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ОглавлениеKapitel Drei
Dienstag, 13. September 2016
Vormittags
Mit etwas Schwung rollt Meli über die flache Rampe vom Wohnzimmer nach draußen und dirigiert den Rollstuhl mit leichten Armbewegungen auf das Ende der Terrasse zu. Unten auf dem Steg ist Tom schon dabei, das alte Ruderboot ins Wasser zu lassen.
Am Tag zuvor hat er den Bootsschuppen entrümpelt und allerlei verstaubtes Zeug rausgeholt: eine Angel, Netze, Gewichte, modrige Seile, die er zum Trocknen in die Spätsommersonne legte. Bevor er sich jedoch dem Schuppen gewidmet hatte, hatte er sie auf das vordere Ende des Stegs gefahren, denn nur dort gab es Mobilfunk-Empfang. Tom hatte ihren Rolli mit einem Spanngurt gesichert, damit sie in aller Ruhe mit ihren Eltern telefonieren konnte.
»Es ist ein Traum, ihr werdet es ja bald sehen, unser Paradies …«, hat Meli ihnen ihre Eindrücke der ersten wunderbaren Tage hier geschildert, ihnen das Haus sowie die Vogel- und Pflanzenwelt detailreich beschrieben. Bei all ihrer Euphorie spürt sie jedoch, wie sie sich dabei doch nach ihrer alten Heimat sehnt. Nach der Freude ihres Vaters, wenn er sie zur Tür reinkommen sah, nach dem leckeren Lieblingsessen, das ihre Mutter extra für sie zubereitete, ja, einfach nach der Geborgenheit in ihrem Elternhaus. Sie sollte vielleicht anfangs nicht so oft mit ihnen sprechen, denkt sie, als sie das Gespräch beendet hat. Es tut ihr und ihnen nicht gut. In diesen Gedanken versunken, löst sie den Spanngurt und fährt mit ihrem Rollstuhl zurück, als er sich plötzlich leicht dreht und in den See abzustürzen droht. Im letzten Moment, Meli ist starr vor Schreck, ruckt Tom den Rollstuhl wieder in die richtige Richtung und zieht ihn sanft auf die Wiese. Er lächelt beruhigend, küsst sie und deutet im nächsten Moment zum Bootsschuppen. Meli dreht sich um und sieht ein mit Staub und Spinnweben überzogenes Ruderboot.
»Im nächsten Jahr werde ich es gründlich generalüberholen«, verspricht er Meli. »Doch morgen bringe ich es so weit in Gang, dass wir eine Runde über den See fahren und uns mit der Umgebung bekanntmachen können, ja?«
Meli sieht ihn grinsen, fühlt sich aber bei dem Gedanken, behindert in einem ollen, wackligen Boot zu sitzen, überhaupt nicht wohl. »Wir werden sehen«, gibt sie betont entspannt zurück.
Wie geschickt er mit seinen Händen und seiner Kraft umgeht. Wie kontrolliert und vorsichtig er den entrümpelten und entstaubten Ruderkahn auf dem morschen Steg bewegt und ihn dann sanft ins Wasser gleiten lässt. Meli ist stolz auf ihren Mann. Sie beobachtet ihn, und als er sie bemerkt, winkt sie ihm freudig zu. In dem Moment, als er den Gruß erwidert, driftet das Boot weg. Tom erschrickt, schaut sich hektisch um, als ob er ein Hilfsmittel sucht, irgendwas, mit dem er den Kahn wieder einholen kann. Da entdeckt er einen langen, rostigen Bootshaken, der am Schuppen hängt. Schnell greift er ihn und erwischt den Kahn im letzten Augenblick. Als er ihn sicher am Steg befestigt hat, dreht er sich zu Meli und streckt beide Arme in die Höhe. Ich bin der Sieger. Ausgelassen johlt und applaudiert sie von oben, betrachtet dabei seine starken Oberarme, die aus den hochgekrempelten, karierten Hemdsärmeln emporragen.
Mit diesen Armen hatte er sie vor ein paar Tagen über die Schwelle dieses wunderschönen Hauses getragen. Er im schwarzen Anzug, sie im weißen schlichten Brautkleid. Nie hätte sie sich ihre Hochzeit so vorgestellt. Am wenigsten im weißen Brautkleid, dafür aber immer mit einer großen Gästeschar, mit einer kirchlichen Trauung, einer weißen Kutsche und einer großen Party in einem der exklusiven Schlosshotels rund um Frankfurt. Doch der Tag, es war Freitag, der 9. September 2016, begann mit der Entlassung aus der Reha. Der Chefarzt wünschte ihr alles Gute, die Schwesternschaft hielt sich zurück. Sie war wohl keine einfache Patientin gewesen. Mit Tom fuhr sie zum Standesamt, dort warteten schon ihre Eltern sowie Anne und Frau Germann. Die Trauung dauerte kaum länger als eine halbe Stunde. Unterschriften. Fotos vor dem Eingangsportal, dort wo noch die Rosenblätter der vorherigen Hochzeit lagen, dann der Abschied von den lieben Trauzeugen, denn Tom und sie wollten noch vor Sonnenuntergang in ihrem neuen Dornröschen-Domizil in Brandenburg sein. Meli tat es um ihre Eltern leid, die sicher gern diesen besonderen Tag mit ihrer Tochter verbracht hätten. Aber sie war so aufgeregt, so neugierig auf ihr neues Zuhause, auf ihr Haus am See. Sie kannte es nur von Bildern, Tom hatte es im Internet gefunden, sich angeschaut und alsbald den Kaufvertrag unterschrieben. Meli hatte das Geld bereitgestellt.
