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Kapitel Sieben

Samstag, 17. September 2016

Frühmorgens

Mit dem illustrierten Vogelbuch und ihrem neuen Fernglas sitzt Meli auf der Terrasse. Sie ist dick in eine Wolldecke eingehüllt, denn die Nacht weicht dem beginnenden Tag mit frischer und kühler Luft. Begierig blättert und liest sie über die Vogelarten, die sie hier schon beobachten konnte. Tom hatte ihr das Buch just in dem Moment besorgt, als sie die Auseinandersetzung … ach, besser nicht daran denken. Ihr Traummann schläft noch, er hatte am Abend den in Templin gekauften LED-TV aufgehängt, die dazu notwendige Satellitenschüssel auf dem Dach installiert und danach natürlich bis weit in die Nacht rücksichtsvoll mit Kopfhörern ferngesehen, während Meli friedlich neben ihm auf der Matratze schlief.

Sie hört ein Geräusch, verharrt, nimmt ganz ruhig ihr Fernglas und beobachtet dann ein Entenpärchen, das im herbstlich bronzegefärbten, ufernahen Schilf nach Nahrung sucht. Als sie die beiden im dichten Röhricht nicht mehr sehen kann, schwenkt sie mit dem Feldstecher neugierig über den See, der sanfte Wellen schlägt, bis zur ihr gegenüberliegenden Seite. Auch dort steht dichtes Schilfrohr am Ufer. Meli scannt den anderen Gewässerrand, als sie abrupt innehält und einen Punkt fixiert. Da ist nicht nur Natur – hinter dem nun jahreszeitlich bedingt dünner werdenden und abknickenden Schilf erkennt sie die Konturen eines Hauses, ein kleines Holzhäuschen auf Stelzen. Ein Bootshaus?

»Das ist eine Anglerbude!«, ist sich Tom sicher. Verstrubbelt und nur in Boxershorts und sein verblichenes Johnny-Cash-T-Shirt gekleidet, steht er barfuß auf den kalten Steinplatten der Terrasse. Als Meli ihn aufgeregt gerufen hatte, war er sofort aus dem Bett gesprungen. »Scheint unbewohnt. Aber ich kann ja nachher mal rüberrudern …«

»Aber heute kommen doch unsere Möbel.«

Tom kratzt sich überrascht, er hat den Termin nicht mehr im Kopf gehabt, so scheint es.

»Ja, dann sollte ich mich vielleicht anziehen und unser Heim für unsere Sachen vorbereiten, was?!« Er lacht kurz auf, reicht Meli das Fernglas zurück und verschwindet im Haus.

»Vorher aber Frühstück!« Meli rollt ihm hinterher und muss dabei etwas Anlauf nehmen, um die kleine Rampe von der Terrasse ins Wohnzimmer zu überwinden.

Der Fahrer des Möbelwagens hat Mühe, den abschüssigen Sandweg zum Haus hinunterzukommen. Auf den Feldweg musste er bereits rückwärts einbiegen, da er auf diesem keine Wendemöglichkeit hat. Die beiden Beifahrer dirigieren ihren Kollegen links und rechts langsam Richtung Lichtung, dann weiter zum Haus und zur Einfahrt. Dort kommt der Möbeltransporter zum Stehen. Die drei Möbelpacker bestaunen zunächst die wunderbare Lage des Anwesens. »Na, hier sagen sich Fuchs und Ente wirklich gute Nacht«, meint einer der drei. »Ich glaube, der Fuchs sagt zur Ente ja wohl eher, das war’s jetzt mit dir … Aber zum Igel sagt er vielleicht gute Nacht!«

»Heißt es nicht Fuchs und Hase …?«

Meli rollt grinsend auf die drei zu. Die Möbelpacker lachen kurz auf, dann klatscht der Fahrer, der gleichzeitig der Vorarbeiter ist, in seine Hände, was so viel heißt wie, los jetzt, wir haben noch einiges vor. Sogleich fangen die drei an, das Mobiliar auszupacken, und haben eine Überraschung dabei, eine luftdurchlässige Transportkiste, in der es ungeduldig rappelt. Meli juchzt vor Freude, als Balu, ihr Balu plötzlich wie wild um sie herumtobt. Ihr Golden Retriever ist total ausgelassen vor Freude, endlich sein Frauchen und natürlich auch sein Herrchen wiederzusehen. Tom grinst über beide Ohren, er hat wohl genau gewusst, was für eine Freude mit den Möbelpackern unterwegs ist. Und während Balu sich mit dem Haus und der Umgebung intensiv bekannt macht, dabei das Entenpärchen am See aufschreckt und auf dem Steg lauthals über den See bellt, sitzt Meli auf der Terrasse und beobachtet ihren Liebling.

