufstüten fallen und rennt auf sie zu. »Schatz, was ist los, was ist passiert?«

Sie kann nicht sprechen, schluchzt, wischt sich die Tränen aus dem Gesicht, ist in sich zusammengesunken. Tom hat schnell ein Taschentuch zur Hand und tupft ihr behutsam die Tränen und das Blut weg. Sie stutzt plötzlich: »Wo ist meine Sonnenbrille?« Sie registriert, dass die Jungs ihr die Brille abgezogen haben. »Diese Arschlöcher, das war ein Geschenk von Anne …«

Tom nimmt sie in den Arm. Ein Passant kommt vorbei, sieht es, geht teilnahmslos weiter, während er Meli eine ganze Weile fest an sich presst. Sie räuspert sich, wischt die letzte Träne aus ihrem Augenwinkel. »Ich will hier weg!«

»Was war denn los?«

»Ach nichts …, so’n paar blöde Ossis halt, jugendliche Taugenichtse, die wollten mein Handy, Geld und den Rollstuhl …«

Tom schaut sich um und observiert die Umgebung. Er wirkt entschlossen, denen kräftig eins aufs Maul zu hauen.

»Nein, lass, die sind weg, aber der eine meinte, sie kommen wieder …!«

Der Unfall

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