Читать книгу Der Unfall - Andree Metzler - Страница 5
ОглавлениеKapitel Eins
Samstag, 10. September 2016
Morgens
Die alten Steinplatten auf der großen Terrasse sind grau von der Zeit. Aus den Fugen wachsen kleine Grasbüschel. Am Rand sind ein paar Platten lose, der Mörtel darunter bröckelt. Direkt am Haus, von dem sich schon der gelbe Putz löst, steht eine verwitterte Holzbank. Alles zeugt von allzu langer Abwesenheit irgendwelcher Bewohner. Meli stört das nicht, sie hat nur Augen für den vor ihr liegenden, von Kiefernmischwald und Schilf eingefassten smaragdgrünen See, der wie ein übergroßer Diamant im morgendlichen Sonnenlicht glitzert. Die weite Naturlandschaft, die den See umgibt, ist ohne jegliche menschlichen Spuren. Keine Hochspannungsleitungen, keine Windräder, keine anderen Gebäude. Meli ist überwältigt bei dem Gedanken, hier völlig allein zu sein. Allein mit Tom, natürlich.
Über dem Wasser gleitet gerade elegant ein Graureiher, die Flügel weit, Stelzenbeine und Füße verlängern den Schnabel und schlanken Körper.
Eine leichte Brise lässt Melis lockere, von der Nacht verwuschelten Haarsträhnen tanzen, während Tom wie ein aufgeregter Junge die Wiese zum See hinunterläuft und den alten Steg betritt. Gerade als er ein paar Meter darauf zurückgelegt hat, bricht er mit einem Bein durch ein morsches Holzstück, sodass er stürzt und sein Fuß mitsamt Schuh im Wasser landet. Meli ist erschrocken, doch als sie merkt, er hat sich nicht verletzt, muss sie laut lachen. Tom befreit sich aus dem Loch, steht vorsichtig auf und gestikuliert gespielt verärgert.
»Was für ein Mist, alles vermodert hier!«
Meli winkt ihm grinsend zurück. »Ich liebe diesen Ort schon jetzt«, ruft sie mit ihrer zarten Stimme Richtung See.
»Ja toll, und ich habe hier die nächsten zehn Jahre zu tun«, erwidert Tom fröhlich.
Meli weiß, dass das übertrieben ist und dass sich trotzdem jeder Handschlag von ihm lohnen wird.
Vorsichtig macht Tom ein paar Schritte auf das Stegende zu, dann, ganz vorn, dreht er sich um, will Meli stolz zeigen, wie viel Mut in ihm steckt, da verliert er erneut den Halt und kippt der Länge nach ins Wasser. Das laute Platschen schreckt ein Entenpärchen hoch, das sich mit energischem Flügelschlag und Geschnatter schnell entfernt. Meli beobachtet die Stelle, an der er ins Wasser gefallen ist. Die Wellen, die sein Eintauchen verursacht hat, ziehen still ihre Kreise auf den See hinaus. Ansonsten rührt sich nichts. Meli starrt auf das Wasser und ruckt nervös in ihrem Rollstuhl hin und her. Warum taucht er nicht wieder auf? Wo ist er? Was soll ich denn machen, wenn er …
»Tom? TOM?«
In dem Moment schießt er wie ein Pfeil aus dem Wasser, macht sich lang und bleibt dann bis zur Hüfte im Wasser stehen. Seine Klamotten hängen nass an ihm herab. Er wischt sich die blonden Haare aus dem Gesicht und sieht sehr glücklich und entspannt aus.
»Herrlich hier«, ruft er, »wir werden bleiben!«
Meli nickt aufgeregt. Ja, auch sie will hier nicht mehr weg. Will dieses Paradies nicht wieder hergeben. Obwohl sie nicht weiß, wie sie in den ersten Stock der alten Gründerzeitvilla kommen soll. Und obwohl auch die untere Etage nicht wirklich behindertengerecht gebaut ist. Tom watet aus dem See, wischt sich grob etwas Wasser aus den Kleidern und schlappt dann die kleine Wiese zum Haus hoch.
