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Kapitel Vier

Donnerstag, 15. September 2016

Nachts

Das Licht sticht ihr in die Augen. Sie blinzelt, dreht ihren Kopf weg. Angestrengt aufrecht steht sie in ihrem neuen Kleid an der Bar und nippt an einem Batida de Maracuja de Limao. Der Cocktail ist zu süß und das wahrscheinlich bloß, um den harten Cachaça zu überdecken.

Meli fühlt sich nicht wohl so allein. Doch es war ihr Wunsch. Solo in einen Club, nicht immer die zunehmend langweiliger werdenden Partys mit den immer gleichen Freunden in den immer gleichen Schicki-Micki-Bars. Sie entlastet eines ihrer schlanken Beine, deren Füße in Stilettos stecken. Es ist sehr wichtig, bei Ausgehschuhen nicht zu sparen. Sie verleihen einem Eleganz und Selbstsicherheit. So riet ihr Anne zum Kauf dieser sündhaft teuren und unendlich hohen Stiefeletten mit dem goldenen Nietendekor. Nie zuvor hatte sie solche Absätze getragen. Meli spürt kurz an sich hinunter. Anstatt Selbstsicherheit sind hier eher Fußschmerzen im Preis inklusive. Aber die Jungs sind ganz heiß auf sexy Heels, meinte Anne auch noch, als Meli die Dinger längst bezahlt hatte.

Meli schaut sich um, checkt dezent die männlichen Clubgäste. Gut gebaute Studenten verprassen feierhungrig Papas üppigen Unterhalt, und Jungunternehmer in Designeranzügen tanzen zu den südamerikanischen Rhythmen im Sinnesrausch ihres frischen Erfolges. Daneben zappeln braungebrannte Daddys, die mit Polo Ralph Lauren und Rolex die engsten Beziehungen ihres Lebens eingegangen sind. Melis Augen suchen weiter im bunten und angeschwitzten Menschengewühl. Warum ist es nur so schwer, den richtigen Mann zu finden? Meli ist müde. Müde vom Suchen und müde vom Stehen.

Plötzlich dringt ein sanftes »Hallo« an ihr Ohr. Sie dreht sich langsam und schaut in das Gesicht eines dunkelhaarigen Mannes. Der lächelt keck, seine Augen strahlen in einem funkelnden Blau und Meli ist sofort angetan.

»Hallo, Frau van Bergen!«

Der hübsche Kerl mit der sonoren Stimme berührt mit seiner Hand ihre Schulter. Es kribbelt. Wow, der ist ja mutig. Nur weiter so. Da erst fällt ihr auf, dass der furchtlose Fremde ihren Namen nannte. Woher kennt er mich? Ist das ein Geschäftspartner? Ein Kunde? Oder jemand aus dem edlen Fitnesstempel, in dem sich die Körperbewussten aus Frankfurt zwischen den neuesten Hochleistungsgeräten ein verschwitzt-durchtrainiertes »Hi« zuwerfen? Aber wer, außer den Angestellten dort, kennt meinen Namen?

»Hallo, hören Sie mich?«

Ja, na klar, ich kann dich hören, du mein Prinz. Wo warst du? Ich habe so lange nach dir gesucht.

Meli schaltet auf Flirtmodus, wendet sich ganz ihrem Gegenüber zu und lächelt charmant, doch sein Gesicht wird unscharf. Alles verschwimmt auf einmal so merkwürdig. Was ist los? Sie wendet ihren Blick in eine andere Richtung und muss nun die Augen zukneifen. Sie blinzelt in eine kalte und aufdringliche Neonleuchte, die nicht zu der exklusiven Lichtanlage zu passen scheint, die normalerweise im angesagtesten Club Frankfurts ihre verführerische Stimmung verströmt.

Meli öffnet ihre Augen einen winzigen Spalt mehr. In ihrem trüb-verwaschenen Sichtspektrum erkennt sie eine junge Frau, die nicht gerade nach rauschender Partynacht aussieht. Sie ist ungeschminkt, mit leichten Augenringen. Die strähnigen Haare sind zu einem Zopf gebunden und sie trägt einen schlichten Anzug aus purem Blau. Was für eine merkwürdige Person, denkt Meli und will sich abwenden. Doch die fremde Frau bleibt vor ihr, neigt sich sogar noch weiter in ihre Richtung. Was will sie von mir? Nun erst erkennt Meli, dass sie liegt. In einem Bett. Ein unbequemes Bett mit stählerner Einfassung an Kopf- und Fußende und harter Bettwäsche, die, ja, die nach Desinfektionsmittel riecht. Sie fühlt sich wie aufgebahrt. Und hinter ihr piept irgendetwas die ganze Zeit. Dann bemerkt sie die Kabel und Schläuche, an die sie angeschlossen ist, und die vielen technischen Gerätschaften an ihrem Bett.

