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ОглавлениеKapitel Acht
Montag, 11. April 2016
10:15 Uhr
»Frankfurt am Main – Lfd. Nr.: 0975. An der Zufahrt Untermainkai zum Mainuferpark hat sich in der Nacht von Freitag zu Samstag (8./9. April 2016) ein Verkehrsunfall ereignet, bei dem eine 35-jährige Frau aus Frankfurt-Sachsenhausen erheblich verletzt wurde. Die Polizei sucht nun nach einem beteiligten SUV.«
»Halt! Stopp! Moment mal!«
Kriminaloberkommissar Karl Tauber sitzt schwerfällig auf seinem über viele Jahre durchgesessenen Bürostuhl und runzelt die Stirn. Kommissar-Anwärterin Kerstin Neuheuser stoppt ehrfürchtig die weitere Bekanntgabe ihrer vorformulierten Pressemitteilung und wartet unsicher auf den Einwand ihres Ausbilders. Ihr Blick fällt auf sein frisches Hemd, das er heute trägt. Es ist sauber, duftet nach Unmengen von Weichspüler, ist aber ungebügelt. Keine Frau im Haus, denkt Kerstin mitleidig.
»Verflixt, SUV! Frage: Versteht das jeder?« Karl Tauber spricht die Buchstaben deutsch aus und mit einem Gesichtsausdruck, als könne man von SUV eine Krankheit bekommen.
»SUV, Sport Utility Vehicle ist der englische Ausdruck … na ja, ist schon gebräuchlich! Wir können aber auch ›Geländewagen‹ schreiben«, reagiert die junge Frau mit Übereifer.
Tauber rekelt sich etwas hoch und versucht damit ihr Tempo zu drosseln. »Immer diese blöden neumodischen Anglizismen … Frage: Haben die in der KTU den genauen Typ Karre nicht herausgefunden?«
Kerstin Neuheuser nimmt beflissen die Akte Meli van Bergen zur Hand und blättert. Sie hat den Bericht der Spurensicherung schon zweimal gelesen, doch sie ist sich nicht sicher und will alles ganz korrekt machen.
»Hier, hier steht’s: ein Fahrzeug mit breiter Bereifung, mutmaßlich ein SUV! Mehr steht hier nicht.«
Tauber kratzt sich hinterm Ohr. Gut, nickt er, machen wir so. Die Anwärterin versteht die wohlwollende Geste. Sie arbeitet schon seit mehr als drei Wochen in seinem etwas angestaubten Kommissariat.
»Und? Wie weiter?«
Neuheuser legt rasch die Akte zur Seite und widmet sich wieder ihrer Pressemitteilung.
Sie wiederholt den letzten Satz noch einmal: »… also, die Polizei … sucht … nach einem … beteiligten SUV … Die 35-Jährige war gegen 22.00 Uhr auf dem Untermainkai Richtung Gallus mit ihrem Rennrad unterwegs. Als sie in den Mainuferpark einbiegen wollte, rammte plötzlich ein hinter ihr fahrender SUV ihr Fahrrad, sodass die 35-Jährige zu Fall kam und schwer stürzte.«
Stille. Die Anwärterin lauscht auf eine weitere Freigabe. Dann hebt sie kurz den Kopf, um sich zu vergewissern, ob KOK Tauber noch zuhört. Der ist eingenickt, bemerkt nun aber die akustische Unterbrechung und ruckt hoch.
»Ähm, ja, gut, bis hierhin. Kann man so machen.«
Kerstin Neuheuser verdreht unmerklich die Augen über so wenig Diensteifer. Sie weiß, dass sich der Kollege kurz vor der Pensionierung kein Bein mehr ausreißt, und nimmt sich vor, ihren Arbeitsalltag bis ins hohe Dienstalter stets mit Energie und Elan zu absolvieren.
»Ein Rettungswagen brachte die schwerverletzte Frau in die Notaufnahme der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik in Frankfurt.«
»Nein, nein, nein! So geht das überhaupt gar nicht!«
Karl Tauber klingt in diesem Augenblick äußerst ungemütlich. Aus seinem Tonfall hört man die Müdigkeit eines Ausbilders, der bereits unzählige Anwärter auf den Beruf vorbereitet hat und denen er ungezählte Male die Pressearbeit erklären und auch sonst jeden noch so kleinen Kriminalisten-Handgriff immer und immer wieder zeigen musste. Er ist mit seinen knapp 65 Jahren einfach müde geworden.
»Menschenskinder, auch mal mitdenken, ja? Die genaue Bezeichnung der Klinik geht niemanden was an. Die verdammte Presse ist doch sofort mit Kamera und Stift vor Ort! Schreib nur Krankenhaus, das genügt! Klar?«
Kerstin Neuheuser nickt untertänig und korrigiert das sofort. Die Erklärung leuchtet ihr ein.
»Also weiter … Der oder die FahrerIn des SUV verließ den Unfallort, ohne sich um die Verletzte oder eine Schadensregulierung zu kümmern.«
»Gut!«
»Die Polizei sucht nun Zeugen, die Angaben zum Unfall oder zu dem Fahrzeug und seinem Fahrer, seiner Fahrerin machen können. Ersten Angaben zufolge handelt es sich um ein dunkelblaues Fahrzeug mit Frankfurter Kennzeichen. Hinweise nimmt die Polizei Frankfurt am Main, Adresse … entgegen.«
»Ja, na also, gut gemacht, Frau Neuheuser, das wird doch mit Ihnen! Dann ab an die Pressestelle, die kümmern sich um den Rest!« Karl Tauber nickt, dann erhebt er sich schwerfällig. »Ich habe noch einen Termin beim Chef. Kümmern Sie sich mal um die Befragung der Geschädigten und wann wir da auflaufen können, ja?«
Kerstin Neuheuser hat diese Frage schon erwartet und sich am Vormittag über den Gesundheitszustand von Meli van Bergen informiert. Sie richtet sich auf, um ihrem Ausbilder mitzuteilen, dass eine Befragung frühestens in ein bis zwei Wochen möglich sei. Doch Karl Tauber nimmt davon keine Notiz und ist schnell aus der Tür.