»Schon toll, nur mit dem Preis müssen wir noch mal … bei all den Mängeln …!«
Mit einem entsetzten Blick zeigt Meli ihr Unverständnis für Toms Vorhaben. »Nein. Egal! Wir haben genug Geld und nehmen das Haus so, wie es ist.«
Auf der Terrasse schüttelt Tom als Antwort neben Meli seinen pitschnassen Kopf. Doch die paar Wasserspritzer, die er dabei produziert, ringen Meli nur ein spöttisches Lächeln ab. »Das können Hunde aber besser! Apropos … wann holen wir Balu? Er muss sein neues Heim doch auch bald kennenlernen.«
Balu, ihr junger Golden Retriever, wird überglücklich hier herumtollen, stellt sich Meli in diesem Augenblick vor. Er wird herumschnüffeln, die Enten jagen, überall seine Marke setzen und damit stolz anzeigen, dass das hier sein Revier ist. Hier pinkelt nur einer, wird das heißen. Sehnsüchtig erinnert sie sich an das kleine süße Knäuel, dass ihr die belastende Reha plötzlich so nebensächlich hat erscheinen lassen. Dieses junge und verspielte Hundeleben, das ihr, immer wenn sie es beobachtete, sofort ein Lächeln ins Gesicht zauberte, das ihr in der schwierigsten Lebenslage zeigte, hey, schau her, das Leben ist zu schön, um es nur trüb zu sehen. Balu war es egal, dass Meli im Rollstuhl saß. Dass es ihr schwerfiel, sich zu ihm runterzubeugen, um ihn zu streicheln. Oft genug gab Tom ihr den kleinen Racker auf den Schoß und Meli genoss sein kuschelweiches Fell, streichelte es unentwegt. Und Balu leckte mit seiner rauen Zunge über ihr Gesicht, wobei sie immer lachen musste. Tom hatte ihr diesen tierischen Begleiter eines Tages in die Arme gelegt und gesagt, nun bist du nicht nur für dich, sondern auch für dieses Leben verantwortlich. Meli hatte zunächst verärgert reagiert. Wie sollte sie denn noch für etwas anderes als für sich und ihren Schicksalsschlag Verantwortung übernehmen? Sie sei schon damit vollständig überlastet. Doch Tom ließ sie einfach mit dem jungen Hund allein und schon einige Minuten später hätte er Mühe gehabt, ihr den Hund wieder wegzunehmen. Klar musste er sich abends und nachts um Balu kümmern, denn in der Klinik konnte der kleine Racker nur tagsüber bleiben. Und so teilten sich Meli und Tom die Erziehung und Betreuung.
»Ja, ich sollte ihn bald holen«, erwidert Tom, der Meli nun sanft über eine provisorische, schnell von ihm gebaute Rampe in das große Wohnzimmer des Hauses schiebt. Das matte Parkett knarrt müde, während Tom Meli nun vor dem großen Fenster zum See in Stellung bringt.
»Diese riesige Fensterfront, einfach fantastisch.«
In seiner Stimme klingt große Begeisterung. Meli kann das verstehen. Es erinnert sie an ihr Penthouse, in dem sie ein ebenso riesiges, bodentiefes Fenster hinaus zur Frankfurter Skyline hatte. Sie liebt es, Weitblick zu haben, sich nicht eingeschlossen zu fühlen. Und es war ihr immer wichtig, Leben zu spüren, den Puls der Stadt. Sie fühlte sich dann dazugehörig, als Teil des Ganzen. Letztlich war es die Angst vor der Einsamkeit, vor der Leere, die sie oft an ihrem Fenster stehen und den regen Auto- oder Bahnverkehr verfolgen ließ. Die Stadt, die sich unter ihr bewegte, bewegte auch sie. Doch nun hatten sich die Dinge verändert. Sie wollte, ja sie brauchte Abstand zu dem lebendigen, bisweilen hektischen Treiben in der Bankenmetropole. Sie war nicht mehr Teil dieser Gesellschaft, sie fühlte sich dort nicht mehr zuhause. Die Stadt hatte ihr Vertrauen missbraucht, hatte sie rüde behandelt. Glücklicherweise, und das versöhnte sie, hatte die Stadt ihr Tom geschickt. Nun ist er ihre Bezugsperson, ihr Leben, ihr Motor, auf ihn kann sie sich hundertprozentig verlassen. Mit einem verliebten Blick schaut sie auf ihn, der gerade, neben ihr hockend, mit der Hand über das alte, wellige Parkett streicht. Sie fährt ihm sanft durch die feuchten, strubbeligen Haare.
»Muss abgezogen werden … Mannomann … Das wird ’ne Baustelle …« Tom stöhnt.
Meli legt ihm die Hand auf die Schulter, was so viel heißen soll wie: Das kriegen wir hin. Gemeinsam.