Die Autofahrt dauerte viele Stunden. Auf der A4 an Bad Hersfeld, Erfurt und Jena vorbei. Dann die vielbefahrene A9 Richtung Berlin mit den Abfahrten nach Leipzig und Potsdam. Städte, die sie von ihren Immobiliengeschäften kannte. Den westlichen Berliner Ring hatte sie allerdings in ihrem Leben noch nicht befahren. Sie schaute auf die Seen, die links und rechts vorbeizogen. Nahe Oranienburg ging es dann auf die B96, die Fernverkehrsstraße, die Berlin mit der Ostsee verband. Bei Fürstenberg bog Tom, der sich die ganze Zeit auf das Navigationssystem verlassen hatte, auf eine einsame Landstraße ab. Sie hatten die Norduckermärkische Seenlandschaft erreicht, die mit Lychen, der alten Flößerstadt, wie Meli auf einem Schild las, die letzte menschliche Siedlung auf ihrer Fahrt darstellte. Meli verspürte trotz des sehr komfortablen Pickups – auf der Ladefläche waren ihr Sport-Rollstuhl, eine Kingsize-Matratze und drei Leichtmetallkoffer verzurrt – mit jedem der letzten Kilometer immer mehr Schmerzen. Endlich bog Tom von der einsamen Landstraße auf einen unbefestigten Weg ab. Ihr Ziel kam immer näher, Frankfurt am Main, ihre Eltern und Anne lagen nun rund 650 Kilometer entfernt. Es ging durch dichten Laubwald, der von Nadelhölzern durchbrochen war. Plötzlich endete der grüne Tunnel, sie fuhren auf eine Lichtung und sahen in der nahen Ferne im späten Abendrot den See, an dem das Haus friedlich lag. Meli stockte der Atem. So viel Natur, so viel Himmel, so viel Ruhe. Tom lenkte den Wagen geschickt die Lichtung über einen Sandweg hinunter bis an ein Tor. Rasch sprang er aus dem Auto, schloss es auf, schob die beiden schweren Flügel zur Seite und fuhr Meli hinein.
»Willkommen auf unserem Schloss«, trötete er, als er sie aus der Beifahrerseite hob. Im Scheinwerferlicht des Wagens trug er sie auf Händen zum Haus. Ihre Arme um seinen Hals geschlungen, freute sie sich wie ein kleines Kind, das ein neues Spielzeug bekommt. Vor der Haustür hielt er inne und deutete ihr, sie möge in seine Sakkoinnentasche greifen. Umständlich kramte sie einen Schlüsselbund hervor, an dem ein roter Herzanhänger befestigt war.
»Dein neuer Schlüssel zum Glück«, hauchte er und küsste sie. Meli war im siebten Himmel. Leidenschaftlich erwiderte sie seinen Kuss, so lange, bis er unter ihrer Last zu stöhnen begann. Sie lachte, sperrte rasch die Tür auf und er machte einen großen Schritt hinein, ins neue Glück. Mitten im großen Wohnzimmer stand ein großer Strauß langstieliger roter Rosen. Frisch.
Meli staunte und Tom grinste überlegen: »Die ehemaligen Eigentümer waren so nett!« Dann setzte er sie sanft auf einen Stuhl. Meli betrachtete nun überwältigt die riesige Fensterfront, mit dem in abendliches Licht getauchten See dahinter. So eindrucksvoll hatten die Fotos nicht ausgesehen. Ihr Glück war in diesem Moment unendlich.
Nach einem ausführlichen Rundgang auf Toms Armen durch das Haus entfachte er ein kuscheliges Feuer im Kamin, breitete die große Matratze, mehrere Schaffelle und Kissen davor aus und legte Meli sanft darauf ab. Mit einem ordentlichen Knall entkorkte er eine Flasche Champagner. Eine wunderbare Hochzeitsnacht begann …
»Wir können!« Tom hockt neben Melis Rollstuhl und schaut sie an. »Träumst du?«
Mit einem Lächeln dreht sie sich nah zu ihm und nickt. »Ja! Von dir! Und von mir!«
»Bereit, in See zu stechen?«
Ihre Augen werden groß, sie ist hin- und hergerissen. »Aber ich kann nicht schwimmen, nicht mehr …!« Sie schaut auf das Boot, das keinen sicheren Eindruck macht.
Tom folgt ihrem Blick. »Die ganze Mühe umsonst?« Sein Ton klingt leicht beleidigt.
Sie nimmt seine Hand und streichelt sie. »Nein, nein. Ich weiß, dass du das für mich machst. Fahr du hinaus, hab Spaß und im nächsten Frühjahr kaufen wir ein richtig tolles Boot, mit dem wir zusammen rausfahren werden.«
»Allein hab ich auch keine Lust!«
»Ach, komm schon, du hast das Boot flottgemacht, also los. Ich werde hier sitzen und deinen Ausflug beobachten. Vielleicht nimmst du eine Angel mit und wir haben heute Abend einen Fisch in der Pfanne …«
Tom grinst. Diese Idee scheint ihm zu gefallen. Forsch steht er auf, dreht sich um und marschiert hinunter zu dem kleinen Bootsschuppen, in dem er die alte Angel gefunden hatte. Wenig später rudert er mit kräftigen Schlägen auf den See hinaus, zieht eine Runde und wirft dann die Angel aus. Meli winkt ihm aus der Ferne zu.