Tom unterstützt derweil die Möbelpacker. Melis große Designer-Wohnlandschaft findet im geräumigen Wohnbereich direkt vor dem großen seitlichen Fenster einen schönen Platz. Ihr alter Biedermeier-Sekretär wird an der Wand neben dem Eingang aufgestellt. Eine edel-rustikale Essgarnitur mit einem aus einer jahrhundertealten Eiche gefertigten Tisch bauen die Träger vor der offenen Küche auf. Dann stehen die Packer mit dem großen Kingsize-Bett in der Haustür und fragen, wo sie dieses aufstellen sollen. Tom deutet auf den Platz neben dem Kamin, dort wo kurz vorher noch das provisorische Matratzenlager der beiden war, und erklärt ihnen, als er die verwunderten Blicke der Jungs wahrnimmt, dass sie vorerst nur auf einer Etage leben können, bis der Treppenlift eingebaut ist. Melis mehrteiliger Kleiderschrank aus ihrem Frankfurter Schlafzimmer wird jedoch, obwohl sie darüber traurig ist, weil sie ihn vorerst nicht selbst nutzen kann, im ersten Stock aufgebaut. Nach weiteren teuren Wohnaccessiores und jeder Menge exquisiter Kochutensilien, tragen die Packer Toms Sachen ins Haus. Ein klappriges IKEA-Regal, ein altes Fahrrad und eine Campingliege verschwinden kurzerhand im Keller, ebenso Computer und einige Kisten mit persönlichen Sachen. Tom möchte sich im unteren Teil des Hauses ein Büro und eine kleine Werkstatt einrichten. Nur sein geliebtes, altes Skateboard bekommt einen Ehrenplatz am Kamin. Nachdem Meli einen schnellen Imbiss für die fleißigen Möbeltransporteure zubereitet hat, verlassen die, nun im Vorwärtsgang, das Haus am See.

Als sich die Dämmerung mit einem glutroten Horizont ankündigt, zieht sich Tom seine abgewetzte Wolljacke an, setzt seine Schiebermütze auf und erklärt kurz, er werde nun mal nachsehen, was es mit dem Häuschen gegenüber auf sich hat. Meli, die es sich auf ihrer ledernen Wohnlandschaft mit einer Decke und ein paar Kissen gemütlich gemacht hat, staunt, dass Tom nun noch raus will.

»Bin gleich wieder da, und dann essen wir, ja?«

»Nein, bitte fahr nicht!«

»Ach komm, eine halbe Stunde, dann bin ich wieder da!«

»Und wenn das alte Boot …?«

Er sieht Melis entsetzten Blick, geht auf sie zu und streicht ihr über das Haar. »Das ist dicht, es liegt doch schon ein paar Tage im Wasser. Und wenn, ich kann doch schwimmen!«

»Mit deinen Klamotten im Wasser, ja?! Und was ist, wenn dir doch was passiert, ich kann hier …« Ihre Stimme vibriert in einem hohen Ton, sie ist erregt, kann nicht weiterreden. Sie hat Angst.

»Es passiert nichts und außerdem ist doch Balu bei dir …!« Tom schiebt seinem dünnen Argument ein Lächeln hinterher, dann hockt er sich zu ihr, nimmt sie in den Arm und hält sie ganz fest. Beide verschmelzen. Ihr Atem beruhigt sich langsam, ihr Herzschlag normalisiert sich. Sie entspannt sich in seiner Umarmung. Dann löst sie sich sanft, schaut ihn an. Ihre Augen glitzern feucht. »Nun hau schon ab!«