Anwärterin Neuheuser steht auf, öffnet erst das Fenster und dann den Kragen ihrer Uniformbluse, atmet tief die frische Luft ein, die in das stickige Zimmer strömt. Mit einem großen Schluck Mineralwasser spült sie ihren trockenen Hals. Ein starkes Prickeln und ein leichtes Aufstoßen sind die Folge. Sie sieht sich vorsichtig um, obwohl sie weiß, dass sie allein im Büro ist. Sie lehnt sich beruhigt zurück und nimmt noch mal die Akte van Bergen zur Hand, liest den Polizeibericht, sieht sich die Fotos vom Unfallort an. Das vom Aussehen her sehr teure Rennrad liegt beschädigt auf der Straße. Der SUV muss darübergefahren sein, sonst wäre der Rahmen nicht so verbogen. Auf dem nächsten Foto ist der Fundort der verunfallten Frau umzeichnet. Sie lag nach dem Aufprall nicht auf der Straße, sondern auf dem gepflasterten Weg der Auffahrt zum Park. Kerstin Neuheuser dreht das Foto hin und her und entschlüsselt so die hinzugefügten Anmerkungen des Kriminaldauerdienstes. Das ist etwa einen Meter von der Straße entfernt. Hm. Einen gesonderten Radweg gibt es nicht. Im Kopf der Kommissaranwärterin beginnt es heftig zu arbeiten. Wie kann das sein? Eine Fahrradfahrerin, die von einem Auto erfasst wird und beim Fallen unter die Räder kommt, müsste doch auf der Straße liegen und nicht einen Meter neben der Straße? Oder? Der SUV kann unmöglich die am Boden Liegende so während der Fahrt überrollt haben. Da stimmt doch etwas nicht!
Kerstin Neuheuser blättert schnell weiter um festzustellen, wer in dieser Nacht vor Ort war und den Polizeibericht geschrieben hat. Dann greift sie zum Telefon und wählt eine vierstellige Nummer.
»Polizeiobermeister Bock bitte!«
Anwärterin Neuheuser muss einen Moment warten.
»Ja, hallo, Herr Bock, Kommissaranwärterin Neuheuser hier, ich habe eine kurze Frage …«
Am anderen Ende macht sich Unmut breit. POM Bock, ein routinierter Streifenpolizist mit »Fronterfahrung«, hat, so kommt es ihr vor, generell keinen Bock auf überengagierte Anwärter und klingt demonstrativ genervt. Kerstin Neuheuser bleibt charmant.
»Es dauert nur einen kleinen Moment, Herr Bock. Es geht um den van-Bergen-Fall, Unfallflucht, Sie erinnern sich? – Gut!«
Kerstin Neuheuser greift hektisch nach der geöffneten Akte mit den Fotos, dabei rutscht sie ihr aus der Hand, fällt zu Boden und schlägt zu. Verdammt.
»Einen klitzekleinen Moment, Herr Bock!«
Herr Bock schnaubt am anderen Ende in den Hörer.
Anwärterin Neuheuser versucht ungeschickt den Aktenordner wieder zu öffnen, es gelingt ihr nicht und sie sieht sich gezwungen, ihre Frage ohne genaue Angaben zu stellen.
»Sagen Sie, wissen Sie, ob sich die Verunfallte nach dem Aufprall noch irgendwie bewegt hat? Kann es sein, dass sie beispielsweise von der Straße … gerobbt ist?«
Ein lautes und höhnisches Gelächter ertönt, sodass Kerstin Neuheuser den Hörer reflexartig von ihrem Ohr entfernt. Ihr Kollege am anderen Ende der Leitung erklärt in wenigen Worten, dass die Frau bewusstlos war und so schwer verletzt wurde, dass sie, wie der Notarzt vermutete, querschnittsgelähmt sein könnte. Damit sei das also eine sinnlose Frage. Sagt es und legt grußlos auf.
Schöne Kollegen, denkt sich Kerstin Neuheuser und freut sich, dass sie ihr Praktikum hier in ein paar Tagen erst mal hinter sich hat. Dann wird sie wieder an ihre gemütliche Polizeischule zurückkehren und das letzte halbe Jahr ihrer theoretischen Ausbildung absolvieren. Prüfung. Ernennung zur Beamtin auf Probe. Urlaub. Und dann mal sehen, wo sie eingesetzt wird. Kerstin Neuheuser lächelt. Sie nimmt ein gelbes Klebezettelchen und macht eine kurze Aktennotiz unter dem Foto der schwer verletzten Meli van Bergen: »Wie konnte sie an der Stelle so überfahren werden? Setzte der Verursacher mit seinem Fahrzeug vielleicht nochmal zurück?« Sie macht hinter dem einen Fragezeichen gleich noch eins, um die Dringlichkeit zu betonen. Dann klappt sie die Akte zu und legt sie ihrem Ausbilder auf den zugestapelten Schreibtisch.