»Wo bin ich?«, stößt sie, eingezwängt zwischen Traum und Realität, kraftlos hervor.

»Im Aufwachraum.«

»Wo?« Der Begriff »Aufwachraum« sagt Meli in diesem Moment überhaupt nichts.

»Im Aufwachraum der Unfallklinik«, gibt der blaue Kittel sanftmütig zurück. Und ergänzt: »Auf der Intensiv!«

Intensiv … Intensivstation? Das sagt Meli etwas. Sie hebt schwerfällig den Kopf um einige Zentimeter und starrt auf die blaue Gestalt.

»Was …?« Für mehr Fragen reicht ihre Kraft nicht.

»Frau van Bergen, können Sie Ihre Zehen spüren?«

Die Frau in Blau wartet auf eine Antwort, während gerade ein weiterer Patient in den Aufwachraum geschoben wird. Meli schaut ungläubig auf den einschwebenden Schlafenden und kann die Frage nach ihren Zehen nicht begreifen. Alles ist wie benebelt. Kraftlos lässt sie ihren Kopf in das klumpige Kissen sinken, schließt die Augen und lässt alles los.

»Hallo? Sind Sie bei mir?«

Die Schwester erhält keine Antwort.

»Okay, ich bringe Sie später in ein Zweibettzimmer, ja?«

Ja, ja, sehr gern, bringen Sie, bringen Sie … bringen Sie mir noch einen, aber bitte etwas ohne Alkohol. Nicht noch mal diesen Batida-de-Maracu-irgendwas, ja? Denn den süßen Poltergeist sollte ich lieber sein lassen. Macht nur blöde Albträume.

Meli spürt ihre Zehen sehr gut. Überhaupt spürt sie ihren ganzen Körper sehr gut. Die Bässe der Musik wummern in ihrem Magen und die Rhythmen prickeln in den Haarwurzeln. Sie steht auf der Tanzfläche und bewegt sich ausgelassen zwischen den extrovertierten Partygästen. Ein Gemisch aus edlem Parfüm und frischem Schweiß umgibt sie. Erneut lässt sie ihren Blick streifen, sie sucht, hat ihn nicht vergessen, diesen stahlblauen Blick des dunkelhaarigen Verführers. Wo ist er? Ein Rolex-Daddy mit errötetem Kopf tanzt sie offensiv an, doch Meli lächelt eine eindeutige Ablehnung. Nein, diese Nacht gehört mir. Und ihm, dem Prinzen, wenn er noch da ist. Vielleicht auch nur mir ganz allein. Ob ich den Mann wiedersehe? Egal, jetzt wird gefeiert.

Meli bewegt sich grazil, sie weiß ihren Körper einzusetzen, den Takt der Musik in wohlchoreografierte Schwingungen umzuwandeln. Auf ihren durchtrainierten Körper ist sie sehr stolz. In Grooves versunken hebt sie ihre Arme, schließt die Augen und greift nach den Sternen. Vergessen die schmerzenden Füße, vergessen die Suche, einfach nur das Dasein spüren.

Als sie die Augen wieder öffnet, steht er vor ihr, der Traumtyp von vorhin. Er hat mich gesucht. Er hat mich gefunden, wie süß. Gut sieht er aus. So durchtrainiert, mit so einem sanften Lächeln. Meli lächelt zurück, ein unerschöpfliches, nie enden wollendes Lächeln.

Doch plötzlich stehen ihr, hinter dem Traum von einem Mann, einige weitere Menschen gegenüber und schauen sie an. Menschen, die reglos sind. Menschen in Blau. Schon wieder diese komische Farbe. Auch ihr Traummann trägt nun ein blaues Gewand. Alle seine Prinzenattribute sind schlagartig verschwunden. Er lächelt nicht mehr, seine Haare sind lichter, seine Stirn höher und seine Gesichtsfalten tiefer. Er trägt eine Brille und wirkt mit seiner Clique richtig bedrohlich. Was will er, was will diese Sekte von mir? Wer lässt denn nur solche Spinner hier rein? Und warum sehen die mich alle so besorgt an?