»Ich pass auf mich auf, versprochen!« Er küsst sie auf die Stirn und ist schon aus der Tür raus, als sie ihm hinterherruft: »Heute Abend kuscheln wir, ja?« Tom hört das wohl nicht mehr. Sie schaut ihm nach, wie er den sanften Abhang zum Steg runterläuft, ins Boot steigt, die Leinen losmacht und dann mit kräftigen Schlägen über den stillen See gleitet. Anfangs sieht sie ihn zu sich hoch lächeln. Doch der erste Nebel bildet sich bereits und so werden seine Konturen immer verschwommener, das Tageslicht entgleitet immer mehr in die beginnende Nacht. Meli versinkt etwas in den Sofakissen, ihre Augenlider werden schwer …

»Hallo, ich bin der Tom.«

Meli öffnet die Augen und schaut verschlafen auf den großen Mann mit den blonden Haaren, der noch viel Jungenhaftes an sich hat.

»Ihr neuer Therapeut!«

Genervt von so viel Fröhlichkeit wendet sie ihren Blick ab. »Gehen Sie weg, ich brauche niemanden!«

Tom reagiert nicht entsprechend, sondern kommt näher, setzt sich sogar zu ihr auf das Krankenbett und strahlt sie weiter an. Seine Patientin reagiert auf die überbordende Freundlichkeit mit weiterer Ablehnung, denn sie dreht ihren Kopf nun wortlos zur anderen Seite.

»Ich bewundere sehr, dass sie sich allein mobilisieren wollen, das hat bislang noch nie ein Patient vorgehabt …«, hört sie den Aufdringling sagen und verharrt in ihrer Position.

»… doch dann werde ich ja arbeitslos. Wenn Sie aber doch Hilfe benötigen, dann rufen Sie mich, ja? Therapeut Tom, jederzeit für Sie bereit, denn er kommt von der Zeitarbeit!« Er lacht kurz auf, doch sein Reim verfängt nicht.

»Hauen Sie einfach ab, ja?!«

Als er am nächsten Tag erneut in der Tür steht, ruft sie nur: »Raus! Ich will das nicht«, und dreht sich zur Wand.

Er sagt keinen Ton, kommt jedoch näher, legt grinsend seine Visitenkarte auf ihren Nachtisch und verlässt leise das Einzelzimmer.

Meli starrt noch einen Moment die Wand an, dann wendet sie sich dem Nachtisch und der Karte zu. Handschriftlich steht darauf: »Ihr Therapeut Tom möchte Ihnen sehr gern helfen, das Leben wieder lebenswert zu leben.«

Sie muss schmunzeln. Dreimal leben in einem einzigen Satz, irgendwie putzig. Hoffentlich hat er in seinem Job mehr Talent als in seiner Ausdrucksweise. Dann schnuppert sie an der Visitenkarte und nimmt einen männlichen Duft wahr, den sie erstaunlich gut riechen kann …

Tags darauf ist er wieder da. Lächelnd und so ekelhaft gut gelaunt, dass es sie schmerzt. Ihr kategorisches »Nein!« überhört er einfach.

»Ich massiere und creme heute Ihre Beine ein wenig ein, ja?«

Meli merkt schnell, dass das nur eine rhetorische Frage ist, denn schon hat er die Bettdecke zurückgeschlagen und fängt an, ihre gefühllosen Beine zu bearbeiten.

»Das hier ist eine sehr gute Reha-Klinik, wir haben einen äußerst hohen Patienten-Therapeuten-Schlüssel. Das sollten Sie ausnutzen!«

Und während er ihren Beinen hingebungsvoll eine Massage verabreicht, nimmt sie erneut seinen Duft wahr. Sie hat schon viele markante Herrendüfte in ihrem Leben geschnuppert. Als allerersten den ihres Vaters. Er machte sich nicht so viel aus Parfüm, dafür achtete ihre Mutter darauf, dass er gut roch. War es Pitralon, diese alte Marke aus der Schweiz? Sie weiß es nicht mehr. Später nebelten sich einige Jungs im Studium in wohlriechende Düfte, die, je nach Geldbeutel, ihre Wirkung nicht verfehlten. Sie mag italienische Marken am liebsten. Tom muss auch etwas Italienisches an sich haben. Tief durch die Nase einsaugend, dabei aber darauf achtend, dass er dies nicht merkt, nimmt sie den Duft auf und genießt ihn. Fantastisch. Wie gut, dass er überhaupt nicht ihr Typ ist, sonst könnte sie sich leicht vergessen.

Der Unfall

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