Wie Bowlingkegel stehen die blau Gekleideten aufgereiht. Der Älteste, mein gerade vergangener Traummann, im Vordergrund, dahinter in zweiter und dritter Reihe jüngere und, so scheint es, unwichtigere Gestalten. Ganz hinten, hinter einer getönten Scheibe mit Jalousie, erkennt Meli ihre Eltern. Ein Gefühl der Wärme durchdringt sie. Doch nur kurz. Wie? Meine alten Herrschaften? In einem Nachtclub? Sie, die abends immer nur vor dem Fernseher – Volksmusik hier, Krimi da – sind hier? Das ist ja … toll!

Sie hebt ein wenig den Kopf, um sie besser zu sehen. Meli spürt einen wohligen Hauch Geborgenheit, lächelt jedoch irritiert, da ihre Eltern ein bekümmertes Gesicht machen. Was ist denn bloß los hier? Sie hebt leicht die Hand und versucht zu winken.

»Hallo! Frau van Bergen, mein Name ist Professor Doktor Schneider«, fängt der vorderste blaue Bowlingkegel überlaut an zu sprechen. Seine knarrende Stimme klingt reifer als die des Prinzen und dröhnt in Melis Kopf, als ob eine Planierraupe mitten durch fährt.

»Sie hatten einen schweren Unfall.«

Melis Kopf fällt ungebremst die wenigen Zentimeter zurück, starrt nun, ohne zu blinzeln, direkt in das Deckenlicht. Die sirrende und durchdringende Neonröhre lenkt sie einen Moment vom Brummen ihres Schädels ab. Hat mir jemand etwas in den Drink getan? Man hört ja immer wieder von solchen Fällen. Ich fühle mich so abgekapselt. Außenstehend. So seltsam.

Meli versucht, zurück in ihren Traum zu kommen, der Club, die Musik, der Tanz und der geile Typ. Professor Doktor hallt es in ihr nach. Ein knackiger Professor Doktor, na, das ist doch der Sechser im Beziehungslotto. Oder? Wie oft trifft man schon so einen?

Melis Augen verdrehen sich, sie driftet weg. Professor Schneider setzt sich auf einen Stuhl neben ihrem Bett, nimmt ihre linke Hand und spricht sie nun mit warm-knarrender Stimme an: »Frau van Bergen, hallo, hören Sie mich?«

Meli stöhnt, ohne die Augen zu öffnen, ein »Ja« hervor.

»Wir haben Sie operiert und alles getan, was möglich war …«

Oje, das klingt ja nach dem beliebten Zeugnissatz für Loser: Sie hat sich stets bemüht …

»Bitte, Frau van Bergen, arbeiten Sie einen Moment mit uns!« Der Tonfall des Chefarztes hat etwas Flehendes, das gefällt Meli. »Spüren Sie Ihre Beine?«

Was wollt ihr denn alle von meinen Beinen? Warum soll ich meine Beine nicht spüren können? Na also gut. Ich schau mal … Meli fühlt in sich hinein. Die Arme und die Finger gehorchen. Sie bewegen sich. Ihr Bauch ist auch da. Fühlt sich irgendwie leer an. Egal. Dann bemerkt sie erschrocken, dass sie keine Kontrolle über ihre Beine hat. Kein Gefühl. Mit ihrer rechten Hand greift sie nach ihnen. Sie sind da, sie sind warm, aber sie sind leblos, wie angenähte Sandsäcke. SCHEIßE!

»Wo sind sie? Wo sind meine Beine?«

Panik klingt aus ihrer trockenen Kehle. Irgendjemand spielt hier ein verdammt beschissenes Spiel mit ihr. Der Professor greift nach ihrer rechten Hand, zieht sie ein wenig zu sich und schaut sie dabei intensiv an. Was jetzt kommt, muss Bedeutung haben.

»Liebe Frau van Bergen, bitte, hören Sie mir zu!«

Meli hat ihre Augen immer noch nur einen winzigen Spalt geöffnet. Gerade so viel, wie es ihre Kraft zulässt.

»Es tut mir leid, Ihnen das sagen zu müssen. Im Moment diagnostizieren wir eine Querschnittslähmung …«

Meli lässt die letzten Sätze zunächst nur in ihre Ohren vorstoßen und dann stückweise weiter in ihren Verstand eindringen. Sie entschlüsselt die Anrede. Frau van Bergen. Alles klar. Bin ich. Angekommen. Die Aufforderung, zuzuhören. Ja, muss wohl wichtig sein. Die Beileidsformulierung ist auch kein Problem. Es tut mir leid. Ja, klar, etwas ist nicht so gelaufen, wie es sollte. Kann passieren. Gut. Angenommen. Im Moment. Kann also vorbeigehen. Auch gut. Und nun den letzten Teil der Nachricht. Diagnose Querschnittslähmung. So ein Blödsinn. Das würde ja heißen, ich kann nicht mehr laufen oder stehen oder tanzen. Dabei habe ich mich ja gerade noch auf der Tanzfläche bewegt. In meinen ultrateuren, schmerzerzeugenden Knöchelkillern …

Wie ein Blitz durchzuckt die Bedeutung Melis Bewusstsein. QUERSCHNITTSLÄHMUNG!

Q U E R S C H N I T T S L Ä H M U N G!

Verdammt! Ihre Hände krallen sich in das faltige Spannbettlaken. Hey, damit macht man doch keine Scherze. Der Typ hat sie wohl nicht mehr alle! Meli sieht, wie sich das hübsche Gesicht ihres Traummannes zu einer fiesen Monstervisage wandelt und furchteinflößend zu lachen beginnt. Wütend versucht sie, ihn wegzuschubsen und sich so von seinem unscheinbaren, bösen Satz zu befreien. Doch ihre Augen bersten auf und Meli starrt in das übergrelle Neonweiß, das nun mit dem Blau der Anwesenden zu einer unendlichen Galaxie verschmilzt. Sie hebt ab und gleitet völlig schwerelos davon, als sei ihr irdisches Leben soeben abgeschaltet worden. Ihr versunkener Blick streift den überdimensionalen Infusionsbeutel, der an einem Galgen neben dem Bett hängt. Jeder Tropfen ist wie Treibstoff in eine andere, in eine unbekannte Welt. Meli an Bodenstation, ich melde mich hiermit ab. Dauer unbekannt. Rückkehr unwahrscheinlich.

Professor Schneider versucht, sie mit einer kurzen Berührung in die Realität zurückzuholen. Meli gibt derweil Vollgas in die Bewusstlosigkeit. Der Chefarzt rüttelt an ihrer Schulter.

»Frau van Bergen, bitte! Bitte bleiben Sie bei uns!«

Nein! Meli will nicht zurück. Nein, NEIN! Aber sie hat keine Wahl. Unsanft landet sie auf dem Stoppelacker der rüden Tatsachen. Sie windet ihren Oberkörper so gut sie kann, wirft ihre Arme umher und schreit ihr Entsetzen hinaus. Das Bett wackelt, der Infusionsschlauch reißt von der Braunüle ab, Tropfen fallen zu Boden. Sofort sind zwei Schwestern bei Meli und versuchen, sie zu beruhigen. Professor Schneider gibt eine Anweisung: »10 mg Diazepam, rasch …«

Eine der blauen Schwestern hat bereits eine überdimensionale Spritze aufgezogen und legt sie energisch an. Über die Dauerverweilkanüle an ihrer rechten Hand spürt Meli, wie eine wahnsinnig kalte Flüssigkeit unaufhaltsam in ihren Körper eindringt … immer mehr … immer bedrohlicher …

»NEIN!« Schweißgebadet schnellt Melis Oberkörper in die dunkle Umgebung hoch. Ihr Atem hastet den frischen Bildern der Nacht hinterher. Dann greift sie panisch nach ihren Beinen. Tom wird wach, beugt sich ebenfalls hoch, nimmt sie in den Arm und streichelt ihren Kopf. Sie fängt an zu weinen.

»Du hast geträumt … du hast nur geträumt … du verarbeitest dein Trauma … das ist ganz normal …!«

Meli sinkt in seine Arme. Dann schluchzt sie leise: »Warum? Warum das alles?«

Der Unfall

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